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2 Zur Auswahl der Theorien der Sozialen Arbeit

Angesichts der Fülle und Vielfalt von Theorien der Sozialen Arbeit in Geschichte und Gegenwart ist unsere Auswahl zu begründen und die Kriterien für die Auswahl sind zu benennen. Theorien der Sozialen Arbeit zusammenzustellen, das ist kein neues Unterfangen. Es hat Tradition. Wir möchten an zwei Beispielen kurz zeigen, wie man Theorien aufgrund bestimmter Kriterien für eine solche Darstellung auswählen kann: Bereits 1932 hat Alice Salomon ein Buch mit dem Titel „Soziale Führer“ veröffentlicht, das sie so begründet: „Die Berührung mit sozialen Führern, ihrer Persönlichkeit, ihren Werken, ihren Ideen führt zu einem tieferen Verstehen von Menschheitsaufgaben, die zwar über die Jahrhunderte wechselnde Formen annehmen, aber in ihrem letzten Kern ewig und unveränderlich sind. Sie führt zu einem tieferen Verstehen der Pflicht zu gegenseitiger Hilfe und zum Wirken für ein Reich sozialer Gerechtigkeit in dieser irdischen Welt“ (Salomon 1932, 5). Salomon will zwar in erster Linie „Praktiker des sozialen Idealismus, nicht Theoretiker“ darstellen, doch hebt sie für die PraktikerInnen ausdrücklich hervor, dass diese auch über eine Theorie zur sozialen Frage verfügen (vgl. a. a. O.). Diese Theorien stellt Salomon in ihrem Buch auch jeweils dar. Mit ihrer Auswahl sozialer FührerInnen möchte Salomon einerseits die Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen der sozialen FührerInnen zeigen und andererseits Männer und Frauen verschiedener Länder und Arbeitsgebiete berücksichtigen. Die von ihr Ausgewählten sind: Franz von Assisi, Robert Owen, Florence Nightingale, Johann Hinrich Wichern, Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Otto von Bismarck, Ferdinand Lassalle, Ernst Abbe, Lew Tolstoi, Henry George und Jane Addams. Franz von Assisi (1181–1226) ist ausgewählt, um zu zeigen, dass soziale Nöte auch im 13. Jahrhundert vorhanden waren und dass das Führertum auf sozialem Gebiet vor allem „aus der Fähigkeit erwächst, sich in selbstständiger Weise mit den gesellschaftlichen Zuständen auseinanderzusetzen“ (vgl. Salomon 1932, 6). Bismarck hat sie genannt, weil er nach ihrer Auffassung in der Sozialversicherung ein großes, unvergängliches soziales Werk hinterlassen hat (vgl. a. a. O.).

Anders ist Michael Winkler (1993) vorgegangen. Er spricht bei seiner Auswahl von Theorien der Sozialpädagogik von „Klassikern“; damit knüpft er an Hans Scheuerls Bände „Klassiker der Pädagogik“ (1979) an (vgl. Dollinger 2006a). Als Kriterien für die Aufnahme in den Kreis der „Klassiker der Sozialpädagogik“ nennt Winkler:

a)Sie spielen nach außen für die soziale Gemeinschaft einer Profession oder einer Disziplin eine Rolle beim Markieren von Claims gegenüber anderen Disziplinen beziehungsweise Professionen;

b)sie haben nach innen die Funktion, eine Identität als Profession oder Disziplin zu stiften;

c)sie begrenzen den für eine Profession oder Disziplin verbindlichen Gegenstandsbereich;

d)sie bringen paradigmatisch gültige Tatbestände zum Ausdruck;

e)sie ermöglichen eine Distanzierung gegenüber den gegenwärtigen sozialen Problemen;

f)sie prägen den Denkstil, indem sie Wege bahnen, auf welche Gedanken hin organisiert und interpretiert werden (vgl. Winkler 1993, 178 ff.).

AutorInnen, die „aufgrund ihrer Werke die Klassik der Sozialpädagogik“ ausmachen, sind für Winkler: Platon, Jean-Jacques Rousseau, Johann Gottlieb Fichte, Johann Heinrich Pestalozzi, Johann Hinrich Wichern, Don Bosco, Adolf Kolping, Karl Mager, Adolf Diesterweg, Paul Natorp, Arthur Buchenau, Otto Willmann, Paul Bergemann, Aloys Fischer, Christian Jasper Klumker, Wilhelm Polligkeit, Hans Scherpner, Gertrud Bäumer, Herman Nohl, Erich Weniger, Karl Wilker, Curt W. Bondy, Anton Makarenko, Carl Mennicke, Georg Kerschensteiner, August Aichhorn, Siegfried Bernfeld, Maria Montessori, Erving Goffman, Michel Foucault, Klaus Mollenhauer, Walter Hornstein, Hans Thiersch und andere (vgl. a. a. O., 182 ff.).

Mit Variationen werden von Rünger (1964), Vahsen (1975), Böttcher (1975), Lukas (1979), Marburger (1981), Schmidt (1981), Wollenweber (1983a,b), Buchkremer (1995), Staub-Bernasconi (1995a; 2007), Thiersch (1996a), Mühlum (1997), Thole/Galuske/Gängler (1998), Erath (2006), Wendt (2008a,b), Niemeyer (2010), Hamburger (2011), Schilling/Zeller (2012), Lambers (2016), Erath/Balkow (2016) und anderen in etwa dieselben Personen als bedeutsam für die Theoriebildung in der Sozialen Arbeit benannt. Im deutschsprachigen Raum hat sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts ohne besondere Absprachen ein Kanon von AutorInnen herausgebildet, die für die Entwicklung der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis als wichtig und einflussreich angesehen werden. Dieser Kanon ist für uns der Fundus, aus dem wir die in diesem Buch dargestellten Theorien und TheoretikerInnen ausgewählt haben. Zugleich haben wir aber auch AutorInnen neu aufgenommen, die in den letzten Jahren eigene Theorien der Sozialen Arbeit veröffentlicht haben und in den gegenwärtigen Diskussionen über Theorien der Sozialen Arbeit beachtet werden.

Mit der Frage, wann eine Theorie als wissenschaftliche Theorie gelten kann, ist eine kaum einvernehmlich zu lösende Problematik aufgeworfen. Denn Wissenschafts- und Theoriedefinitionen gibt es in Hülle und Fülle, nicht aber eine verbindliche und allgemein akzeptierte Definition, aus der sich verbindliche Kriterien ableiten lassen. Zudem nennen AutorInnen selten ausdrücklich ihre Kriterien dafür, welche Aussagen sie unter welchen Voraussetzungen als wissenschaftlich ansehen. Das jeweilige Wissenschafts- und Theorieverständnis hängt von persönlich gesetzten, aber oftmals nicht explizit ausformulierten wissenschaftstheoretischen Prämissen ab. Was für den einen eine wissenschaftliche Theorie ist, ist für den anderen nicht mehr als eine Alltagsweisheit. Was hier als wissenschaftlich qualifiziert wird, wird dort als populärwissenschaftlich abqualifiziert.

Wissenschaftlich nennen wir das gezielte, systematische, reflektierte und kritische Bemühen um Erkenntnisgewinnung, das über das alltägliche Bemühen um Wissen hinausgeht (vgl. Mittelstraß 1996, 717–724). Mit diesem weiten Verständnis von Wissenschaft möchten wir – im Kontext dieses Buches – eine Definition vorgeben, die ein gemeinsamer Nenner für unterschiedliche Wissenschaftsverständnisse sein kann und die genügend Raum für weitere Spezifizierungen und Differenzierungen bietet. Zu beachten ist, ob mit Wissenschaft der Prozess der Erkenntnisgewinnung oder der Wissensbestand gemeint ist.

Soziale Arbeit ist für uns eine Handlungswissenschaft, die natürlich zu den Sozialwissenschaften gehört, mit philosophischen, empirischen, normativen und rationalen Handlungstheorien. Sozialwissenschaftliche Theorien sollen nach unserem Verständnis Ist-Situationen erklären und Soll-Vorstellungen möglich machen sowie ein Verständnis für historische Prozesse und Zusammenhänge schaffen. Theorien der Sozialen Arbeit gelten für uns dann als wissenschaftliche Theorien, wenn sie folgende formale Kriterien erfüllen:

a)Der Gegenstand, auf den sich die Theorie bezieht, ist definiert und repräsentiert nicht nur einen Teilbereich der Wissenschaft.

b)Die gewählten wissenschaftstheoretischen Zugänge und die wissenschaftlichen Erkenntnismethoden (Metatheorien) sind benannt.

c)Zum Gegenstand der Theorie werden überprüfbare Aussagen gemacht.

d)Die Aussagen sind untereinander zu Theorien (Aussagesystemen) verbunden.

e)Es ist ein gewisser Grad der Abgeschlossenheit des Aussagenverbundes (Objekttheorie) erreicht (vgl. Mittelstraß 1996, 259–290).

Die von uns für dieses Buch ausgewählten Theorien beziehen sich im Großen und Ganzen auf den Gegenstandsbereich, wie er in der Definition der IFSW beschrieben ist, in Kurzform auf „soziale Probleme und ihre Lösungen“. Mit dieser Definition wird berücksichtigt, dass sich der Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit unter dem Einfluss wechselnder Lebensbedingungen im Laufe der Geschichte verändert und auch die Kriterien dafür, was jeweils als „sozial problematisch“ angesehen wurde und wird, sich ändern.

Die von uns ausgewählten Theorien sind keine geschlossenen „Welttheorien für soziale Probleme und ihre Lösungen“, sondern Theorien mit unterschiedlichen Reichweiten. Die TheoretikerInnen haben ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen nicht immer dezidiert benannt. So kann man sie doch zumeist, wenn auch bisweilen mit Vorbehalt, den Ausführungen entnehmen. Die AutorInnen stehen auch für Denkrichtungen oder „Schulen“ ihrer Zeit. Es fällt auf, dass in den letzten Jahren vermehrt nicht nur ein Autor, sondern zwei und mehrere AutorInnen die jeweilige Theorie verfasst haben.

3 Die Darstellung der Theorien in ihrem historisch-biografischen Kontext

Theorien einer Wissenschaft – als Einführung in ein weites und komplexes Feld – können nach verschiedenen Aspekten zusammengestellt werden. Malcolm Payne (2014), Joyce Lishman (2007) und Francis J. Turner (2011) unterscheiden zum Beispiel die Theorien in psychodynamische, verhaltenstheoretische, systemisch-ökologische, sozialpsychologische, kognitive und humanistische Ansätze oder Modelle. Andere AutorInnen wiederum klassifizieren die Theorien nach den ihnen zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnismethoden; so werden transzendentalphilosophische, geisteswissenschaftliche, hermeneutische, kritisch-rationale, dialektisch-kritische und marxistische Ansätze und Theorien unterschieden (vgl. Lukas 1979; Schmidt 1981; Marburger 1981 u. a.). Wir haben keine derartige Klassifizierung vorgenommen, sondern sind historisch vorgegangen und haben die Theorien nach dem Geburtsjahr der AutorInnen zusammengestellt.

Theorien sind in der Regel eine Antwort auf die Herausforderungen ihrer Zeit. Zu ihrem besseren Verständnis stellen wir sie deshalb in ihrem historisch-biografischen Kontext dar und gehen dabei nach der historischkritischen Methode vor. In den gängigen Zusammenstellungen von Theorien der Sozialen Arbeit werden zwar die AutorInnen der betreffenden Theorien mit ihren Lebensdaten vorgestellt, für gewöhnlich wird aber nichts weiter über ihren historischen und biografischen Kontext, in dem diese Theorien entstanden sind, mitgeteilt. In der Wissenschaftspsychologie und -soziologie wird zunehmend auf die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Theoriebildung vom persönlichen Lebenskontext der AutorInnen und vom politischen, wirtschaftlichen und kulturellen, also auf den historischen Kontext seines/ihres wissenschaftlichen Arbeitens aufmerksam gemacht, selbst bei naturwissenschaftlichen Theorien (vgl. Meÿenn 1997).

„Da die Wissenschaftsentwicklung … wesentlich von der jeweiligen Struktur der kognitiven Gegebenheiten abhängt, dürfen institutionelle, vor allem auch soziokulturelle Bedingungen im Hinblick auf ihre inhaltliche Ausgestaltung nicht vernachlässigt werden. Wissenschaftliche Methoden, Begriffssysteme und Interpretationsschemata unterliegen historischen Veränderungen“ (Mittelstraß 1996, 736). Wissenschaftliche Theorien „fallen nicht vom Himmel“, sondern sind Lebensprodukte.“ … the essence of the history of science is biographical and one wants to know the total person to whom a new theory is due if the genesis of his ideas is to be understood. These ideas do not always arise from objective nature but rather from the idiosyncratic viewpoint of unique individuals” L. Pearce Williams zit. nach Meÿenn 1997, 7). Ein beeindruckendes Beispiel hierfür finden wir bei Sigmund Freud.

Im Mittelpunkt seiner Theorie der Psychoanalyse stand beim jungen, gesunden Freud der Sexualtrieb (libido). Seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg haben ihn erschüttert und ihn die Bedeutung der Aggression erkennen lassen. „Erst das Ausmaß an Zerstörung, wie der Weltkrieg sie mit sich brachte, ließ Freud in der Aggression einen eigenen Trieb, einen Destruktionstrieb, annehmen“ (Wyss 1977, 83). Unter dem Eindruck des Krieges und seiner eigenen Krebserkrankung – der starke Pfeifenraucher Freud wurde über 30 Mal im Mund- und Kieferbereich operiert – widmete sich der alternde Freud ab 1920 verstärkt dem Destruktionstrieb und bezeichnete ihn als Gegenspieler des Sexualtriebs und gab ihm den Namen Todestrieb (thanatos).

Dass auch WissenschaftlerInnen Alltagstheorien entwickeln, die aus den persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen ihres alltäglichen Lebens resultieren, ist unseres Erachtens genauso unzweifelhaft wie der Tatbestand, dass wissenschaftliche Theorien mit den Alltagstheorien und den persönlichen Lebenserfahrungen der AutorInnen zusammenhängen. Es wäre zu überprüfen, ob eine sozialwissenschaftliche Theorie letztlich nichts anderes als eine Weiterführung, Vertiefung, Systematisierung und nachprüfbare Begründung des Alltags- und Berufswissens der AutorInnen ist (vgl. Mühlum u. a. 1997).

Aus den genannten Gründen werden wir neben den bei Theoriedarstellungen üblichen Kategorien (Wissenschaftsverständnis, Forschungsgegenstand/-interesse, Inhalt und Bedeutung der Theorie) im Rahmen des hier Möglichen auch den historischen und den biografischen Kontext kurz skizzieren, in dem die Theorien entstanden sind. Eingeleitet wird jede Darstellung mit einem für den Autor/die Autorin unserer Meinung nach charakteristischen Zitat und einer Fotografie des/der Autors/Autorin.

Der Leitfaden, nach dem die einzelnen Theorien vorgestellt werden, besteht aus folgenden Kategorien:

(1) Historischer Kontext: Der zeitgeschichtliche Rahmen der Theorie, die soziokulturellen und ökonomischen Bedingungen, die sozialen Probleme, die vorherrschende Wissenschaftsauffassung.2

(2) Biografischer Kontext: Wichtige Lebensdaten, soziokulturelle Einbindung sowie Zugang zu Macht und Einfluss.

(3) Forschungsgegenstand und -interesse: Der Gegenstandsbereich, Ziele und erkenntnisleitendes Interesse.

(4) Wissenschaftsverständnis: Das Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis, die Erkenntnis- und Forschungsmethoden sowie die Denktradition, in der die Theorie steht.

(5) Theorie: Art und Inhalt der Theorie mit den Grundannahmen, Zielen und Werten.

(6) Bedeutung für die Soziale Arbeit: Rezeption, Verbreitung und Einfluss der Theorie zur Zeit der Erstveröffentlichung und heute.

(7) Literaturempfehlungen: Wichtige Publikationen zur Vertiefung der Theorie.

4 Die Auswahl der Theorien und die Gliederung des Buches

Die ausgewählten Theorien werden in vier Gruppen und in der Reihenfolge der Geburtsjahrgänge der AutorInnen dargestellt.

Der erste Teil „Vom Armutsideal bis zum Bauen von Hütten der Liebe“ besteht hauptsächlich aus frühen vorwissenschaftlichen Programmen, Konzepten und Theorien. Sie stehen stellvertretend für verschiedene Arten des Umgangs mit sozialen Problemen (Armut, Krankheit, Behinderung, Alter usw.) in der europäischen Geschichte der Sozialen Arbeit vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Im Mittelalter wurden soziale Probleme vor allem im Rahmen der Theologie und der Philosophie behandelt. Bald danach wurde die Reflexion sozialer Probleme von der Theologie getrennt und erfolgte in anderen, aus der Philosophie sich herausdifferenzierenden und neu gebildeten Wissenschaftsdisziplinen. Diese Entwicklung repräsentieren im ersten Teil des Buches Thomas von Aquin (1224–1274), Juan Luis Vives (1492–1540), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Adam Smith (1723–1790), Thomas Robert Malthus (1766–1834) und Johann Hinrich Wichern (1808–1881). Die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln und die damit verbundene historische Vergewisserung, dass Soziale Arbeit als Wissenschaft und Praxis eine lange Tradition hat, können Fixierungen auf Tagesfragen verhindern und das Selbstbewusstsein der Profession stärken.

Der zweite Teil „Von der Gemeinschaftserziehung bis zur Behebung der Not“ enthält Theorien der Sozialen Arbeit aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Teil stellen wir bis auf eine Ausnahme nur Theorien aus dem deutschsprachigen Raum dar. Sie zeigen bereits eine deutliche Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit als Wissenschaft. Die Theorien sind primär Berufstheorien oder stehen schon als wissenschaftliche Theorie im Zusammenhang mit der Professionalisierung der Sozialen Arbeit und der Ausbildung für die Soziale Arbeit. Die anderen AutorInnen stehen für primär psychologisch, wirtschaftlich, pädagogisch, feministisch, politisch und anthropologisch orientierte Theorieansätze der Sozialen Arbeit. Als RepräsentantInnen haben wir ausgewählt: Paul Natorp (1854–1924), Jane Addams (1860–1935), Christian Jasper Klumker (1868–1942), Alfred Adler (1870–1937), Alice Salomon (1872–1948), Gertrud Bäumer (1873–1954), Ilse von Arlt (1876–1960) und Herman Nohl (1879–1960).

Der dritte Teil „Von der sozial-rassistischen Auslese bis zum gelingenderen Alltag“ enthält Theorien der Sozialen Arbeit aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Theorien erfüllen in etwa die Ansprüche, die heute allgemein an eine wissenschaftliche Theorie gestellt werden. Die ausgewählten Theorien repräsentieren wichtige unterschiedliche wissenschaftstheoretische Ansätze der Theoriebildung und beziehen sich auf den Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit insgesamt und beschränken sich nicht auf Teilgebiete Sozialer Arbeit (z. B. auf Heimerziehung oder Bewährungshilfe). In diesem Teil stellen wir vor: Hans Muthesius (1885–1977), Hans Scherpner (1898–1959), Carel Bailey Germain (1916–1995) mit Alex Gitterman (* 1938), Klaus Mollenhauer (1928–1998), Marianne Hege (* 1931), Lutz Rössner (1932–1995), Karam Khella (* 1934) sowie Hans Thiersch (* 1935).

Der vierte Teil „Vom menschengerechten Handeln bis zur Gerechtigkeit und dem guten Leben” enthält relevante Theorien der Sozialen Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die AutorInnen dieser Theorien befassen sich verstärkt mit den gegenwärtigen Veränderungen der Gesellschaft, die durch Digitalisierung, Automatisierung, Kommerzialisierung, Autonomiestreben, Migration und Individualisierung entstehen und neue soziale Probleme generieren. Die AutorInnen verstehen ihre Theorien ausdrücklich als Theorien der Sozialen Arbeit. Ausgewählt haben wir: Silvia Staub-Bernasconi (* 1936), Lothar Böhnisch (* 1944), Margrit Brückner (* 1946), Bernd Dewe (1950–2017) mit Hans-Uwe Otto (* 1940), Rudolf Leiprecht (* 1955) mit Paul Mecheril (* 1962), Ulrich Deinet (* 1959) mit Christian Reutlinger (* 1971), Björn Kraus (* 1969) und Dieter Röh (* 1971).

5 Selbstkritische Anmerkungen

Zweck und Ziel dieses Buches führen dazu, dass es eher einem groben Holzschnitt als einer feinen Federzeichnung gleicht. Komplexes wird vereinfacht, Differenzierungen werden vernachlässigt, und Details werden weggelassen, um didaktische Absichten zu erfüllen und dem vorgegebenen Rahmen gerecht zu werden.

Über unsere Auswahl der Theorien kann man streiten. Der zur Verfügung stehende Buchumfang hat uns zu einer Auswahl gezwungen. Auf wichtige und interessante deutschsprachige Vertreter haben wir verzichten müssen, so etwa auf Friedrich E. Schleiermacher (1768–1834) und Karl H. Marx (1818–1883). Theorien zu sozialen Problemen und ihren Lösungen zum Beispiel aus England, Finnland, Frankreich, Italien, Norwegen, Polen, Russland, Schweden, Spanien, Ungarn usw. mussten wir weitgehend unberücksichtigt lassen (vgl. Puhl/Maas 1997; Hering/Waaldijk 2002; Erath 2011 u. a.), ganz zu schweigen von Theorien, Modellen, Ansätzen und Konzeptionen außerhalb Europas (vgl. Graham 2002; Turner 2011; Payne 2014; Healy 2014 u. a.). Angesichts der Globalisierung der sozialen Probleme wäre es hilfreich und notwendig, auch andere europäische und außereuropäische TheoretikerInnen mit ihren Theorien zur Sozialen Arbeit in eine solche Darstellung einzubeziehen (vgl. www.ifsw.org). Auch bei der Beschränkung auf deutschsprachige TheoretikerInnen konnten wir wichtige TheoretikerInnen der Sozialen Arbeit nicht berücksichtigen, zum Beispiel Max Weber (1864–1920), Aloys Fischer (1880–1937), Hans Pfaffenberger (1922–2012) und C. Wolfgang Müller (* 1928). Auch wurde aus dem gleichen Grund die Auswahl der TheoretikerInnen von Auflage zu Auflage dieses Buches immer wieder verändert. So kann ein Blick in ältere Ausgaben dieses Buches zusätzliche Theorien erschließen.

Unsere Auswahl spiegelt die Geschlechterproblematik in der Sozialen Arbeit wider: ein paar Autorinnen und fast nur Autoren von Theorien der Sozialen Arbeit. Auch in der Sozialen Arbeit gibt es einen Gender Bias: Männer nehmen die führenden Positionen in der Theoriebildung, in der Leitung der Praxis und auch in der Lehre/Ausbildung ein, während Frauen stärker die alltägliche Arbeit in der Praxis ausführen.

Vierzig Jahre hat es gedauert, ehe sich deutsche VertreterInnen der Sozialen Arbeit angemessen mit der Sozialen Arbeit während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland von 1933 bis 1945 befasst haben. Das Dritte Reich wurde aus der Geschichte der Sozialen Arbeit schlichtweg mit der These ausgeklammert: Die Entwicklung der Sozialen Arbeit wurde in Deutschland durch die Machtübernahme Hitlers 1933 jäh unterbrochen und setzte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches 1945 wieder neu ein (vgl. Schmidt 1981, 44 f.; Schilling/Zeller 2012, 46). Den Wendepunkt vom Verschweigen zur offensiven Erforschung und selbstkritischen Auseinandersetzung markiert das Erscheinen des von Hans-Uwe Otto und Heinz Sünker herausgegebenen Sammelbandes „Soziale Arbeit und Faschismus“ im Jahre 1986. Die drei Fragen: „Wie wurde die Theorie der Sozialen Arbeit in die Einheitsideologie des Dritten Reiches eingewoben? Was trat an die Stelle der im engeren Sinne sozialpädagogischen Praxis? Wie verstrickten sich das Wohlfahrts-, Fürsorge- und Fürsorgeerziehungssystem und ihre ProtagonistInnen in den totalitären Staat?“ müssen beantwortet werden (vgl. Buchkremer 1995; Kappeler 2006; Amthor 2017). Soziale Arbeit gehörte in der Gestalt von „Volkspflege“ mit ihren Institutionen und Handlungsfeldern, Organisationsformen und Programmatiken zur nationalsozialistischen Gesellschaft (vgl. Sünker 1996, 511). Viele Millionen Deutsche haben Adolf Hitlers sozialrassistische Ideen – die eine lange europäische Tradition haben (vgl. Kappeler 1994; 1999) – und Programme übernommen. Zu den VertreterInnen der deutschen FürsorgerInnen, SozialpädagogInnen und SozialpolitikerInnen, die in der Zeit von 1932 bis 1945 sozial-rassistische Thesen mehr oder weniger stark vertreten haben, gehören Ernst Krieck (1882–1947), Hans Muthesius (1885–1977), Helene Wessel (1898–1969), Franz-Josef Wuermeling (1900–1986) und andere; und auch Christian Jasper Klumker, Alice Salomon, Herman Nohl, Gertrud Bäumer, Aloys Fischer und Hans Scherpner sind nicht frei davon (vgl. Wollenweber 1983a; Cogoy/Kluge/Meckler 1989; Kappeler 1999; 2000; 2006 u. a.). Wir haben Muthesius für dieses Buch ausgewählt, weil er vor und nach dem Dritten Reich eine hervorragende Rolle im „Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge“ gespielt und lange Zeit – auch international – als eine Leitfigur der deutschen Sozialen Arbeit gegolten hat. In diesem Buch berücksichtigen wir primär, wie sich Muthesius in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an die nationalsozialistische Rassenideologie angeschlossen hat; andere Aspekte seines Lebenswerkes und seiner Auffassungen müssen hier vernachlässigt werden (vgl. Orthbandt 1985; Schrapper 1993; Kappeler 2000; 2006 u. a.). Adolf Hitler (1889–1945) selbst als Vertreter einer sozial-rassistischen Theorie der Sozialen Arbeit anzuführen, bietet zu leicht die Möglichkeit, sich von sozialrassistischen Theorien und Taten in der Sozialen Arbeit zu distanzieren, sie einem „Unmenschen“ zuzuschreiben und die eigenen Neigungen zu verdrängen.

Fraglich ist es für uns, ob sich alle von uns ausgewählten AutorInnen überhaupt damit einverstanden erklärt hätten, als AutorIn einer Theorie der Sozialen Arbeit bezeichnet zu werden. Diese Frage muss zumeist unbeantwortet bleiben. Wir können nur darauf verweisen, dass es auch in anderen Wissenschaften üblich ist, AutorInnen in die eigene Theoriegeschichte einzubeziehen, die sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich zu dieser Wissenschaft bekannt haben und auch nicht bekennen konnten, weil es diese damals in der heutigen Gestalt noch nicht gegeben hat.

Wir sind uns bewusst, dass unser Unternehmen, 31 Theorien auf wenigen Seiten darzustellen, sehr couragiert ist, und unsere Darstellungen kritisch gesehen werden können. Die umfangreichen Publikationen beispielsweise von Smith, Rousseau, Pestalozzi, Wichern, Mollenhauer und anderen enthalten auch sich ausschließende Aussagen. Insofern können auch andere Darstellungen als unsere mit Quellenangaben belegt werden. Fehlende Kenntnisse und unzulängliche Rezeption unsererseits können bei der Materialfülle trotz unseres Bemühens um Sorgfalt und Genauigkeit zu verzerrten oder fehlerhaften Darstellungen geführt haben. Unsere ausführlichen Quellen- und Literaturangaben sollen auch der Überprüfung unserer Ausführungen dienen.

Nur selten werden von den AutorInnen alle Thesen in einem Werk systematisch zusammengefasst und zu einer in sich geschlossenen Theorie verbunden (vgl. Rössner 3.6). Häufig haben AutorInnen mehrere Werke geschrieben, in denen sie ihre Theorie(n) entwickeln; in den verschiedenen Werken behandeln sie nur verschiedene (Teil-) Aspekte ihrer Theorie (vgl. Thiersch 3.8). Manche Theorien kann man nur verstehen, wenn man die Gegenposition kennt, mit der sich die AutorInnen auseinandersetzen und die sie widerlegen möchten (vgl. Klumker 2.3 und Malthus 1.6). Bisweilen werden zudem von Werk zu Werk Positionen gründlich geändert (vgl. Mollenhauer 3.4). Mitunter werden frühere Thesen später durch neue Erkenntnisse ausgeweitet (vgl. Staub-Bernasconi 4.1).

Wir beschreiben die Theorien aus unserer Sicht und hoffen, dass wir dem Selbstverständnis der AutorInnen gerecht geworden sind. Bei der Darstellung der Theorien haben wir uns bemüht, möglichst nahe an der Sprache und den Denkfiguren der jeweiligen AutorInnen zu bleiben. Viele AutorInnen haben jedoch in ihrer Theorie eine eigene Sprachwelt geschaffen, neue Fachbegriffe entwickelt oder bekannten Begriffen einen neuen Inhalt gegeben; wie zum Beispiel bei „Lebenswelt“, „Konstruktivismus“, „Hilfe“ und „Profession“. Bei manchen Theorien wäre ein Glossar zum besseren Verständnis hilfreich.

Manche Titel für die Theorien und auch die Darstellungen der Theorien selbst geben die bei den Theorien real vorhandenen Wendungen, Widersprüche und Brüche nur unzureichend wieder. Wir haben aufgrund der Quellen und unter Zuhilfenahme der Sekundärliteratur versucht, ein durchgehendes Anliegen des/der AutorIn zu ermitteln und dafür eine dementsprechende Überschrift zu finden. Wir sind uns bewusst, dass eine Festlegung auf ein einziges, zentrales Thema den AutorInnen und ihren Anliegen nur bedingt gerecht wird.

Vor allem bei den neueren Theorien stehen wir vor der Herausforderung, dass diese oft in Zusammenarbeit von weit mehr als einer oder zwei Personen erstellt und weiterentwickelt werden. Hier haben wir versucht, prägende Hauptpersonen zu benennen und weitere relevante Beteiligte in ergänzenden Zitaten und Quellenangaben mit zu benennen.

Auf eine ausdrückliche kritische Kommentierung und Würdigung der einzelnen Theorien haben wir verzichtet. Das bedeutet nicht, dass wir die Theorien nicht kritisch sehen und reflektieren. Vorrangig ist es für uns, die AutorInnen mit ihren Theorien möglichst original zu Wort kommen zu lassen. Wenn wir die Bedeutung der einzelnen Theorien für die Soziale Arbeit (vgl. Punkt 6 im oben dargestellten Leitfaden) erörtern, dann gehen damit selbstverständlich unsere eigenen Sichtweisen und die Einschätzungen unseres Umfeldes mit ein. Wir haben zwar versucht, uns möglichst auf nachprüfbare Kriterien (wie z. B. Anzahl, Auflagenhöhe und Verbreitung der Publikationen, Beachtung in der Fachliteratur, Häufigkeit der Nennung in Literaturverzeichnissen usw.) zu stützen. Es liegen jedoch fast keine sozialwissenschaftlichen Anforderungen genügenden Erhebungen zur Rezeption und Wirkungsgeschichte von Theorien der Sozialen Arbeit in der Praxis und der Ausbildung vor. Unser Bemühen um eine möglichst originalgetreue Darstellung mit entsprechenden Zitaten bedeutet nicht, dass wir die vorgetragenen Thesen teilen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, in diesem Studienbuch konzentriert eine Auswahl von Theorien der Sozialen Arbeit, die für die gegenwärtige Soziale Arbeit relevant sind, zu vermitteln. Die kritische Würdigung und Bewertung der einzelnen Theorien überlassen wir den LeserInnen (Anregungen dazu siehe Engelke/Spatscheck/Borrmann 2016, 316).

1Die Bezeichnung „Soziale Arbeit“ verwenden wir als Begriff, der die historischen und aktuellen Traditionen von Armenpflege, Fürsorge, Caritas, Diakonie, Jugendhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit und Sozialpädagogik umfasst. Aus sprachlichen Gründen benutzen wir gelegentlich Sozialarbeit synonym für Soziale Arbeit; insbesondere dann, wenn ein Adjektiv erforderlich ist, wählen wir sozialarbeiterisch. In der Sozialen Arbeit Tätige bezeichnen wir als SozialarbeiterInnen, beziehen dabei aber auch SozialpädagogInnen, GemeinwesenarbeiterInnen, FürsorgerInnen usw. mit ein.

2Bei der Darstellung des historischen Kontextes haben wir uns vornehmlich auf Zeitungsarchive und die Geschichtsbücher von Grundmann 1988, Kinder/Hilgemann 2005 u. a. gestützt.

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