Kitabı oku: «Theorien der Sozialen Arbeit», sayfa 4

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„Da die Nächstenliebe unter Gebot steht, so muss notwendig alles unter Gebot fallen, ohne das die Liebe zum Nächsten nicht gewahrt werden kann. Zur Nächstenliebe gehört aber, dass wir dem Nächsten nicht bloß das Gut wollen, sondern es auch wirklich tun … Dazu aber, dass wir jemandes Gut wollen und wirken, wird erfordert, dass wir seiner Not zu Hilfe kommen, was durch die Spendung von Almosen geschieht. Und deswegen steht das Almosenspenden unter Gebot“ (a. a. O. 1985c, 162 f.).

Auf Seiten des Gebenden ist das Almosengeben nur dann geboten, wenn ihm das überflüssig ist, was als Almosen verwendet werden soll.

Vorab ist es für Thomas geboten und erlaubt, dass jeder für sich und die Seinen in ausreichendem Maße sorgt. Man schuldet nicht, Almosen von dem zu geben, was schlechthin zum Leben und standesgemäß notwendig ist; es sei denn im Falle für das Gemeinwohl. Wer von dem etwas gibt, was als notwendig für seine standesgemäße Lebensführung gilt, handelt verdienstvoll, da keine Verpflichtung dazu besteht (vgl. a. a. O., 165). Der Umfang des zu gebenden Almosens richtet sich also ausschließlich nach der Lebenssituation des Gebers, nicht nach der Notlage des Empfängers. Wirklich verdienstvoll ist das Geben aber nur dann, wenn es aus der rechten Gesinnung erfolgt. Ohne den Glauben an Jesus Christus und die Liebe zum Nächsten fehlt der helfenden Handlung Wesentliches. Auf Seiten des Empfängers ist es für Thomas erforderlich, dass der Empfänger äußerste Not leidet. Es ist aber nach Thomas ein Fehler, so reichlich zu geben, dass der Empfänger Überfluss bekommt.

„Da der Wohltäter die Ursache und eine Art von Urheit für den Genuß von Wohltat ist, so ist derjenige, welcher die Wohltat hat, dem, der sie leistet, zu Dank verpflichtet“ (a. a. O., 432). Beim Empfang des Bußsakramentes ist das Almosengeben neben dem Beten und Fasten eine Möglichkeit für die Sünder, durch eigenes sittliches Bemühen die zeitlichen (nicht ewigen) Strafen für die begangenen Sünden auszugleichen. Das Almosengeben ermöglicht also reichen SünderInnen die Rückkehr auf den Weg zu Gottes Reich.

Dass sich die Geber Verdienste erwerben können, das ist es, was die Notleidenden als Empfänger der Almosen für die mittelalterliche Gesellschaftsordnung wertvoll macht. Sie sind für das Heil der reichen Sünder unentbehrlich, gehören zur heiligen Ordnung hinzu und leben in dieser Schöpfung, die auf das Jenseits, auf Gott, hin geordnet ist. Not und Armut werden religiös-ethisch gesehen und nicht ökonomisch-gesellschaftlich. Angesichts der wichtigen gesellschaftlichen Funktion der Bedürftigen und der theologischen Wertschätzung der Armut gab es für Thomas keinen Grund, die Gesellschaftsordnung zu ändern oder in seiner Theorie gar die Abschaffung der Armut und der Armen zu fordern. Thomas befasst sich nur nebenbei mit der Lebenssituation der Notleidenden. Ihn interessiert die Handlung. Unter diesem Blickwinkel untersucht er auch die Barmherzigkeit und die Wohltätigkeit. Die Barmherzigkeit ist für ihn „eine Mitleide in unserem Herzen mit fremdem Elend; es treibt uns an, zu Hilfe zu kommen, falls wir nur können … Die Barmherzigkeit ist eine gewisse Traurigkeit über das zutage tretende verderbliche oder betrübende Übel.“ Und Wohltätigkeit ist nach Thomas eine Wirkung der Freundschaft oder der Liebe; sie folgt aus dem Wesen der Liebe, durch die das „Höherstehende zur Fürsorge für das Tieferstehende“ bewegt wird (vgl. a. a. O., 151–161).

(6) Werke der Barmherzigkeit: Auf biblischer Grundlage entwickelt Thomas eine von der körperlich-seelischen Natur des Menschen ausgehende Systematik für die Handlungen und unterscheidet als Almosengattungen die sieben leiblichen und die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit. Es sind allgemeine menschliche und zu allen Zeiten wiederkehrende existenzielle Nöte und Mängel, die Thomas als menschliche Defekte ansieht. Diese Mängel lassen sich durch die sieben leiblichen und sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit beheben. Die sieben körperlichen Defekte sind: Hunger, Durst, Nacktheit, Obdachlosigkeit, Krankheit, Gefangenschaft und Unbeerdigtsein (vgl. Matthäus 5,1–2; 25,31–46). Ihnen entsprechen die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde ins Haus aufnehmen, Kranke besuchen und pflegen, Gefangene trösten und die Toten bestatten. Die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit sind: den Unwissenden lehren, den Zweifelnden beraten, den Traurigen trösten, den Sünder bessern, dem Beleidiger nachlassen, die Lästigen und Schwierigen ertragen und für alle beten. Aufgabe der barmherzigen Werke ist es, die Bedürfnisse der Bedürftigen zu befriedigen. Die Gründe für den Mangel und ihre Beseitigung interessieren Thomas nicht. Er denkt nicht daran, den Bedürftigen nachhaltig und ein für alle Mal aus seiner Notsituation hinauszuführen. Helfen ist für Thomas momentan und individuell ausgerichtet (vgl. Thomas von Aquino 1985c, 161).

1.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit

Die Lehre des Thomas von Aquin baute zwar auf einer tausendjährigen christlichen Tradition auf, dennoch waren die meisten seiner Thesen zur damaligen Zeit heftig umstritten und wurden von vielen Theologen und Bischöfen abgelehnt. Die auf Harmonie und Verwirklichung der Botschaft der Evangelien ausgerichtete Lehre von Thomas passte so gar nicht zu den Herrschaftsinteressen vieler Bischöfe und Päpste und in den Kontext der todbringenden Kreuzzüge und Großinquisitionen. Für die Reichen des 13. Jahrhunderts war seine Armuts- und Almosenlehre ein einziges großes Ärgernis, andererseits legitimierte seine „Ordnungs- und Ständelehre“ ihre Position in der Gesellschaft und ihre Privilegien. Der Dominikanerorden hat wenige Jahre nach dem Tod von Thomas eine „entschärfte“ Fassung seiner Lehre zur eigenen offiziellen Lehre erklärt. Seitdem beeinflussen die Thesen des Aquinaten in außerordentlicher Weise bis heute das abendländische theologische Denken (vgl. Chenu 1995; Forschner 2006; Schönberger 2012 u. a.).

Viele Jahrhunderte lang haben die Auffassungen des Thomas von Aquin die christliche Soziallehre geprägt. Der Gedanke der Subsidiarität wird beispielsweise auf Thomas zurückgeführt (vgl. Höffner 1963, 50). Abgelehnt wird allerdings seine These, dass die ökonomische, soziale und politische Ungleichheit der Menschen natürlich und ursprünglich von Gott so gewollt sei. Die Verpflichtung zur christlichen Liebestätigkeit (caritas), zur sozialen Gerechtigkeit und auch die Rechtfertigung von Privateigentum werden heute noch mit den Werken von Thomas begründet (vgl. Scherpner 1974, 39 f.). Der Arme blieb aber in seiner Denkwelt Objekt der Wohltätigkeit der Reichen entgegen allen Aufforderungen der Evangelien, in dem Armen Jesus selbst zu sehen. In diesem Punkt hat Franziskus von Assisi (1181/82–1226) durch sein Leben und seine Predigten nachhaltig für eine tief greifende Alternative gesorgt; indem er sich mit den Armen solidarisiert hat, hat er ihnen ihre personale Würde (wieder-)gegeben (vgl. Salomon 1932; Fenger 2005, 90).

In den Sozialenzykliken haben Päpste immer wieder auf die Werke des Thomas von Aquin zurückgegriffen, zuletzt Papst Johannes Paul II. im Jahre 1987 in seiner Enzyklika „Sollicitudo Rei Socialis“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1987). Soziales Tun, die Hilfe der Gläubigen für die Schwachen und das Eintreten für die Linderung der Not stehen auch nach Auffassung der heutigen deutschen Kirchenleitungen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der sozialen Gerechtigkeit und dem Weg des Heils (vgl. z. B. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland u. a. 1996, 11; Lehner 1997). Im Leitbild des Deutschen Caritasverbandes wird als erstes Ziel genannt:

„Jeder Mensch ist einmalig als Person und besitzt eine ihm von Gott gegebene unverfügbare Würde. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, menschliches Leben von Anfang bis Ende, von der Empfängnis bis zum Tod, zu achten, zu schützen und, wo Not ist, helfend zu begleiten“ (Leitbild des Deutschen Caritasverbandes 1997, 347).

Heinrich Böll hat auf die politische Brisanz hingewiesen, die sich aus der Lehre von Thomas beispielsweise für die Lösung des Nord-Süd-Gefälles in der Welt ergibt (vgl. Böll 1984, 44 f.).

Nach Thomas darf sich ein „Habenichts“ in existenzieller Not vom Habenden nehmen, was er zum Überleben braucht. Demnach dürften beispielsweise die ärmsten Länder Afrikas sich von den reichen Ländern Europas nehmen, was sie zum Überleben brauchen, auch wenn die reichen Länder dem nicht zustimmen. Der frühere Erzbischof von Köln, Kardinal Frings, hat nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der großen Not der Bevölkerung diese Lehre von Thomas konkret angewendet und die frierenden Menschen aufgefordert, sich Kohlen von den Kohlehalden und -zügen zu holen, auch wenn sie diese nicht bezahlen konnten; das sei kein Diebstahl und keine Sünde. Der Volksmund nannte diese Art der Selbstversorgung „Fringsen“. Und 1996 rief in den Niederlanden Bischof Muskens von Breda die hungernden Armen auf, sich Brot aus den Bäckereien zu nehmen, auch wenn sie es nicht bezahlen konnten.

Der gegenwärtige Papst Franziskus bezieht sich in seinem Apostolischen Schreiben „Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute“ auf Thomas, wenn er ausdrücklich feststellt, dass in Bezug auf das äußere Handeln die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden ist: „An sich ist die Barmherzigkeit die größte der Tugenden. Denn es gehört zum Erbarmen, dass es sich auf die anderen ergießt und – was mehr ist – der Schwäche der anderen aufhilft“ (Franziskus 2013, 25).

1.7 Literaturempfehlungen

Gute Einführungen in Leben und Werk des Thomas von Aquin geben die Monografien von Chenu (1995); Forschner (2006); Schönberger (2012). Zusammenfassende Übersichten der Thesen von Thomas sind in den einschlägigen Philosophiegeschichten zu finden (vgl. Störig 1989, 251–261 u. a.). Hans Scherpner ist in seinem Werk „Theorie der Fürsorge“ auf die Abhandlungen von Thomas von Aquin zur Armut und zum Almosengeben näher eingegangen (vgl. Scherpner 1974, 23–42).

Thomas behandelt in mehreren seiner Schriften Fragen, die die Soziale Arbeit unmittelbar betreffen. Wichtige Thesen und ihre Begründungen sind in der „Summa theologica“, dem theologischen Lehrbuch von Thomas – Übersetzung ins Deutsche von Joseph Bernhart (Thomas von Aquino 1985) –, zu finden. Im ersten Teil behandelt Thomas die Themen „Gott“ und „Schöpfung“, im zweiten Teil das sittliche Verhalten des Menschen und die spezielle Tugendlehre, im dritten Teil wird unter anderem das Bußsakrament behandelt, das für das Almosengeben wichtig ist.

Umfassende Bibliografien des umfangreichen Werkes von Thomas von Aquin und seiner Kommentatoren befinden sich unter anderem in den genannten Monografien zu Thomas von Aquin sowie im Internet auf den Websites der Thomas-Institute in Utrecht und Köln.

2 Arme unterstützen und durch Fordern fördern

Juan Luis Vives (1492 – 1540)


„Fast in gleicher Weise ausgezeichnet als Philosoph, Philologe, Theologe und Jurist ist Vives besonders auf dem Gebiete der Pädagogik von der größten historischen Bedeutung. Denn mit vollem Recht kann man sagen, dass sich in ihm die gesamte Opposition der beginnenden Neuzeit gegen die pädagogischen Missbräuche des späteren Mittelalters konzentriert und dass sich bei ihm in gleicher Weise die Keime der wichtigsten Reformen von Sturm bis Rousseau hinab vereinigt und in ein Ganzes verschmolzen finden“ (Rudolf Heine 1881, VI).

2.1 Historischer Kontext

Im Spätmittelalter, ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, verschlechtern sich in Europa die allgemeinen Lebensbedingungen: Mit der Pest raubt (ab 1349) eine neue Seuche in immer neuen Wellen Millionen von Menschen das Leben, in der landwirtschaftlichen Produktion macht sich neben den üblichen Naturkatastrophen die Klimaverschlechterung (kleine Eiszeit) negativ bemerkbar. Der nicht zuletzt durch die Folgen der Kreuzzüge entfaltete Handel verringert die Naturalwirtschaft zugunsten der Geldwirtschaft (Bildung von Monopolen, Ausdifferenzierung der Produktion).

Juan Luis Vives lebt in den ersten vier Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Für Historiker gelten die Jahrzehnte vor und nach 1500 als Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit. Mit der Entdeckung Amerikas (1492) wird für Europa eine neue Epoche der Weltgeschichte eingeleitet. Nach dem „Untergang Konstantinopels“ (1453) werden neue Verkehrswege (z. B. nach Indien) gesucht und gefunden – mit teilweise erheblichen Veränderungen für die mittelmeerischen Handelszentren. Kopernikus begründet das bereits in der Antike entworfene heliozentrische Weltbild neu (1514). Gutenberg entwickelt den Buchdruck (um 1440) und verbessert damit die schriftliche Kommunikation. Nach der Kirchenspaltung von 1054 in eine griechische und eine römische Kirche führt die von Martin Luther (1483–1546) hervorgerufene Reformbewegung zu einer weiteren Spaltung der Einheit der römischen (westlichen) Kirche mit weitreichenden Folgen für ganz Europa. Die Verschlechterung der Lebensverhältnisse im Spätmittelalter kulminiert in teilweise heftigen Konflikten (Bauernaufstände um 1525). Vielfach verstärken sich wirtschaftlich-soziale und religiöse Konflikte, die wiederum von den Mächtigen genutzt werden, ihren Machteinfluss auszuweiten. Mit der aufblühenden Geldwirtschaft differenziert sich in den Städten ein „Geldadel“ (Kaufleute, Handwerker, Bankiers, Produzenten) aus, dessen Wirtschaften verstärkt der „Profitmaximierung“ dient. Dadurch werden die ständisch-feudalen Ordnungen in den Städten weiter aufgelöst. Mit der zurückgehenden Naturalwirtschaft verarmen Teile des Adels. Die Grundherren versuchen, ihren wirtschaftlichen und damit politischen Abstieg durch die Ausbildung neuer Grundherrschaftsformen (Absinken der Hörigen zu Leibeigenen; Ausweitung der Abgaben) zu kompensieren. Die Bevölkerung flüchtet in großen Massen vom Land in die Städte („Stadtluft macht frei“). In den Städten bildet sich ein frühes Proletariat (handwerkliche Lohnarbeiter), das in Armenvierteln in Elend und Not lebt; vielen bleibt das Betteln als einzige Einnahmequelle. Die Stadtverwaltungen entwickeln (Bettler-)Ordnungen, um der „Bettlerplage“ Herr zu werden.

Das 15. und 16. Jahrhundert ist – gerade auch im Selbstbewusstsein der Menschen – die Zeit der „Renaissance“ und des Humanismus. Vor allem in den Städten Oberitaliens und Flanderns ist dieser „Zeitgeist“ besonders ausgeprägt. Charakteristisch ist die „Entdeckung der Welt und des Menschen“ (Jakob Burckhardt). Damit verbunden sind eine stärkere Diesseitsorientierung, die starke Züge einer Säkularisierung zeigt, und die Förderung der analytischen wissenschaftlichen Betrachtung. Sie zeigen sich beispielsweise im Realismus und in der Zentralperspektive der bildenden Kunst der Renaissance oder in der biblischen Textkritik. Die Entwicklungen in der Kunst und Philosophie erfolgen durch vielfache Rückbesinnung auf antike griechische Traditionen, was wiederum eng mit der Vertreibung griechischer Gelehrter aus Konstantinopel verbunden ist. Der Buchdruck ermöglicht eine schnelle Verbreitung der humanistischen Denkansätze, etwa ihres Bildungsideals des „homo liberalis“, des ganz dem Wahren, Schönen und Guten dienenden und deswegen freien Menschen. Die Grundlage dieses Denkens und der Hintergrund dieser kulturellen Blüte ist wirtschaftliches Wachstum. Mit dem Erstarken der Städte und ihrer Wirtschaftskraft – in Florenz und in Flandern ist dies zum Beispiel das Textilgewerbe – erhalten diese Gemeinwesen eine neue soziale und wirtschaftliche Verfassung. Das städtische Bürgertum entfaltet mit frühkapitalistischen Produktions- und Distributionsformen eine starke Handelsmacht und emanzipiert sich auch politisch. Es betätigt sich nicht nur als Förderer der Kunst und Philosophie, sondern entfaltet mit seinem besonderen Leistungs- und Wirtschaftsethos (sparsame, kalkulierende, ökonomische Lebensführung) eine Rationalisierung und analytische Betrachtung (Statistik, doppelte Buchführung), die weit über die ökonomischen Betätigungen hinausreichen. Wir finden die ersten Anzeichen für Nationalstaaten, die den absolutistisch regierenden fürstlichen Monarchen und den „Volksstaaten“ als Herrschaftslegitimation dienen. In Staatstheorien (Niccoló Machiavelli 1469–1527) wird der Aufbau des modernen Staatensystems (z. B. Einsatz von Diplomatie, Rationalisierung der Verwaltung) theoretisch begründet. In der Wissenschaft dominieren noch die Werke von Aristoteles und der kirchlichen (scholastischen) Ausleger, doch die Lehren dieser „Väter“ gelten nicht mehr als unanfechtbar. Mit neuen Lehrmeinungen werden Aristoteles und die kirchlichen Lehrer kritisiert, auf theologische Begründungen wird oft verzichtet. Mit der stärkeren Orientierung an der Wirklichkeit gewinnen die Naturwissenschaften an Zuspruch. Einer ihrer profiliertesten Vertreter ist der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561–1626), der mit der induktiven Methode (Gewinnung von allgemeinen Sätzen aus Einzelerfahrungen/Falsifikationsprinzip) neue Wege der Erkenntnisgewinnung einfordert.

In Spanien, wo Vives bis zu seinem 17. Lebensjahr lebt, werden 1492 die letzten (seit dem 8. Jahrhundert errichteten) staatlichen Strukturen der Muslime (Mauren) beseitigt. Anders als im restlichen Europa sind die Gesellschaft und der staatliche Aufbau nicht feudal strukturiert. Das Zusammenleben der führenden Muslime (Mauren, Araber), der meist christlich-hispanorömischen Bevölkerung und der Juden ist von weitgehender religiöser Toleranz geprägt und auf den Ausgleich sozialer Spannungen bedacht. Die muslimische Verwaltung ist effektiv, Landwirtschaft und Gewerbe blühen, die Kunst wird ebenso gefördert wie die Wissenschaft, die vor allem in der Astronomie und Medizin das griechisch-hellenistische Denken aufgreift und weiterentwickelt. Mit dem Zusammenschluss der Königreiche Kastilien und Aragon wird Spanien politisch geeinigt und die Krone erstarkt. Die innere politische Einheit wird durch die religiöse erzwungen, und dem Glaubenszwang fallen vor allem Juden zum Opfer, wenn sie sich nicht durch Konversion zur Kirche oder durch Flucht entziehen können.

Flandern (südliche Niederlande, nordwestliches Belgien) mit seinen Städten Brügge und Gent entwickelt sich bereits ab dem Hochmittelalter zu einem Zentrum der europäischen Wirtschaft und des Welthandels. Die Grundlagen dieser Wirtschaftskraft bilden die Tuchherstellung, der Handel, die Seehäfen und schiffbare Flüsse. 1384/85 wird das Land Teil des Herzogtums Burgund und erfährt bis 1477, als die Habsburger das Erbe der Burgunder Herzöge antreten, den größten wirtschaftlichen Aufschwung, der ein Aufblühen der Kultur (Stadt- und Bürgerkultur, Demokratisierung) zur Folge hat. Vives, der sich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens überwiegend in Flandern aufhält, erlebt bereits die Anfänge des beginnenden Niedergangs dieser Region, den die Habsburger mit der Zentralisierung der Verwaltung, der Schmälerung ständischer Freiheiten und der Unterdrückung der Reformation befördern und der zahlreiche Arbeitslose und BettlerInnen in den Städten zur Folge hat (vgl. Sachße/Tennstedt 1980, 23–84).

2.2 Biografischer Kontext

Juan Luis Vives wird 1492 in Valencia (Spanien) als Kind angesehener, aber armer spanischer Adliger geboren (vgl. Edelbluth 1912, 5–14; Deuringer 1966; Scherpner 1974, 78–109, 214–219; Zeller 2006). Kurz vor seiner Geburt schließen sich seine jüdischen Eltern mit ihrer Familie der katholischen Kirche an. Mit dem Vorwurf, auch nach der Taufe noch jüdische Bräuche praktiziert zu haben, werden beide Eltern später von der Inquisition verurteilt und vermutlich hingerichtet. Vives selbst bleibt trotz dieser schlimmen Erlebnisse und vieler eigener kritischer Einwände gegen die Kirche und ihre Lehre während seines ganzen Lebens Mitglied der katholischen Kirche und lehnt die lutherische Bewegung ab. Nachdem Vives zunächst in Valencia Latein und Griechisch studiert hat, wechselt er im Alter von 17 Jahren an die Pariser Universität (1509) und setzt dort sein Studium in Philologie, Philosophie und Theologie fort. Er ist zunächst eifriger Anhänger und Verfechter der Scholastik, attackiert diese aber später genauso entschieden. Im Jahre 1512 zieht Vives nach Brügge, studiert dort weiter und unterrichtet Kinder aus einflussreichen Familien. Brügge in Flandern (heute Belgien) ist damals ein Zentrum jüdisch-spanischer Kaufleute, die wegen ihrer Verfolgung Spanien verlassen mussten. Dort heiratet Vives auch seine spanische Frau. Von 1521 an lehrt Vives Latein an der neuen Universität in Löwen (Belgien) und freundet sich mit führenden europäischen Humanisten an. Vor allem der Einfluss des Erasmus von Rotterdam (1466 [bzw. je nach Quelle 1467, 1469] bis 1536) führt ihn zum Humanismus. Als Erasmus 1523 nach Basel übersiedelt, nimmt Vives auf Vermittlung von Thomas Morus einen Lehrauftrag für klassische Sprachen und Recht in Oxford (England) an. Angesichts der vielen Bettler in Brügge schreibt Vives 1525 seine Schrift „De subventione pauperum“ (Über die Unterstützung der Armen) und widmet sie dem Magistrat der Stadt Brügge. Bis 1528 verbringt Vives jährlich mehrere Monate in England, teils als Hauslehrer am königlichen Hof in London, teils als Lehrer an der Universität in Oxford. Mit seinem gründlichen und breiten Wissen umfasst er die Wissensbereiche seiner Zeit. Er verfasst zahlreiche theologische, philosophische, philologische, pädagogische und sozial-kritische Abhandlungen. Am bekanntesten ist sein Werk „De disciplinis“ (Über die Wissenschaften), das 1531 entsteht. Er ist anerkannt und hat ein gutes Einkommen. Wegen seines Widerstandes gegen die Ehescheidungsaffären Heinrichs VIII. wird Vives jedoch in England vom König verhaftet. Der König nimmt ihm die Hauslehrerstelle und auch die Stellung in Oxford und damit zugleich sein festes Einkommen. Als armer und verbitterter Mann kehrt Vives nach Brügge zurück und lebt dort bis zu seinem Tod. Wirtschaftliche Not und eine zerrüttete Gesundheit belasten ihn und seine Familie. Seinen Lebensunterhalt erwirbt er durch Unterrichten und Schreiben. Seine Vorliebe gilt der Pädagogik. Isoliert stirbt Vives – gerade 48 Jahre alt – 1540 in Brügge.

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