Kitabı oku: «Theorien der Sozialen Arbeit», sayfa 6
2.7 Literaturempfehlungen
Hans Scherpner hat eine umfangreiche Aufbereitung der Subventionstheorie von Vives – mit vielen Auszügen aus dem lateinischen Originaltext – unter dem Titel „Armenpflegetheorie“ in seiner „Theorie der Fürsorge“ vorgelegt (vgl. Scherpner 1974, 78–109). Bislang lag das für die Soziale Arbeit wichtigste Werk von Vives „De subventione pauperum“ nur in einer lateinischen Fassung mit einer Einführung in italienischer Sprache vor (Vives 1973). Es ist das Verdienst von Susanne Zeller, dass die für die Soziale Arbeit wichtigste Schrift „De subventione pauperum“ nun nicht nur in lateinischer Sprache, sondern auch in einer deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1924 vorliegt (vgl. Zeller 2006, 263–319). Eine neuere Übersetzung ins Deutsche ist nicht bekannt. Zum besseren Verständnis der Theorie von Vives tragen sowohl Zellers Ausführungen zur Biografie als auch zur Rezeptions- und Textgeschichte des Werkes bei.
In deutscher Sprache liegen außerdem Vives’ „Ausgewählte Schriften“, aus dem Lateinischen übersetzt und mit einer einleitenden Abhandlung über Vives’ Leben und Werk versehen, vor (Vives 1881; 1912). In diesen Schriften befasst Vives sich mit Fragen der Theologie, Philosophie, Wissenschaft und allgemein mit Pädagogik.
3 Zur reinen Natur zurück Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)
„Obwohl in manchen Gedanken nicht originell, ist Rousseau als Verkünder des Evangeliums der Freiheit, der Natur und des Herzens, der Menschenrechte und der Menschenwürde eine der großen, bewegenden Gestalten in der Geschichte des europäischen Geistes“ (Albert Reble 1981, 145).
3.1 Historischer Kontext
Das Leben von Jean-Jacques Rousseau deckt sich fast mit der Regentschaft Ludwigs XV. (1715–1774). Unter dessen Vorgänger Ludwig XIV. erreicht der zielgerichtete Aufbau der absolutistischen Macht seinen Höhepunkt. Nach außen sind die Grenzen abgesichert, neue Territorien werden unmittelbar oder als Kolonien dem Staatsgebiet einverleibt, ein intaktes Heer sichert auch nach innen die staatliche Autorität und Ordnung, die Wirtschaft wird staatlich gefördert (Merkantilismus), ebenso Wissenschaft und Kultur. Die französische Hofhaltung wird zum Vorbild in ganz Europa. Der Verstaatungsprozess erfährt im 16. Jahrhundert in Frankreich einen ersten modellhaften Durchbruch: Aufbau eines organisierten Staatsapparates, Errichtung von Zentralverwaltungsbehörden mit einer Beamtenschaft, Etablierung des Militärwesens mit stehendem Heer, Ausgestaltung eines (Staats-) Wirtschaftssystems, Aufbau des Justizwesens sowie Aufrichtung eines Staatskirchensystems. Doch die Eroberungskriege lassen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Staatsschulden anwachsen, das Land ist erschöpft, militärische Niederlagen sind die Folge, der Seehandel bricht zusammen, die inneren Auseinandersetzungen wachsen. Das absolutistische System erweist sich als reformunfähig und den neuen geistigen und sozialen Herausforderungen nicht gewachsen. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts übernimmt England, der Kontrahent Frankreichs, die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft in der Welt. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik der absolutistischen Herrscher lässt zwar das Handwerk und die – in ersten Ansätzen vorzufindende – industrielle Produktion aufblühen. Doch noch immer bilden Grund und Boden die Hauptquelle für den Reichtum und den Wohlstand der wenigen Adligen, die darüber verfügen. Die Bauernfamilien machen etwa zwei Drittel der Bevölkerung aus. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung verfügt über kein eigenes Land, arbeitet (z.T. als Leibeigene) für die Großgrundbesitzer und ist arm. Die veraltete Feudalordnung des „Ancien Régime“ löst zunehmend in allen Ständen Unzufriedenheit und soziale Spannungen aus, zumal die Aristokraten zumeist einen sehr aufwendigen Lebensstil (Barock) vorführen und über eine Vielzahl von Privilegien verfügen, die zu Lasten der übrigen Bevölkerung gehen. Trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen im 17. und 18. Jahrhundert wächst in Frankreich wie in den anderen Ländern die Bevölkerung, auch die Zahl der Städte nimmt zu.
Als Barock bezeichnet die Kunstgeschichte den bis Mitte des 18. Jahrhunderts gerade auch in Frankreich sich ausbildenden Stil in der Kunst, in der Literatur und in der Musik. Der Hang zur Übersteigerung und zu kühner Bildhaftigkeit, die Betonung von Kraft und Dynamik, das reiche, symbolträchtige Schmuckwerk, die Spannung von Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit, Diesseitsfreude und Jenseitssehnsucht, inbrünstigem Weltgenuss und höfischer Zucht sind einige der Kennzeichen des Kunst- und Lebensstils der Gegenreformation und des Absolutismus. Er wird im 18. Jahrhundert von der Aufklärung abgelöst. Auch hier spielt Frankreich neben England und Deutschland eine zentrale Rolle. Ihr Kennzeichen ist das Bewusstsein zunächst von wenigen einzelnen Protagonisten, dass die menschliche Vernunft das Wesen des Menschen ausmacht und daher den allgemeingültigen Wertmaßstab für alle menschlichen Tätigkeiten und Lebensverhältnisse in sich enthält. Deshalb lassen sich daraus auch Grundsätze für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens und die Kultur ableiten. Die Aufklärung durchwirkt als machtvolle Geistesbewegung fast alle kulturellen Bereiche: die Geschichtsauffassung (Fortschrittsglaube), das Rechts- und Staatsleben und die Verfassungslehre (Naturrecht, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Staatsaufbau auf der Grundlage von Vereinbarungen), das Erziehungswesen (Erziehung zu naturgemäßer, von der Vernunft bestimmter sittlicher Lebensweise, Erziehungsanspruch für alle Schichten), die Theologie und Religion (Kampf gegen dogmatische und kirchliche Bevormundung, Säkularisation, Wissenschaftsgläubigkeit) und die Philosophie (Rationalismus, Empirismus). Diese neue Weltanschauung fördert die (Natur-)Wissenschaften (vgl. etwa Isaac Newton), die zahlreiche Entdeckungen machen (Wahrscheinlichkeitsrechnung, Wellentheorie des Lichts, Samenfäden, natürliches System der Lebewesen, Zuckergehalt der Rübe, Wasserstoff, Sauerstoff usw.) und technische Erfindungen hervorbringen (Quecksilberthermometer, Thermometereinteilung, Porzellan, Gussstahl, Eisenwalzwerk, Spinnmaschine, Dampfmaschine usw.). Die Folgen der Verstaatung zeigen sich nicht nur in den wissenschaftlich-technischen Fortschritten und in den Veränderungen des Weltbildes, sondern auch darin, dass die Bürokratie und die Wirtschaftspolitik ein kapitalkräftiges Bürgertum hervorbringen, das heißt, sie verändern die gesellschaftlich-sozialen Strukturen. Auf dieser Grundlage mündet die Besinnung auf die Vernunft bei den Bürgern in eine Kritik an den herrschenden Machtverhältnissen und der geistigen Unfreiheit beziehungsweise in Forderungen nach wirtschaftlicher Liberalisierung, politischer Partizipation, religiöser Toleranz und sozialer Gleichheit. Neben Aufklärern in England (John Locke, David Hume) sind es in Frankreich die Enzyklopädisten (Denis Diderot, François-Marie Voltaire, Charles-Louis Montesquieu, Jean- Jacques Rousseau), die an den herrschenden Zuständen scharfe Kritik üben und damit nachhaltig die öffentliche Meinung beeinflussen. Das wachsende Selbstbewusstsein führt zu zahlreichen Konflikten und Aufständen. Bürger, Bauern, Industriearbeiter und die Armen in Stadt und Land wehren sich zunehmend gegen soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung. Am Ende des Jahrhunderts steht die Französische Revolution (1789).
Genf, wo Rousseau geboren wird und einen Teil seines Lebens verbringt, gehört bereits seit dem Jahre 1526 zur alten Eidgenossenschaft (Schweiz), die sich 1648 von der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich auch formell befreit hat. Sie besteht im 17. Jahrhundert aus 13 Orten (Kantonen), die ihre Angelegenheiten weitgehend selbstständig regeln. Ihre außenpolitische Neutralität resultiert vor allem aus den Verfahrensschwierigkeiten, sich für ein gemeinsames Vorgehen (Außenpolitik) abzustimmen, sowie aus dem Umstand, dass die Eidgenossenschaft konfessionell gespalten ist. Während die Reformation sich im 16. Jahrhundert in der deutschen Schweiz nur teilweise durchsetzen kann, siegt sie in der Westschweiz mit Genf als Zentrum des Calvinismus, in dem von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1798 jeder katholische Gottesdienst untersagt ist. Von 1798 bis 1814 gehört Genf zu Frankreich. Turin, wo sich Rousseau ebenfalls zeitweise aufhält, ist der Mittelpunkt des zum Deutschen Reich gehörenden Herzogtums Savoyen-Piemont. Als Folge des Spanischen Erbfolgekrieges werden dem Herzogtum 1713 große Gebiete (unter anderem das Königreich Sardinien) zugeschlagen. Dies lässt das Herzogtum zu einem wichtigen politischen und kulturellen Faktor in Oberitalien werden.
3.2 Biografischer Kontext
So viele und so intime Details wie über das Leben von Jean-Jacques Rousseau sind kaum über das Leben eines anderen Menschen bekannt (vgl. Rang 1979; Holmsten 1996; Hansmann 2006). Sein Werk ist angefüllt mit schonungslos offenen autobiografischen Aufzeichnungen (z. B. „Die Bekenntnisse“, „Rousseau als Richter über Jean-Jacques“ und „Träumereien des einsamen Spaziergängers“). Rousseau wird 1712 als Sohn eines von Hugenotten abstammenden Uhrmachers und seiner calvinistischen Ehefrau in Genf geboren. Die Mutter stirbt eine Woche nach Rousseaus Geburt. Der Vater kümmert sich intensiv um seinen Sohn, verlässt Genf aber 1724 nach einem Streit mit Mitbürgern und übergibt seinen Sohn Jean-Jacques einem Onkel zur Erziehung. Dieser reicht den Pflegling weiter an einen Pfarrer. Rousseau wird zunächst Lehrling bei einem Gerichtsschreiber, dann bei einem Graveur. Im Alter von 16 Jahren reißt er aus und wandert nach Turin. Dort tritt er zum katholischen Glauben über und lebt als Lakai in Turiner Adelshäusern. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Priesterseminar und einer Lehre als Musikschüler vagabundiert er als Landstreicher, Musiklehrer und Musikant durch die Schweiz und Frankreich. Durch autodidaktische Studien verschafft Rousseau sich sehr gute Literatur- und Musikkenntnisse. 1741 siedelt er nach Paris über und nimmt Stellungen als Hauslehrer und Privatsekretär an. Aus der Verbindung mit Thérèse Levasseur wird 1746 sein erster Sohn geboren. Dieses Kind und vier weitere Kinder aus dieser Lebensgemeinschaft, die er erst kurz vor seinem Tod legalisieren lässt, werden gleich nach der Geburt dem Findelhaus übergeben. Damit verhält Rousseau sich so wie viele Eltern seiner Zeit. Ständige finanzielle Notlagen und zahlreiche Erkrankungen (so plagt ihn ein chronisches Blasenleiden) prägen seinen Alltag. Durch die Veröffentlichung des „Discours sur les sciences et les arts“ (Diskurs über die Wissenschaften und die Künste), einer äußerst kritischen Abhandlung im Jahre 1750, wird Rousseau berühmt. In dieser Zeit kehrt er zum Calvinismus zurück. Weil Rousseau mit seinen politischen Auffassungen in schroffem Gegensatz zum „Ancien Régime“ steht, wird er angeklagt, verurteilt und polizeilich verfolgt. Gezwungenermaßen wechselt er häufig seine Aufenthaltsorte; reiche Gönnerinnen beherbergen und unterstützen den Flüchtenden. In großen Notzeiten verdient er seinen Lebensunterhalt als Notenkopist. Trotz dieser widrigen Lebensverhältnisse ist er sehr kreativ und produktiv; zahlreiche literarische und musikalische Werke entstehen. 1762 erscheinen seine beiden berühmtesten Werke:
„Émile ou de l’éducation“ (Émile oder über die Erziehung) und „Du contrat social“ (Der Gesellschaftsvertrag). Die meisten seiner Werke bringen ihm vor allem neue Gegner; einer davon ist Voltaire. In der gemeinsamen Heimatstadt Genf werden Rousseaus Bücher verbrannt. Rousseau zieht sich seit 1772 immer mehr zurück; er wird zunehmend einsam, und schließlich isoliert ihn ein Verfolgungswahn vollends. 1778 stirbt er plötzlich. Zwölf Jahre nach seinem Tod wird er im Pariser Panthéon, dem Ehrentempel bedeutender Franzosen, beigesetzt.
3.3 Forschungsgegenstand und -interesse
Das Leben und das Werk Rousseaus sind spannungsreich und voll konträrer Neigungen und Interessen: auf der einen Seite die Begeisterung für die patriotische Tugend und das Interesse für politische Probleme, auf der anderen Seite die Empfindsamkeit und der Hang zu einsamer Träumerei (vgl. Rang 1979, 117). Aus der Fülle der Fragen, die Rousseau bewegen, nennen wir nur einige wenige: Wie kommt es, dass ein Volk ein Volk ist? Was lässt politische und rechtliche Ungleichheit entstehen, und was lässt sie beseitigen? Was legitimiert das Handeln des Staates? Was ist die Natur des Menschen in seiner konkreten und freien Existenz? Wie sind Menschen oder Bürger zu erziehen? Wie sind Individuum und Gesellschaft miteinander verbunden? Was sind die Bedingungen und Strukturen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit der Menschen? Wie findet man eine Gesellschaftsform, die mit der ganzen Kraft aller die Person und den Besitz jedes Gesellschaftsgliedes verteidigt und schützt und kraft deren jeder Einzelne, obwohl er sich mit allen vereint, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?
Eine von der Dijoner Akademie ausgeschriebene Preisfrage hat bei Rousseau eine Inspiration ausgelöst, die er wie folgt beschreibt:
„Mit einem Schlage fühlte ich meinen Geist durch tausend Lichter geblendet, zahllose lebensvolle Ideen strömten auf mich ein, mit einer Kraft und Fülle, die mich in unaussprechliche Verwirrung brachte. … hätte ich damals den vierten Teil dessen niederschreiben können, was ich unter dem Baum empfand, mit welcher Klarheit hätte ich dann die Widersprüche der gesellschaftlichen Ordnung darlegen können, mit welcher Geradlinigkeit hätte ich bewiesen, dass der Mensch von Natur aus gut ist und dass die Menschen allein durch unsere Einrichtungen böse werden. Das Wenige, was ich von der Fülle der großen Wahrheiten festhalten konnte, die mich in jener Viertelstunde unter dem Baum erleuchteten, findet sich in abgeschwächter Form zerstreut in meinen Hauptschriften. Auf diese Art bin ich, ohne daran zu denken, fast wider meinen Willen zum Schriftsteller geworden“ (Rousseau, zit. nach Holmsten 1996, 64).
3.4 Wissenschaftsverständnis
Die Akademie von Dijon schreibt 1750 die Preisfrage aus: „Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und der Künste zur Verfeinerung der Sitten beigetragen?“ Rousseau antwortet in seiner Schrift „Diskurs über die Wissenschaften und die Künste“ mit einer eindringlichen Verurteilung der Vernunft, der Wissenschaften und der Künste. Mit Beispielen aus der Geschichte versucht Rousseau zu beweisen, dass zunehmende Zivilisation und Gelehrsamkeit stets zu Lasterhaftigkeit und Ungleichheit unter den ursprünglich natürlichen und tugendhaften Menschen geführt haben. Die Blüte der griechischen Wissenschaften und der Künste habe in Athen mit einem Sittenzerfall geendet; fortschreitendes Wissen und Aufklärung hätten Argwohn, Hass und Verrat mit sich gebracht. Die Triebfeder der wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit ist in den Augen von Rousseau eitle Neugier, deren Befriedigung sich nur Müßiggänger, also die Privilegierten, erlauben könnten. „Luxus, Zügellosigkeit und Knechtschaft“, so behauptet Rousseau,
„sind zu allen Zeiten die Strafe für die hochmütigen Anstrengungen gewesen, die wir gemacht haben, um aus der glücklichen Unwissenheit herauszugelangen, in die uns die göttliche Weisheit versetzt hatte. … Die Wissenschaften sind unnütz durch das, was sie erstreben, und noch viel gefährlicher durch die Wirkungen, die sie hervorbringen. Im Müssiggang entstanden, fördern sie diesen ihrerseits“ (Rousseau, zit. nach Holmsten 1996, 66).
Rousseau beschließt seinen Traktat mit einem Hymnus auf die Tugend (vertu) des einfachen, unverbildeten Menschen. Um die Tugend als erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen kennenzulernen, bedürfe es nicht vieler Mühen. Man finde ihre Grundlagen in allen Herzen eingegraben. Es genüge, in sich zu gehen und die Stimme des Gewissens zu hören, wenn die Leidenschaften schweigen. Rousseau behauptet auch später noch,
„dass die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk ist und dass wir sie beinahe vermieden hätten, wenn wir die einfache, gleichförmige und solitäre Lebensweise beibehalten hätten, die uns von der Natur vorgeschrieben wurde. Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, dass der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist und dass der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist“ (Rousseau 1990, 89).
3.5 Theorie
Die Akademie von Dijon stellt – angeregt durch Rousseaus ersten Diskurs – 1753 eine weitere Preisfrage: „Welches ist der Grund der ungleichen Bedingungen unter den Menschen, und sind diese durch das Naturgesetz gerechtfertigt?“ Hierauf antwortet Rousseau 1755 erneut mit einer – nun nicht mehr ausgezeichneten – Abhandlung, dem „Discours sur l’inégalité“ (Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen). Zur Begründung der Ungleichheit greift Rousseau auf Vorstellungen aus der Ideengeschichte der Menschheit über einen Urzustand der Menschheit, ein Paradies oder ein „goldenes“ Zeitalter, und über einen Urvertrag, einem Gesellschaftsvertrag aller Menschen, zurück; insbesondere verarbeitet er dabei Überlegungen des englischen Empiristen und Staatstheoretikers John Locke (1632–1704). Rousseau unterscheidet zwei Arten von menschlicher Ungleichheit:
•„ … die eine, die ich natürlich oder physisch nenne, weil sie durch die Natur begründet wird, und die im Unterschied der Lebensalter, der Gesundheit, der Kräfte des Körpers und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele besteht …;“
•„ … und die andere, die man moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert wird. Die letztere besteht in den unterschiedlichen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen – wie reicher, geehrter, mächtiger als sie zu sein oder sich sogar Gehorsam bei ihnen zu verschaffen“ (Rousseau 1990, 67).
Rousseau geht dem Ursprung der zweiten Art von Ungleichheit nach. Für seine Untersuchung lässt er ausdrücklich alle geschichtlichen Tatsachen beiseite, denn sie berühren seiner Meinung nach diese Frage nicht. Vielmehr nimmt er einen ursprünglichen Naturzustand des Menschen an, um daraus hypothetische und bedingungsweise geltende Schlussfolgerungen abzuleiten und die Natur der Dinge zu erhellen. In der reinen Natur, die niemals lügt, glaubt Rousseau die Geschichte des Menschen zu erkennen. Alles, was von ihr kommt, ist wahr. Und darum ist die Natur die Quelle der Erkenntnis. Rousseau ist sich bewusst, dass der von ihm angenommene vorgesellschaftliche Naturzustand nicht wirklich existiert hat. Trotzdem sei es notwendig, einen klaren Begriff von ihm zu haben, um von diesem natürlichen Zustand aus über unseren gegenwärtigen Zustand urteilen zu können.
(1) Die „Natur der Dinge“: Den ursprünglichen Menschen sieht Rousseau wie ein Tier, das weniger stark als die einen, weniger flink als die anderen, aber alles in allem genommen am vorteilhaftesten von allen organisiert war. Freiheit – nicht Vernunft – macht den Menschen aus und unterscheidet ihn vom Tier. Dieser natürliche Mensch lebte selbstgenügsam, friedlich und glücklich, zumeist als Einzelgänger mit einer losen Bindung an eine Familie. Gesetze waren für das Zusammenleben nicht nötig, da jeder Mensch der natürlichen Ordnung folgte, sich ganz auf sein Gefühl verlassen konnte und von der Liebe zu sich selbst (amour de soi) geleitet wurde, die auch immer das Wohl der anderen im Auge hatte.
Der ursprüngliche Mensch lebte aus sich selbst. Der gegenwärtige Mensch lebt nach Rousseau hingegen stets außerhalb seines Selbst, kennt kein anderes Leben mehr als das in der Meinung anderer. Und nur noch aus dem Urteil der anderen gewinnt er das Gefühl seiner eigenen Existenz. Die Unterscheidung in eigenen und fremden Besitz war im Urzustand unbekannt. Zunächst entwickelten sich kleine, primitive gesellschaftliche Ordnungen, die weiterhin Freiheit und Gleichheit für alle garantierten. Erst mit dem Sesshaftwerden wurde Eigentum gebildet, und dadurch kam es zu Ungleichheiten:
„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte:
‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‘“ (a. a. O., 173).
Mit der Bildung von Eigentum schlug für Rousseau die ursprüngliche Selbstliebe in Selbstsucht (amour propre) um. Es entstand ein zügelloser Kampf um Besitz, Macht und Recht. Dieser Kampf wurde mit allen nur erdenklichen Mitteln geführt. Es ist nun einmal so, so stellt Rousseau fest, dass wir beim Schaden unserer Nächsten unseren Vorteil finden; der Verlust des einen ist fast immer das Glück des anderen. Die Menschen sind nach Rousseau böse geworden, obgleich sie von Natur aus gut sind. Nach der Erkenntnis von Rousseau hat das Leben in Gesellschaft, Erziehung, Kultur und Wissenschaften alles das bewirkt.
Die Reichen verbündeten sich sodann gegen die Armen und schufen Gesetze, um durch sie ihren Besitz und ihre Privilegien zu schützen. Die natürliche Freiheit und Gleichheit der Menschen wurden auf diese Weise gesetzlich beseitigt. Den Schwachen wurden durch die Rechtsprechung neue Fesseln angelegt. Die Reichen haben sich neue Möglichkeiten eröffnet, die Ungleichheit zu ihren Gunsten festzuschreiben. Die zunächst gesetzlich begründete Herrschaft wurde schließlich sogar – ohne Widerstand der Armen – in eine willkürliche gewandelt. Nach Rousseau verstößt es aber gegen das Gesetz der Natur, dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt. Die Entstehung von Privateigentum war das erste Unheil: Sie schuf Reiche und Arme. Die Einsetzung einer Regierung war das zweite Unheil: Sie schuf Herrschende und Beherrschte. Die Ausartung der Macht in Willkür war das dritte Unheil: Sie schuf Herren und Sklaven (vgl. Störig 1989, 376).
Rousseau schlägt als Ergebnis seiner Betrachtung beziehungsweise Analyse der „Natur der Dinge“ zwei Wege vor, um die Freiheit und Gleichheit aller Menschen wiederherzustellen: ein Erziehungsideal und eine Gesellschaftstheorie. Beide Wege gehören für Rousseau zusammen, ergänzen sich und stellen ein Ganzes dar.
(2) Der erste Weg zur Natur zurück: die Erziehung des einzelnen Menschen: Um die Gesellschaft von Grund auf zu sanieren, ist eine rechte, das heißt eine natürliche Erziehung der Menschen notwendig. In seinem fünf Bücher umfassenden pädagogisch-psychologischen Roman „Émile oder über die Erziehung“ von 1762 fordert Rousseau, dass die „natürliche Erziehung“ des Kindes anstelle der nur schädlichen herkömmlichen Erziehungsmethoden treten soll. Denn in der falschen Erziehung wurzele letztlich die Verkommenheit der Gesellschaft. Die erste Erziehung ist nach Rousseau die unbestreitbare Sache der Frauen; sie sind vom Schöpfer der Natur dafür ausersehen und sorgen sich mehr darum als die Männer.
„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen der Menschen“ (Rousseau 1981, 9). Mit dieser Feststellung beginnt Rousseau sein Erziehungsbuch. Ein von Geburt an mitten unter den anderen Menschen sich selbst überlassener Mensch würde das entstellteste von allen Lebewesen sein, denn
„Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Wege steht und verkommt, weil ihn die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen“ (a. a. O.).
Rousseau beschreibt sein Erziehungsideal am Beispiel von Émile, einem Waisenkind aus dem Stand der Reichen. Émile braucht weder Vater noch Mutter. Der Erzieher hat ihre Pflichten übernommen, und so tritt er auch ihre Rechte an. Émile soll seine Eltern ehren, aber nur dem Erzieher soll er gehorchen und eine enge Bindung mit ihm eingehen. Dieses ist die erste und einzige Bedingung für die Erziehung.
Rousseau wählt den Sohn reicher Eltern, weil der Arme nach Rousseau keine Erziehung braucht:
„Zwangsläufig hat er die seines Standes, und eine andere könnte er nicht haben. Der Reiche hingegen erhält schon durch seinen Stand eine Erziehung, die ihm für sich selbst und für die Gesellschaft am wenigsten nützt. Die natürliche Erziehung soll aber für alle Lebensumstände tauglich machen. … Wählen wir also einen reichen Zögling, dann können wir sicher sein, einen Menschen mehr erzogen zu haben, während der Arme aus sich selbst Mensch werden kann“ (a. a. O., 27).
Am Anfang der Erziehung steht nach Rousseau ein genaues Studium der kindlichen Wesensart. Die besten Lehrmeister des Kindes sind sein Instinkt, die ersten Eindrücke und Gefühle sowie die frühesten spontanen Schlussfolgerungen, mit denen das Kind auf die Natur reagiert. Diese instinktiven Reaktionen und Gefühle des Kindes sind zu beobachten, zu fördern und zu entwickeln, keinesfalls zu verbieten und abzugewöhnen, wie es die traditionelle Erziehung tut.
Seine Art der Erziehung nennt Rousseau „negative Erziehung“. Die „negative Erziehung“ vermittelt nach Rousseau – im Gegensatz zur „positiven Erziehung“ – keine Tugenden, sondern schützt gegen das Laster; sie lehrt keine Wahrheiten, sondern bewahrt vor Irrtümern; sie entwickelt in dem Kind die Fähigkeit, der Wahrheit und dem Guten zu folgen, sobald der Verstand in der Lage ist, beide zu erkennen und zu lieben. Der Erzieher schirmt das Kind gegen schädliche Einflüsse aus seiner Umgebung ab und hat für ein gesundes Umfeld zu sorgen, in dem das Kind sich auch körperlich gesund entwickeln kann. Das Kind soll selbst an Erfahrungen lernen, seine Unabhängigkeit behalten und an den Dingen selbst lernen. Erziehung soll nach Rousseau die Organe des Erkennens vervollkommnen und den Weg zur Vernunft durch eine richtige Übung der Sinne ebnen. Rousseau ermahnt den Erzieher, die Worte „Gehorsam“, „Pflicht“ und „Schuldigkeit“ aus dem Wörterbuch des Kindes zu streichen. So mag es gelingen, bei den Menschen Bewusstsein und Verantwortung für die Gemeinschaft, ein soziales Gewissen und die Bereitschaft, sich in die Gemeinschaft einzuordnen, zu erreichen.
Die Erziehung hat sich der natürlichen kindlichen Entwicklung anzupassen. Rousseau unterscheidet vier Stufen der natürlichen Entwicklung:
(a) das Kindesalter, das durch die egozentrische Haltung bestimmt ist,
(b) das Knabenalter, in dem sich das sachliche Interesse bildet,
(c) das frühe Jugendalter, in dem die Religiosität, das Gefühlsleben und der moralische Sinn sich bilden,
(d) das späte Jugendalter, in dem das Erlebnis der Liebe in den Mittelpunkt rückt (vgl. Rang 1979, 131).
Schließlich gehört für Rousseau zur Sicherung der individuellen Existenz, der Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen auch das Erlernen eines Handwerks, weil der Handwerker nach Rousseaus Meinung freier als ein Bauer ist. Als Erstlektüre – mit dem Ziel, ein Vorbild der Erziehung zu vermitteln – empfiehlt Rousseau Daniel Defoes Roman „The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe“ aus dem Jahre 1719, in dem das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe beschrieben werden, eines Seemanns aus York, der 28 Jahre ganz allein auf einer von weißen Menschen unbewohnten Insel vor der amerikanischen Küste lebte, wohin er nach einem Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung außer ihm selbst ums Leben kam, verschlagen worden war.
Die farbigen Bewohner der Insel sind für Defoe – entsprechend und typisch für die Blütezeit des Kolonialismus im damaligen Frankreich und England – „Wilde“ und „Kannibalen“, also im Grunde keine (gleichwertigen) Menschen, und der einzige Farbige, der Robinson nahe kommen darf, wird sein Diener.
(3) Der zweite Weg zur Natur zurück: der gemeinsame Gesellschaftsvertrag: Rousseau beginnt im Jahre 1762 seine politisch-staatsphilosophische Schrift über den Staatsvertrag provokativ:
„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Manch einer glaubt, Herr über die anderen zu sein, und ist ein größerer Sklave als sie. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann sie rechtmäßig machen? Ich glaube, dass ich dieses Problem lösen kann. … Die Gesellschaftsordnung ist ein heiliges Recht, das die Grundlage für alle übrigen Rechte ist. Diese Ordnung entspringt aber nicht der Natur. Sie ist durch Vereinbarungen begründet“ (Rousseau 1995, 61).
Für Rousseau ist die Familie die älteste und einzig natürliche Gesellschaft; wenn die Kinder ihren Vater nicht mehr zur Erhaltung brauchen und beide unabhängig voneinander werden, dann gründet auch die Familie nur noch auf Vereinbarungen zwischen den Mitgliedern. Die Familie ist für Rousseau das erste Muster der politischen Gesellschaft; daraus leitet er seine Idee von der Gesellschaft ab.
Alles seiner Meinung nach Unwesentliche weglassend, führt Rousseau den Gesellschaftsvertrag auf folgende Grundsätze zurück:
„Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft (puissance) der höchsten Leitung des Gemeinwillens (volonté générale), und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen. Im gleichen Augenblick entsteht aus dieser Vergesellschaftung, anstelle des einzelnen Vertragspartners, ein Moral- und Kollektivkörper, der aus so vielen Mitgliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat; aus diesem Akt hat er seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen“ (a. a. O., 74).