Kitabı oku: «Die Ernährungs-Zahnbürste», sayfa 2
CHRISTIAN TENNERT
Ich selbst probierte über längere Zeit, meist Monate bis Jahre, verschiedene Ernährungsformen aus, da es mich stark interessierte, wie es mir mit einer bestimmten Ernährungsweise geht – also auch wie fit ich mich fühle, da ich sportlich sehr aktiv bin. Wichtig war mir auch, wie einfach oder schwierig die tägliche Umsetzung ist, wie ist es, wenn ich mal mit Freunden oder Bekannten essen gehe oder eingeladen bin. Mir ging es also nicht nur um die Gesundheit, sondern auch wie sozialkompatibel ich sein kann, wie zeitaufwendig die Zubereitung von Gerichten usw. ist. Das war für mich eine sehr spannende Reise.
Wir entschlossen beide, aus privatem und zahnärztlich-ärztlichem Interesse eine Weiterbildung zum Ernährungsmediziner bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin zu absolvieren und uns intensiv mit dem Einfluss der Ernährung auf den gesamten Körper auseinanderzusetzen. Eine solche Spezialisierung ist für Zahnärzte sehr außergewöhnlich, in Deutschland gibt es nur sehr wenige Zahnärzte, die diesen Weg eingeschlagen haben.
Dieses Buch soll Zahnärzten, Ärzten, Patienten und allen weiteren Interessierten anschaulich darstellen, wie Karies, Gingivitis und Parodontitis entstehen (Kapitel 2) und welche Rolle unsere moderne Ernährung und der Lebensstil bei diesen Erkrankungen spielt (Kapitel 3). Sie werden lernen, wie eine mundgesunde Ernährung gestaltet werden kann, die nicht nur vorbeugend, sondern auch unterstützend zur Therapie beiträgt (Kapitel 4) und wie eine Gesellschaft insgesamt besser mit dem Thema Ernährung und Gesundheit umgehen könnte (Kapitel 5). Und um Ihnen die Umsetzung einer mundgesunden Ernährung zu erleichtern, bekommen Sie eine Anleitung mit leckeren Rezepten und praktischen Tipps (Kapitel 6). Aber kommen wir zuerst noch mal zurück zu unserer anfangs gestellten Frage: Wer hat schon mal einen Affen mit einer Zahnbürste gesehen?
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EINE KLEINE GESCHICHTE DER MUNDERKRANKUNGEN
Betrachten wir unsere nächsten artverwandten Affen in freier Natur, so zeigen diese tatsächlich nahezu keine Karies und weitaus geringere Raten an Parodontitis, als wir es derzeit beim Homo sapiens sehen. Und auch die Funde in Marokko des bis dato ersten Homo sapiens von vor 300.000 Jahren weisen keine Karies und einen normalen Knochenverlauf um die Zähne auf. Und das ohne Mundhygiene und zahnärztliche Versorgung? Wir gehen davon aus, dass in Deutschland unter jungen Erwachsenen die Hälfte eine mittelschwere bis schwere Parodontitis und jeder dritte Zahn bereits Karieserfahrung hat.
Was ist passiert? Wir laden Sie ein zu einer spannenden Reise durch die Geschichte der Munderkrankungen und der Suche nach ihren Ursachen.
Wenn die meisten Menschen der Ansicht sind, dass eine schlechte Mundhygiene für Karies und Zahnfleischbluten verantwortlich ist, dann hat dieser Gedanke natürlich irgendwo seinen Ursprung. Eine der wahrscheinlich ersten Erwähnungen, dass eine »Bearbeitung« des Mundes mit einer Art Zahnpasta zur Prävention von Zahnerkrankungen sinnvoll ist, findet sich im ägyptischen Papyrus Ebers, was auf ca. 1.500 v. u. Z. datiert ist (mit Wissen von vor rund 4.000 Jahren). Und auch im antiken Griechenland widmete sich Hippokrates ca. 350 v. u. Z. dem Thema Mundhygiene. Seine empfohlene Rezeptur würde allerdings zu heutigen Zeiten wohl eher auf Ablehnung stoßen: Man verbrenne einen Hasen und zwei Mäuse, nehme aber vorher bis auf die Leber und die Niere alle Gedärme heraus. Die verkokelten Überreste sollten dann als Zahnpasta für »saubere Zähne und einen süßen Mundgeruch« verwendet werden.1
Dann kam die Zeit des Mittelalters – und da war es, was das Thema Mundhygiene angeht, eher finster. Erst in einem Buch eines unbekannten deutschen Verfassers mit dem Titel »Die Zene Artzney« aus dem Jahr 1530 wurde auf die Mundgesundheit eingegangen und empfohlen, den Mund mit gebranntem Kalk und Essig zu spülen. Der Zahnbelag schien also schuld an allem Übel zu sein. Als sich mit dem Beginn der Renaissance die Wissenschaft und die technischen Möglichkeiten rasant weiterentwickelten, begannen einige Forscher, sich diesen Zahnbelag genauer anzuschauen.
Im Gegensatz zum Homo sapiens hat dieser Affe »nur« eine Ernährungs-Zahnbürste.
Karius und Baktus
Schon lange bevor der Norweger Thorbjörn Egner 1949 in einem Kinderbuch »Karius und Baktus« zum Leben erweckte, wurde Bakterien die Schuld in die Schuhe geschoben. Wie kam es dazu?
Karius und Baktus und ihr Erfinder Thorbjörn Egner.
Es war im Jahr 1683, als der holländische Naturforscher und Weiterentwickler des Mikroskops Antoni van Leeuwenhoek in einem Brief an die Royal Society in London die ersten Bakterien beschrieb. Er machte damals schon die Bemerkung, dass der ganze Mundraum voll von ihnen sei und dass sein Zahnfleisch bei guter Reinigung nicht blute.
Einige Berichte zeigten, dass Zucker und süße Lebensmittel im 16. Jahrhundert sehr rar waren. Es galt sogar als schick, sich in niederen Bevölkerungsschichten die Zähne schwarz zu färben. Denn nur wer vermögend war, konnte sich Zucker und Süßes leisten. Heute gilt dies für weiße Zähne und der Handel mit Zahnaufhellungsprodukten floriert.
Trotz der bakteriellen Erkenntnis waren die folgenden Jahre zahngesundheitsmäßig gesehen eher als mau zu bezeichnen. Einen Tiefpunkt menschlicher Mundgesundheit erreichte dabei der Sonnenkönig Ludwig der XIV. (1638 bis 1715)2. Die königliche Ernährung setzte dem Monarchen so zu, dass so gut wie jeder Zahn kariös wurde. Da das damalige Therapiekonzept seines Hofzahnarztes lediglich die Zange kannte, wurden dem König nach und nach alle Zähne gezogen. Dabei brach der königliche Kiefer und ihn begleitete von nun an eine unangenehm riechende Fistel, aus der ständig eitriges Sekret abfloss. Zudem lief ihm bei Genuss eines Glases Wein derselbige durch den löchrigen Oberkiefer wieder aus der Nase heraus. Wahrscheinlich kein Wunder, dass keine Bilder von einem lächelnden Monarchen angefertigt wurden. Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ludwig als Tischpartner gehabt. Wusste der oberste Mann im Staate denn nicht, was er sich mit seiner Ernährung antat?
Antoni van Leeuwenhoek, der als Erster Bakterien beschrieb.
Was hätten uns wohl unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren zu diesem Thema berichtet? Dass sie Zahnbürsten brauchten? Dass sie Mundgeruch oder Zahnschmerzen hatten? Wahrscheinlich nicht. Wie Sie gleich sehen werden, wurde der Einfluss der Nahrung auf die Zahngesundheit menschheitsgeschichtlich erst relativ spät entdeckt. Zuvor galt die Annahme, dass der Zahnverfall völlig normal sei und er den Menschen nun mal sein Leben lang begleite. Aber wurden nach dieser Entdeckung Gegenmaßnahmen eingeleitet? Sollte etwa auf Zucker verzichten werden? Schauen wir, wie es weitergeht.
Ludwig der XIV. durfte und konnte wahrscheinlich nicht lächeln.
Ein wirklich wissenschaftlicher Durchbruch gelang dem amerikanischen Zahnarzt Willoughby Dayton Miller. Seit 1882 veröffentlichte er mehrere wissenschaftliche Studien, in denen er seine sogenannte chemoparasitäre Theorie darlegte. Miller zufolge verstoffwechselten bestimmte Bakterien in der Mundhöhle Kohlenhydrate zu Säuren, die wiederum die Zahnhartsubstanz auflösten. Seine Beobachtungen erfolgten zu den Zeiten des großen Infektiologen Robert Koch, bei dem Miller auch damals in Berlin Medizin studierte. Robert Koch entdeckte, dass die Tuberkulose durch das Mycobacterium tuberculosis ausgelöst wurde, und stellte infolge seiner Forschungen die sogenannten Koch’schen Postulate auf. Nach diesen muss, grob gesprochen, das Zufügen eines Bakteriums in einen Organismus eine bestimmte Krankheit hervorrufen und die Elimination desselben Keims diese Krankheit wieder beenden, wie es zum Beispiel bei der Tuberkulose der Fall ist. Die Koch’schen Postulate entsprechen heute immer noch den Anforderungen an (Infektions-)Krankheiten und Bakterien.
Miller und seine Zeitgenossen hätten durch die Entdeckung, dass orale Bakterien aus vergärbaren Kohlenhydraten (v. a. Zucker) Säuren produzieren, eigentlich logische Schlüsse ziehen können. Dann hätten sie nicht nur die Bakterien, sondern auch die verstoffwechselbaren Kohlenhydrate kritisch unter die Lupe genommen und sich fragen können: Kann so etwas wie Zucker, das die Zähne kaputt macht, für den Körper überhaupt gut sein? Miller entschied sich für den Weg, die Bakterien weiter als die Schuldigen zu betrachten, und entwickelte mit seinen Kollegen eine desinfizierende Zahnpasta3. Diesem Weg folgen wir heute weitestgehend immer noch: die chemomechanische Desinfektion der Zähne (oder auch Zähneputzen mit Zahnpasta genannt).
Wie ist Millers Weg zu verstehen? Konsumierte er selbst viel Zucker? War die verlockende Süßigkeit in der Gesellschaft zu stark verankert? Was sagten die Ärzte dazu? War Zucker für den Organismus höchst notwendig und von daher Karies nun mal ein begleitendes Übel? Wie auch alle Fragen lauten könnten, dem Zucker war das egal. Er begann durch Kolonialisierung und moderne Landwirtschaft jetzt sogar seinen eigentlichen Siegeszug. Die bereits angelaufene Industrialisierung katapultierte das »weiße Gold« als Massenware in alle gesellschaftliche Schichten.
Die Bakterien am Pranger – oder Robert Kochs Vermächtnis
Die Tatsache, dass Miller seine Theorie im Zeitalter Robert Kochs beschrieb, prägt uns bis heute. So wurden andere Einflüsse, wie die Ernährung oder der Lifestyle, stark in den Hintergrund gedrängt. Denn nach der Logik der Infektionstheorie können prinzipiell drei große Wege eingeschlagen werden: Vermeiden der Infektion, Impfung und anti-infektiöses Vorgehen (wie unter anderem mit Antibiotika). Diese Erkenntnisse haben Millionen von Menschen das Leben gerettet und den damaligen häufigsten Todesursachen, wie zum Beispiel den Durchfallerkrankungen, den Schrecken genommen. Allerdings greifen sie bei den Problemen des 21. Jh. wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und Übergewicht nicht mehr.
Sie finden natürlich alle drei Prinzipien der »infektiösen Betrachtung« auch in der zahnmedizinischen Wissenschaft. So geisterte lange Zeit die Meldung umher, Mütter sollten auf keinen Fall den Schnuller ihres Babys ablutschen, da sie dadurch ihre Bakterien aus dem Speichel auf die Kleinen übertrugen. Impfungen gegen Karieskeime finden sich ebenfalls noch in der wissenschaftlichen Debatte4. Und das anti-infektiöse Vorgehen ist das derzeitige A und O der zahnmedizinischen Prophylaxe: Zähneputzen mit Zahnpasta, Fluoridpräparate in jeglicher Form, Mundspüllösungen, Antiseptika, antibakterielle Peptide, Silberionen, Antibiotika. Und das alles funktioniert sogar – zumindest einigermaßen und eben nur so lang, wie diese antibakteriellen Maßnahmen durchgeführt werden, also notgedrungen ein Leben lang. Es sei denn, es wird auf die Ernährung eingegangen.
Sind Karies und Parodontitis wirklich Infektionskrankheiten?
Zurück ins 19. Jahrhundert. Interessanterweise lehrte zur Zeit Robert Kochs auch ein französischer Mikrobiologe in Paris, nämlich Antoine Béchamp, der bereits mit Louis Pasteur, dem damals bekanntesten Mikrobiologen Frankreichs, nicht immer einer Meinung war. Aufgrund von Pasteur wird auch heute noch Kuhmilch »pasteurisiert«, also hoch erhitzt, und auch die Schutzimpfung geht auf ihn zurück. Pasteur war also ein Vollblut-Infektiologe. Béchamp prägte hingegen die Betrachtung des Milieus, in welchem sich die Bakterien befanden. Im Gegensatz zu Pasteur, dem nicht genug Bakterien getötet werden konnten, postulierte Béchamp, dass es auch gesunde Bakterien gebe und sie grundlegend zum menschlichen Organismus gehörten. Welche Arten von Bakterien, dies sei dabei davon abhängig, in welcher Umgebung (Milieu) sie sich befänden. Béchamp konnte noch nichts davon wissen, dass Bakterien diesen Planeten bereits Milliarden Jahre vor Homo sapiens besiedelten. Wären sie so gefährlich gewesen, hätte sich unsere Spezies niemals entwickeln können.
Ernste Gesichter, große Gedanken (v. l. n. r.): Robert Koch, Willoughby Miller, Antoine Béchamp.
Die »ökologische Betrachtung« Béchamps war in der Mikrobiologie nach damaligen Vorstellungen wirklich revolutionär. Sie können sich das auch analog zur Soziologie vorstellen: Gehen Sie mal zum Campen und Kanufahren in die Wälder. Würden Sie da auf einen Anzugträger mit Aktenkoffer treffen? Wohl kaum. In der Frankfurter Innenstadt werden Sie aber Probleme haben, einen gummistiefeltragenden Wildlife-Menschen mit einer Angel unterm Arm zu finden. Die Umgebung selektiert ihre hauptsächlichen Besucher. Oder andersherum: Menschen suchen sich die zu ihnen passende Umgebung aus.
Der Zusammenhang zwischen Bakterien und den Erkrankungen Karies und Parodontitis bescherte den Forschern und Zahnärzten ziemliche Schwierigkeiten. Konnte es sich tatsächlich um Infektionserkrankungen handeln? Auf lange Sicht scheiterten alle Versuche, die Erkrankungen mit Antibiotika, Impfungen oder Infektionsprophylaxe anzugehen. Der amerikanische Zahnarzt Thomas Hill war 1946 noch ganz angetan von seiner Antibiotika-Zahnpasta, für die er eine große Zukunft sah. 1956 bescheinigte er der Zahnpasta allerdings nur eine geringe Wirksamkeit – nach einem Versuch mit einem Jahr Daueranwendung! – und stellte fest, dass die Laktobazillen sich im Zahnbelag (Plaque) nicht dauerhaft verringerten5. Aus heutiger Sicht betrachtet wurden die Bakterien höchstwahrscheinlich einfach nur resistent gegen das Penicillin. Wie gesagt, Impfen wird immer noch diskutiert6.
Was den Forschern große Probleme bereitete war, dass Karies und Parodontitis eben nicht nur durch einen Keim hervorgerufen werden, sondern durch eine Vielzahl von Keimen, die sich auf der Oberfläche der Zähne in einem Biofilm, zahnmedizinisch auch als Plaque bezeichnet, befinden. Außerdem treten bei allen antibakteriellen Maßnahmen die Keime und damit auch die Erkrankung nach gewisser Zeit wieder auf. Im Versuch, dieses Dilemma doch noch infektiologisch zu erklären, modifizierte der renommierte Bakteriologe Sigmund Socransky sogar die Koch’schen Postulate für das Erkrankungsbild Parodontitis, um sie immer noch als »Infektionserkrankung« betrachten zu können.7 So müsste in dieser Modifikation der Keim bei entzündetem Zahnfleisch in hoher Zahl vorliegen und bei gesundem Zahnfleisch in geringerer Zahl. Zudem sollte eine Entfernung des Keimes nicht mehr eine »Heilung« bedeuten, sondern nur noch eine Verbesserung.
Eine wesentliche Studie aus den 1965er-Jahren machte für die Zahnfleischentzündung den gesamten Bakterienschleimfilm (Biofilm) als Ursache für die Zahnfleischentzündung verantwortlich. Für die Untersuchung stellten 12 Probanden für 2 Wochen ihre Mundhygiene ein. Mit zunehmendem Zahnbelag entzündete sich auch das Zahnfleisch immer mehr. Mit Wiederaufnahme der Mundhygienemaßnahmen verschwand die Zahnfleischentzündung wieder. Vorab ein kleiner Hinweis: Wir wissen leider nicht, was die Probanden gegessen haben.
In letzter Logik der Infektionstheoretiker stellt die Sterilisation des Körpers das ultimative Ziel dar. Endlich ein Leben ohne Bakterien. Aber ob das so gut sein kann? Dazu gibt es keine Daten für den Homo sapiens, lediglich für Nagetiere: Paul Keyes und Robert J. Fitzgerald zogen in den frühen 1960er-Jahren unter Laborbedingungen Hamster keimfrei auf. Diese Hamster entwickelten auch unter zuckerreicher Nahrung tatsächlich keine Karies. Wurden sie jedoch mit Streptococcus mutans, dem prominentesten Keim der Karies, infiziert, bekamen auch sie Karies an ihren Nagezähnen. Dies bildete die Grundlage für die spezifische Plaquehypothese. Es müssen also bestimmte Keime in der Plaque vorhanden sein, damit die Erkrankung, in diesem Fall Karies, auftreten kann. Es wurden nach und nach weitere Karieskeime identifiziert, wobei Streptokokken und Laktobazillen die wichtigsten darstellen. Ob keimfreie Bedingungen jedoch anzustreben sind, ist sehr fraglich. Einerseits ist dies praktisch unmöglich, andererseits zeigten die keimfrei aufgezogenen Hamster neben kognitiven Defiziten und erhöhten Stresswerten viele andere Nebenerkrankungen.8
»Das Bakterium ist nichts, das Milieu ist alles.« Auch in der Mundhöhle?
Es sollte nochmals 100 Jahre dauern, bis der britische Mikrobiologe Philip Marsh die Bedeutung der Umgebung in seiner sogenannten »ökologischen Plaquehypothese« für den Mundbereich beschrieb. Marshs Arbeiten waren wirklich bahnbrechend, denn er konnte die vielen diffusen Annahmen und Theorien auf einen einfachen Faktor herunterbrechen: den pH-Wert.
Der pH-Wert ist ein Maß dafür, wie sauer oder basisch eine wässrige Lösung ist. Reines Wasser hat einen neutralen pH-Wert von 7, Zitronensaft liegt bei 2 bis 3, Seife bei 9 bis 10. Kariesbakterien, wie Streptococcus mutans oder die Laktobazillen, fühlen sich in einer richtig sauren Umgebung am wohlsten. Und sie tragen dementsprechend dazu bei, dass es richtig sauer wird. Durch die Verstoffwechselung von einfachen, vergärbaren Kohlenhydraten beziehen sie ihre Energie und produzieren Säuren, die sie in ihre Umgebung abgeben. Kariesbakterien können sich in diesem sauren Milieu sehr stark vermehren und verdrängen andere Bakterienarten.
In einem anschaulichen Experiment füllte Philip Marsh eine Mischung aus vielen verschiedenen Keimen aus dem Mund in einen Bioreaktor und veränderte anschließend nur den pH-Wert – mal hoch, mal runter. Was er sehen konnte, brachte ihn zur Formulierung seiner ökologischen Plaquehypothese: Ging der pH-Wert runter, also wurde das Milieu sauer, fühlten sich die Karieskeime wohl und vermehrten sich, während diese Bedingungen für die mit Parodontitis assoziierten Keime ungünstig schienen. Diese vermehrten sich dann kaum. Drehte er den pH-Wert im Bioreaktor hoch, war es genau umgekehrt – weniger Karieskeime, mehr Parodontitiskeime. Stellen Sie sich das einfach mal wie einen Dancefloor vor, der sich mit unterschiedlichen Menschen füllt, je nachdem, was der DJ gerade auflegt. Ein paar tanzen auch bei unterschiedlichen Musikrichtungen. Von so einem Bioreaktor können wir Ihnen übrigens nur abraten, er stinkt unheimlich!
Der britische Mikrobiologe Philip Marsh und eine pH-Messlatte.
Einer der prominentesten Karieskeime: Streptococcus mutans. Im Gegensatz zu Kindern findet er sauer super!
Marsh formulierte eine bemerkenswerte Feststellung: Eine dauerhafte Reduktion der krankhaften Bakterien kann nur erreicht werden, wenn die zugrunde liegenden Mechanismen behandelt werden. Jetzt stellt sich die Frage: Ist der zugrunde liegende Mechanismus »der perfekt putzende Mensch« oder womöglich »der sich richtig ernährende Mensch«? Wie hat sich die Natur das bloß vorgestellt?
Statt Karies und Parodontitis als Erkrankungen aufgrund eines »Putzmangels« zu betrachten, ist es viel wahrscheinlicher die Ernährung als zugrunde liegender Mechanismus zu betrachten. Im Fall von Karies ist das sogar ganz klar. Und wer schon gründlich putzt und trotzdem Karies und Parodontitis bekommt, sollte spätestens dann den Fokus verändern und sich nach anderen Therapiestrategien umschauen.
Mundgesundheit ohne Zähneputzen: Wie machen das Kühe?
Gruppenbild der Protagonisten aus des SRF-Sendung »Pfahlbauer von Pfyn – Steinzeit live« aus dem Jahr 2007: mehr Zahnbelag, weniger Zahnfleischentzündung und trotzdem ein Lachen im Gesicht.
Alternativen zum anti-infektiösen Weg – zurück in die Steinzeit
Wie eine andere Strategie aussehen könnte, wurde 2007 bei einem Steinzeit-Experiment des Schweizer Fernsehens von Forschern der Uni Bern beobachtet:9 Zehn Freiwillige erklärten sich für eine Reportage bereit, vier Wochen lang unter Steinzeitbedingungen zu leben. Das beinhaltete neben einer steinzeitgemäßen Ernährung (also dem Verzicht auf industrielle Lebensmittel) unter anderem auch den Verzicht auf vier Wochen Mundhygiene. Die Forscher der Berner Zahnklinik reservierten vermutlich bereits Termine für die Zahnbehandlung der Teilnehmer, da so etwas ja nicht gut ausgehen könne. Was allerdings eintrat, war das genaue Gegenteil: Statt Karies und schwere Zahnfleischentzündungen zu entwickeln, hatten die Teilnehmer eine bessere Mundgesundheit als vorher – aber sie hatten viel Zahnbelag. Dieses stellte die bisherige Annahme »je mehr Zahnbelag, desto mehr Zahnfleischentzündung bzw. Karies« völlig auf den Kopf. »Mehr Zahnbelag, weniger Zahnfleischentzündung«? Wie war das zu erklären? Die Berner Forscher schlussfolgerten, dass die bisherige Annahme eines positiven Zusammenhangs zwischen Zahnbelag und Zahnfleischentzündung nicht länger gültig sei, wenn einfache prozessierte Kohlenhydrate in der Ernährung wegfielen.
Da waren sie wieder, die einfachen prozessierten Kohlenhydrate. Dass sie für Karies verantwortlich waren, war ja seit den 1880er-Jahren durch Miller bekannt, aber nun auch für die Zahnfleischentzündung?