Kitabı oku: «Hinter dem Schein die Wahrheit», sayfa 3
Herbst 1972
Der September hatte es in diesem Jahr aber wirklich in sich. Zuerst holte eine Deutsche bei den Olympischen Spielen in München die Goldmedaille im Hochsprung. Sie hieß Ulrike Meinhof oder Meyfarth oder so ähnlich, und kaum hatten alle bei der Nationalhymne strammgestanden, wurden ein paar andere Sportler zuerst gefangen genommen und dann getötet. Die Spiele gingen aber trotzdem weiter. Außerdem schimpften die Leute in der Bäckerei über einen, der andauernd im Fernsehen war und Willy Brandt hieß. Annette hatte Rosi gefragt, was es damit auf sich hatte, aber ihre Schwester wusste es auch nicht so genau, obwohl sie ziemlich erwachsen tat, seit sie nach den Sommerferien auf das Gymnasium in der Stadt gewechselt war. Rosi ging nun morgens nicht mehr gemeinsam mit ihr den Weg zur Schule am Dorfplatz, aber dafür wurde ein neues Mädchen in ihre Klasse aufgenommen, als das dritte Unterrichtsjahr begann, und das hatte etwas für sich, weil sie eine neue Passagierin brauchten. Seit Rosi nicht mehr mit ihnen verreiste, war der Flugverkehr auf dem Schulhof vollständig zum Erliegen gekommen. Annette fand, es könne nicht schaden, sich die Zugereiste einmal näher anzusehen. Holger aber war strikt dagegen. Anstatt wie gewöhnlich mit einem Stock in den Händen rittlings auf dem bodennahen Ast der Kastanie zu sitzen und Kurs auf Honolulu zu nehmen, trottete er mit hängenden Schultern zu eben jenem Baum hinüber und ließ seinen massigen Körper im Cockpit niedersinken, ohne auch nur die geringsten Vorbereitungen für den Start zu treffen. Durch die dicken Gläser seiner Hornbrille starrte er missmutig vor sich hin und mampfte seine immer gleiche Brotzeit, eine zentimeterdick bestrichene Leberwurstschnitte und eine Brezel.
Sie schmollte. Das gesamte erste Schuljahr hatte sie gebraucht, einen Piloten aus Holger zu machen. Irgendwie hatte sie diesen schüchternen Jungen, den sonst niemand zu mögen schien, ins Herz geschlossen. Sie hatte schnell gemerkt, was für ein perfektes Flugzeug der alte Kastanienbaum mit dem bodennahen Ast abgab, aber es konnten nun einmal nur Männer Piloten sein. Es hatte sie Berge von Butterkeksen aus der Bäckerei und außerdem noch von ihrem Taschengeld gekaufte Gummischlangen gekostet, ihn zu überreden. Allmählich war Holger aufgetaut, war er ihr bester Freund geworden, und der Baum hatte sich tatsächlich in ein Flugzeug verwandelt. Nun aber trauerte Holger Rosi hinterher.
Annette sammelte die ersten Kastanien der Saison vom Boden auf. Falls sie doch noch flogen, wollte die Bordverpflegung vorbereitet sein. Nur wem sollte sie das Essen servieren? Es fehlte ein Passagier, und die anderen Kinder kamen dafür nicht in Frage.
Der und Pilot?
Der kann ja nicht mal die Landebahn direkt vor seiner Nase sehen.
In den Sitz passt er auch nicht mit seinem dicken Hintern.
Igitt, wie der stinkt! Thomas war neben Holger getreten und hatte geschnuppert, einen angewiderten Ton ausgestoßen und sich die Nase zugehalten. Lautes Lachen ringsumher.
Nein, mit den anderen Kindern aus dem Dorf würden sie nirgendwohin fliegen. Sie setzte sich neben Holger und drehte eine Kastanie zwischen den Fingern. Er müffelte wirklich ziemlich heftig, aber er konnte doch nichts dafür. Die kleine Wohnung, in der er mit seiner Oma lebte, lag direkt über der Reinigung der Kurklinik, in der sie auch arbeitete. Die Dämpfe waberten die Stiege hinauf, krochen durch die zugigen Ritzen der Wohnungstür und drangen in Möbel, Teppiche und Kleider. Manchmal erschien es Annette, als drängen sie selbst in Holgers Haut. Sie hatte sich schon nach wenigen Besuchen bei ihm zu Hause an den Geruch gewöhnt. Und Rosi hatte er nie gestört.
Na, Käpt’n Baumgartner, fliegen wir?, hatte Rosi immer gefragt und Holger den Arm um die Schultern gelegt. Seine Wangen röteten sich fleckig in solchen Momenten, und er ging in Position, um über Funk die Starterlaubnis einzuholen, während Rosi Platz nahm, die üppig um ihren Kopf wallenden Locken zurückstrich und sich anschnallte. Aber jetzt war Rosi fort und die Maschine blieb seit Wochen am Boden.
»Wollt ihr mal meinen Spagat sehen?«
Annette zuckte zusammen, denn die Neue hatte sich von hinten angeschlichen. Nun aber trat Karin Schmitz vor, hob beide Arme seitlich an und streckte sie bis in die Fingerspitzen, während sie zu Boden glitt. Es sah so leicht aus, wie sie dahinfloss im orange geblümten Sommerkleid. Ihr ganzer Körper war angespannt, und doch hatte sie ein Lächeln auf den Lippen.
»Tut das nicht weh?« Annette sprang vom Ast und tat es ihr vorsichtig nach. Als sie ein Reißen in den Innenseiten ihrer Schenkel spürte, hielt sie inne und blieb breitbeinig stehen.
Holger hatte seine Mahlzeit beendet. Er knüllte das Butterbrotpapier zusammen und vergrub es gemeinsam mit den Händen tief in den Taschen seiner Jeans, die trotz seines fülligen Körpers viel zu weit für ihn waren und nur von einem Gürtel am Platz gehalten wurden.
»Das interessiert keinen«, brummelte er und schaute an Karin vorbei.
Wie gemein er war – das passte gar nicht zu ihm. Gemein waren sonst die anderen Kinder. Sie nannten ihn Stinker und Fettwanst, und Thomas hatte sogar noch ein anderes Schimpfwort benutzt. Er nannte ihn Bastard, und das hatte er bestimmt zu Hause aufgeschnappt. Sie wusste nicht, was das bedeutete und hatte in Rosis Duden nachgeschlagen: fr. (Mischling; uneheliches Kind), stand da. Holger erzählte sie nichts davon. Sie war seine einzige Freundin, verbrachte jede freie Minute mit ihm, aber anders als Rosi hatte sie ihm nie den Arm um die Schultern gelegt und wegen ihr bekam er auch kein fleckig gerötetes Gesicht. Sie verstanden sich einfach gut, auch wenn es ihr manchmal auf die Nerven ging, dass er ständig von ihrer Schwester sprach.
»Rosi ist unser Passagier«, protestierte er auch, wenn sie ihm erzählte, was sie über das neue Mädchen herausgefunden hatte. Familie Schmitz war aus der Stadt gekommen und in das Haus neben der Kurklinik gezogen, das so lange leer gestanden hatte. Im Dorf nannte man es stets ›die Villa‹. Es hatte einen kleinen Garten zur Straße und einen riesigen nach hinten hinaus, der gleich an den Kurpark grenzte. Die Familie kannte niemanden in Eschenreuth. Manchmal sah Annette zwei kleine Jungs im Garten herumtoben, Karins jüngere Brüder, die Zwillinge sein mussten, so ähnlich sahen sie sich. Karin tobte nie im Garten der Villa, sie hatte anderes zu tun. Viermal in der Woche fuhr ihre Mutter sie in die Stadt zum Ballettunterricht, kaufte unterdessen ein und nahm sie wieder mit zurück. Die Hinfahrt, die Zeit zwischendurch und die Rückfahrt zusammengerechnet, waren sie vier Stunden fort. Darüber sprach man in Eschenreuth, weil sie in dieser Zeit die Aufwartefrau auf die Jungen aufpassen ließ. Niemand in der ganzen Gegend hatte je eine Aufwartefrau gehabt, vielleicht der Geschäftsführer der Pharmafabrik, die hinter den Hügeln lag, aber der wohnte weit weg am Starnberger See.
Irgendwie war Karins Mutter eine komische Frau. Annette war nicht entgangen, dass Karin die schönste Federmappe hatte und den größten Ranzen, dass sie jeden Tag einen anderen Pullover trug und Bücher las, die nicht aus der Gemeindebibliothek kamen. Aber nie hatte Karin einen Lutscher oder ein Stück Schokolade dabei. Annette hätte ihr gern einmal etwas geschenkt, eines von den Nonnenhörnchen vielleicht, für die ihr Vater im ganzen Landkreis gerühmt wurde, weil er den Teig so wunderbar locker hinbekam. Aber Karin rührte nichts Süßes an, und Holger würde es ärgern. Je öfter Karin zu ihnen kam, desto mehr schimpfte er über sie. Wenn sie sich vor der Schule im Handspiegel betrachtete und den Sitz ihrer strohblonden Zöpfe korrigierte, nannte er sie eitel. Wenn sie vom Ballett erzählte oder eine ihrer Übungen zum Besten gab, meinte er, es sei Angeberei. Und wenn sie kurz vor Unterrichtsbeginn ihre Zahnspange aus dem Mund nahm und sie gegen einen zuckerfreien Kaugummistreifen tauschte, um ihn beim Eintreten der Lehrerin schon wegzuwerfen, maulte er wieder, weil es in seinen Augen Verschwendung war. Am meisten aber hasste er es, wie Karin redete. Annette fand, dass sie einfach nur ein lispelndes Zahnspangenhochdeutsch sprach, aber Holger fand es geziert. Wenn es um Karin ging, hörte er sich genauso streng an wie seine Oma. Er benutzte sogar dieselben Worte.
Hochmut kommt vor dem Fall.
Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden.
Und dann fing er wieder von Rosi an.
Die Tage wurden kürzer, der Nebel hielt sich bis zum Mittag zwischen den Wipfeln der Bäume. Allerheiligen kam und Allerseelen, der Volkstrauertag und der Totensonntag, der zweite Advent und der erste Bodenfrost. Karin kam inzwischen nicht mehr zur Kastanie. Auf dem Schulhof blieb sie allein, ließ einen Hula-Hoop-Reifen um ihre Hüften kreisen oder spielte mit ihrem Jo-Jo. Und die Düsen des Jets blieben weiter still.
Annette saß immer grimmiger neben Holger auf dem Ast; sie hatte keine Lust, nur herumzuhocken, und sie mochte auch nicht mehr zusehen, wie er diese Leberwurstschnitten in sich hineinstopfte. Mit jedem neuen Schultag wurden die Pausen trister. Bis zu jenem denkwürdigen Morgen nach dem dritten Advent.
Der weiße Mercedes hielt direkt vor der Schule. Karins Mutter stieg aus, eilte um den Wagen herum und öffnete die hintere Tür. Zwei dünne Beine schoben sich langsam aus dem Auto hervor. Das rechte steckte bis zum Knie in einem roten Stiefel. Das linke ebenso weit in Gips.
Karin nahm die Krücken von ihrer Mutter entgegen und humpelte los, den Blick zu Boden gerichtet. Eine Traube aus Kindern bildete sich am Schultor. Drei Wochen war es schon wieder her, dass der Junge aus der Vierten nach einer Rauferei mit einer Platzwunde am Kopf ins Krankenhaus gebracht werden musste. Seither hatte es keine Aufregungen mehr gegeben. Und nun ein Gipsbein am Montag. Das konnte eine tolle Woche werden!
Umgeknickt sei sie, böse umgeknickt. Karins Mutter verkündete es so laut, dass alle in der Menge es hören konnten. Beim Ballett sei es passiert, am Sonntag nach der Messe. Karin habe mit ein paar anderen Mädchen aus ihrer Gruppe für eine Kinderaufführung geübt, Der Nussknacker am Weihnachtstag. Nach einem Sprung sei sie unglücklich aufgekommen, furchtbar unglücklich. Ihr Vater habe den Bänderriss sofort diagnostiziert, sei mit ihr in seine Behandlungsräume in der orthopädischen Abteilung der Kurklinik gefahren und habe den Fuß eingegipst. Mindestens sechs Wochen würde sie nicht trainieren können. Und Weihnachten ginge sie an Krücken. Karins Mutter strich ihrer Tochter über den Kopf, wo ein sehr gerader Scheitel ihr zu Zöpfen gebändigtes Haar exakt teilte. Karin hob die Lider noch immer nicht. Die Menge sammelte sich enger um sie. Fräulein Egge sprach ein paar tröstende Worte. Jemand bückte sich zu Karins Gips hinunter und klopfte gegen die harte Schale. Eine Stimme aus dem Hintergrund fragte: »Darf ich was draufmalen?«
Annette wollte wissen, was Holger von dieser Sache hielt, aber er sagte kein einziges Wort dazu, schwieg, bis die Schulglocke die erste Stunde einläutete, schwieg in der kleinen Pause und auch um halb zehn im Cockpit.
»Was hast du denn?«, fragte sie ihn und nahm ihre Semmel aus der Butterbrotdose. »Sei doch zufrieden. Du hast doch immer gesagt: Hochmut kommt vor dem Fall.« Sie imitierte seinen missbilligenden Ton. »Hast recht behalten.«
Tatsächlich verstand sie ihn nicht. Die ganze Zeit über hatte er kein gutes Haar an Karin gelassen, hatte sich nicht dafür interessiert, wo sie war und was sie tat, und jetzt sah er ihr mit einer derart verwunderten Miene nach, als hätte er noch nie ein Gipsbein gesehen. Und durch das Unverständnis in seinem Blick schimmerte Mitgefühl. Wahrscheinlich war das auch wieder so etwas, das er von seiner Oma lernte und das Annette nie begriff: Der Pfarrer erklärte in der Kirche, was man nicht tun durfte. Wenn man doch etwas tat, das verboten war, guckten alle böse und es konnte sein, dass Gott sich eine gemeine Strafe ausdachte, irgendwas wie Masern oder eine Fünf im Diktat oder ein Stromausfall, gerade wenn Bonanza anfing. Jedenfalls wurde man traurig, und je trauriger man war, desto besser. Dann kamen die anderen Kinder, um zu trösten, und auch der Pfarrer war versöhnt. Traurig zu sein war eigentlich das Tollste, was einem passieren konnte. Sogar Holger schimpfte nun nicht mehr über Karin. Er sprach mit vollem Mund.
»Gestern Nachmittag hab ich sie gesehen. Vor ihrem Haus.« Er kaute ein bisschen und schluckte, weil er wohl selbst merkte, dass er kaum zu verstehen war. »Ich bin auf dem Weg vom Wald nach Hause bei ihr vorbeigeradelt. Es war schon fast dunkel.«
»Ja, und?« Es begann zu regnen. Sie zog sich die Kapuze auf den Kopf.
Er tat es ihr gleich. »Sie hat keinen Gips gehabt.«
Annette umfasste ihre Semmel fester. Ein paar Krümel rieselten zu Boden. »Bist du sicher?«
Holger nickte. »Sie hatte ein Band zwischen zwei Bäume gespannt und hat Gummitwist gespielt. Alleine. Und ihre Füße waren in Ordnung.«
Sie schürzte die Lippen und dachte nach. Das war aber sehr merkwürdig. Warum sagte Karins Mutter, es sei am Mittag schon passiert? Und beim Ballett? Das konnte ja wohl nicht stimmen. Vielleicht war sie beim Gummitwist umgeknickt. Wollte Karins Mutter nicht, dass Karin Gummitwist spielte? Durfte das niemand wissen? Gehörte am Ende auch Gummitwist in die lange Liste der Dinge, die für Mädchen verboten waren? Das wäre neu.
Sie schaute auf die Uhr, die über dem Eingangsportal der Schule hing. Es war noch genug Zeit. »Komm«, sagte sie zu Holger, sprang auf und ging auf dieses seltsame Mädchen zu.
Wie ein Storch stand Karin auf dem gesunden Bein, hielt das eingegipste angewinkelt in der Luft. Annette bemerkte, wie schwer es ihr fiel, ihren Apfel zu essen, ohne die Krücken loszulassen.
»Soll ich die mal nehmen«, sagte sie daher und griff danach. Zuerst schüttelte Karin den Kopf, aber als der Apfel ihr beinahe aus der Hand rutschte, ließ sie die Krücken los.
»Ganz schön blöd, was?« Annette humpelte versuchsweise um sie herum. »Ist bestimmt ziemlich dick geworden, oder? Nur gut, dass dein Vater Arzt ist.«
Karin kniff die Lippen zusammen.
»Was machst du denn jetzt, wenn du nicht zum Ballett kannst?«, versuchte es Holger. Er war viel freundlicher zu ihr als sonst, aber Karin sah aus, als würde sie nur mühsam ihre Tränen zurückhalten.
»Jedenfalls wird es jetzt nichts mit dem Nussknacker«, sagte sie traurig. »Dabei ist es doch mein Lieblingsballett.« Sie warf das Kerngehäuse des Apfels ins Gebüsch und streckte die Hände aus, um die Krücken zurückzunehmen.
Annette gab sie ihr. »Ist es wirklich beim Ballett passiert?«
Karin sah sie endlich an. Ein bisschen erschrocken, wie es schien. »Ja.« Auch ihre Antwort fiel merkwürdig knapp aus.
»Gestern Mittag?«, fragte Holger.
Karin nickte schwach.
»Ich hab dich beim Gummitwist gesehen.«
Karin zuckte zusammen. »Wann?«, fragte sie in schrillem Ton.
Holger stemmte die Fäuste in die Seiten. »Weißt du nicht, wann du Gummitwist gespielt hast?«
Karin drehte sich um und humpelte davon, ohne zu antworten. Holger stutzte, dann wischte er mit der flachen Hand vor seinem Gesicht herum, um Annette zu signalisieren, was er davon hielt.
Annette kratzte sich am Kopf. Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte sie gerade, als Karin sich plötzlich umdrehte und zurückkam.
»Bitte sagt den anderen nichts davon.«
Annette war hin- und hergerissen. Karin bat so flehentlich, dass es unfair sein würde, ihre Notlage auszunutzen. Aber sie tat auch so wahnsinnig geheimnisvoll. »Nur wenn du uns erzählst, was wirklich passiert ist«, sagte sie daher und stieß Holger an, der von einem Bein auf das andere trat. Vermutlich dachte er schon wieder an seine Oma. Klopfet an, so wird euch aufgetan, würde sie sagen. Annette wusste, er müsste eigentlich bedingungslos tun, worum Karin ihn bat, aber sie war sicher, dass auch er wissen wollte, was wirklich passiert war.
»Du musst es erzählen«, verlangte schließlich auch er.
Karin schluckte. Die Pause war fast zu Ende. »Aber ihr müsst es unbedingt für euch behalten.«
Holger nickte, und Annette hob drei Finger. »Ich schwöre.«
Es klingelte. Die anderen Kinder schlenderten grummelnd auf das Schulhaus zu. Karin wartete mit ihrer Antwort, bis sie weg waren.
»Ich … Ich bin erst gestern Abend umgeknickt«, stammelte sie flüsternd. »Es … ist nicht beim Ballett passiert. Ich bin … aus dem Fenster in den Garten gesprungen.«
»Aus dem Fenster gesprungen?« Holger sprach lauter.
»Psst!« Annette legte einen Finger an die Lippen und trat dichter an Karin heran, die ihre Hände so fest um die Griffe der Krücken gelegt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Hab ich schon öfter gemacht. Es ist ja nicht hoch. Aber gestern bin ich auf so einer blöden Wurzel gelandet.«
»Warum machst du denn so was?« Holger tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
Annette warf ihm einen bösen Blick zu. Wenn man im Verhör etwas herausbekommen wollte, durfte man sich nicht anmerken lassen, was man von einer Sache hielt. So jedenfalls machte es Der Kommissar.
»Wir müssen rein.« Karin hatte es plötzlich sehr eilig.
Annette hielt sich neben ihr. »Jetzt mal wirklich – warum?«
»Nur so.«
»Nur so?« Sie waren schon an der Tür. Fräulein Egge trieb sie an.
Karin drängte ins Klassenzimmer. »Nur so!«
In den folgenden zwei Stunden meldete sich Holger kein einziges Mal, sondern zeichnete stattdessen in seinem Matheheft herum. Er konnte gut zeichnen. Wie beiläufig wischte der Füllfederhalter kreuz und quer über die Karos, und von ihrem Platz neben ihm aus beobachtete Annette, wie nach und nach ein Bild entstand. Es zeigte ein Mädchen im Tutu mit Zöpfen und einem Gips am Fuß. Es tanzte über eine hell erleuchtete Bühne.
Als es zur nächsten großen Pause klingelte, hatte es aufgehört zu regnen. Annette wollte so schnell wie möglich nach draußen, aber Holger zupfte sie am Ärmel und steuerte auf Karin zu. Als er bei ihr war, zog sie ein Buch aus ihrem Ranzen und schlug es auf. Das kleine Gespenst.
»Wollen wir nach Afrika fliegen?«, fragte er Karin so leise, dass Annette Mühe hatte, ihn zu verstehen.
Karin schaute auf, zögerte kurz, schüttelte den Kopf.
»Aber wir haben eine völlig neue Maschine!« flötete Annette begeistert.
»Und das Essen an Bord ist auch super.« Holger trat dichter an Karin heran. Sie schnupperte und wich zurück.
Annette beeilte sich, ihrem Freund zur Seite zu springen. »Ja klar, Schweinsbraten und, äh, Kaugummiknödel.«
»Kaugummiknödel?« Karins Mundwinkel zuckten.
Annette witterte die Chance. Sie lehnte sich über den Tisch und sah ihr direkt in die Augen. »Und es gibt Cola dazu«, schmeichelte sie.
»Ich darf keine Cola trinken.« Karin rutschte auf ihrem Stuhl herum, klappte das Buch zu. »Und der Baumstamm ist nass.«
Holger holte seinen Anorak und schwenkte ihn. »Hier! Kannst dich draufsetzen. Und unsere Cola ist gesund. Vitamin-Cola, weißt du?”
Endlich erhob sich Karin und ergriff die Krücken. »Sind die Sitze denn auch bequem?«
Sie waren schon über der Sahara, als das Unwetter über sie hereinbrach. Holger konnte den Steuerknüppel kaum halten, und Annette musste das Servieren einstellen, nachdem sie in der Kabine hin und her geschleudert worden war. Ein Luftloch folgte dem anderen. Annette schrie, und Holger brüllte ins Funkgerät: »Mayday, mayday, hallo Tower, kann mich einer hören?«
Der Wüstensand wirbelte gegen die Tragflächen, Blitze zuckten links und rechts, die Maschine taumelte im Wind, aber trotz der tödlichen Gefahr beobachtete Annette, was Karin tat. Sie saß ganz still, als es begann. Lange Minuten blieb sie völlig ungerührt. An ihrem Sitz schien das Inferno vorbeizugehen. Allmählich aber rüttelte der Hurrikan auch Karin durch. Unmerklich zuerst, aber bald schon heftiger, und als das Klingeln die Pause beendete und die nächste furchterregende Böe das Flugzeug von Backbord her traf, schmiss es sie fast aus dem Sitz. Sie klammerte sich an unsichtbaren Lehnen fest und drückte sich tiefer in den Kastanienastsessel. Als der Stoß überstanden war, schlug sie die Hände vors Gesicht und jammerte gedehnt: »Hey, Frääuulein, ich muss koootzen.«
Annette riss die Augen weit auf. Holger prustete los. Um die halbe Welt waren sie mit Rosi geflogen, aber so etwas hatte sie nie gesagt.