Kitabı oku: «Hinter dem Schein die Wahrheit», sayfa 4
Samstag, 15. November 2014, 8.02 Uhr
Lächerlich war das, und wie peinlich erst. Wie hatte sie sich nur so gehen lassen können, fragte sich Karin und ging nervös in der Küche auf und ab. Ein Augenblick der Schwäche, und alles fiel auseinander. Als ob Jammern da etwas nützte. Weinerlichkeit war doch sonst nicht ihre Art. Sie griff nach der Dose oben links im Küchenregal. Die verlässlich Tröstende schob sie beiseite. Wer konnte wissen, was in den nächsten Stunden noch auf sie zukam. Aber gegen ein bisschen was von dem Pflanzlichen war nichts einzuwenden. Und ein kleiner Muntermacher konnte auch nicht schaden. Der Tag brach an, ein neuer Tag, den es zu bewältigen galt. Bestimmt käme ihre Mutter, das tat sie ja samstags immer und würde es auch heute tun. Auch Annette musste bald ankommen. Und Jacob war noch immer nicht zu erreichen. Inzwischen hatte sie ihm doch noch auf die Mailbox gesprochen, wie sah es denn aus, wenn nur Annette es tat. Sollte sie Pavel nun anrufen? Nein, das konnte noch warten. Sie musste sich erst einmal sammeln und die Ordnung wiederherstellen.
Ihre Pläne konnte sie allerdings vergessen. Dabei war das Weinregal schon überfällig. Sie hatte es aufgeschoben, so lange es ging, weil es so beschwerlich war, jede einzelne Flasche herauszunehmen, abzustauben und mit dem Etikett nach oben wieder an ihren Platz zu legen. Aber jetzt ließ es sich nicht länger vermeiden. Und dann das Laub. Der Wind trieb die Blätter so schnell vom Rasen hinter dem Haus auf die Terrasse, dass sie mit dem Harken gar nicht nachkam. In der Woche hatte sie dafür keine Zeit. Montags musste sie die Betten frisch beziehen, die Bettwäsche waschen und die Küche putzen. Dienstags bügelte sie die Bettwäsche, kaufte ein und fuhr den Wagen in die Waschanlage. Mittwochs wusch sie die Kleidung, und während die Maschine arbeitete, polierte sie das große Bad im Erdgeschoss und das kleinere oben. Danach blieb immer noch Zeit, sich zwei, drei Paar Schuhen zu widmen. Donnerstags bügelte sie die Kleidung und wischte und saugte im Obergeschoss Staub. Jacob ließ sie nur ungern in sein Zimmer, aber das, was er Saubermachen nannte, hatte diese Bezeichnung nun wirklich nicht verdient. Da musste sie ja doch immer noch mal hinterher. Freitags war das Erdgeschoss dran. Das Esszimmer war allerdings nicht jede Woche nötig, wo sie es doch schon vor Jahren abgeschlossen hatte. Du liebe Güte, Sauce Hollandaise auf dem Fußboden in der Spargelzeit, Salatdressing im Sommer und Pilzragout im Herbst. Wenn sie nicht anständig essen konnten, mussten sie es eben in der Küche tun. Den guten Teppich ließ sie sich jedenfalls nicht ruinieren, und wenn sie das Esszimmer auslassen konnte, schaffte sie am Freitag sogar noch die Einkäufe für das Wochenende sowie alle Arzt- und Apotheken-, Bank- und Friseurbesuche. Natürlich musste sie auch kochen, außer wenn etwas übriggeblieben war. Das kam aber nur vor, wenn sie es aus Mangel an Zeit so plante. Wer mochte denn schon aufgewärmtes Essen? Für die Bestellungen ihrer Kundinnen, die Auslieferung der Kosmetika und die Abrechnungen plante sie dreimal in der Woche zwei Stunden vor dem Abendbrot ein. Mittwochs ging sie zur Gymnastik und am ersten Samstag im Monat zum gemeinsamen Frühstück des Leseclubs. Das Turnen war gut gegen Verspannungen und die Kontakte gut fürs Geschäft. Auch ohne Kalender verlor sie nie den Überblick. Es hatte sie lange Jahre des Probierens gekostet, die Erledigung ihrer Pflichten so zu optimieren, dass es möglich war, einfach einen Zettel, auf dem schon alles eingetragen war, für jede neue Woche zu kopieren. Nur die Spalte für den Samstag blieb in der Vorlage leer für das, was je nach Jahreszeit nur ab und zu getan werden musste: Fenster putzen, Marmelade einkochen, Ostereier bemalen, Stollen backen, Wintermäntel mit Schutzfolie versehen, die Knöpfe an den Sommerblusen auf Festigkeit überprüfen, Jacobs Hosen umnähen, Jacobs Hosen auslassen, Gartenmöbel raus, Gartenmöbel rein oder eben den Keller in Ordnung bringen. Hinter jede Aufgabe, die sie bewältigte, setzte sie schwungvoll ein Häkchen. Waren alle Punkte geschafft, wanderte das Blatt in den Papierkorb und sie holte ein neues für die kommende Woche heraus.
Heute würde es keine Häkchen geben. Es hatte sie den Rest der Nacht gekostet, den Teppich im Wohnzimmer wieder einigermaßen sauber zu kriegen, die Scherben zusammenzukehren und die Stellen zu trocknen, die das versprengte Wasser hinterlassen hatte. Den Fleck von der angefaulten Birne hatte sie noch immer nicht herausbekommen. Aber jetzt musste sie erst mal das Bett in Annettes Zimmer beziehen.
Annettes Zimmer. War es nicht Jacob, der angefangen hatte, es so zu nennen? Wieso Gästezimmer?, hatte er gefragt. Nur Annette schläft dort. Sie hatte ihm recht geben müssen. Pavels Eltern waren tot, seine Schwester lebte in Übersee. Und ihre Brüder? Sascha war nur ein einziges Mal aus Spanien gekommen – zu Jacobs Taufe. Und Christian blieb mit seiner Familie nicht über Nacht. Sie hatten es ja auch nicht weit nach Hause. Und wenn Christian was trank, fuhr auch mal seine Frau.
Sie holte Bettwäsche aus dem Schrank und ärgerte sich erneut über ihren nächtlichen Ausbruch. Sie hätte Annette nicht anrufen sollen. Immer stand sie Jacob bei, immer wusste sie alles besser. Sagte Karin, er sei schmächtig, meinte Annette, er sei zart. Nannte sie ihn einen Zappelphilipp, fand Annette ihn agil. Wollte sie, dass er zur Beichte ging, fiel Annette ihr in den Rücken. Er kann es doch auch mir sagen, wenn er was angestellt hat. Sie war es, die ihm das Gel geschenkt hatte, das er sich seither in die Haare schmierte. Sie hatte ihm beigestanden, als er mit diesem Stecker in der Nase ankam. Aus der Ferne, am Telefon. Was hast du denn, ist doch schick. Und seit Annette ihm das Foto von dem Tattoo auf ihrem Oberarm geschickt hatte, sprach auch Jacob davon, eines haben zu wollen. Natürlich würde sie ihm niemals erlauben, sich Farbe unter die Haut ritzen zu lassen, aber was sollte sie tun, wenn er achtzehn war?
Sie hielt inne und ließ das Kopfkissen sinken. Wenn sie das nächste Mal die Maiglöckchen im Garten schnitt, um sie ihm auf den Geburtstagstisch zu stellen, war er dem Gesetz nach erwachsen, und es gab keinen Zettel, auf dem geschrieben stand, was dann aus ihm werden würde. Er war so eigen geworden und still, mied die wenigen Partys, zu denen er eingeladen wurde, trat keinem Verein bei und ging neuerdings nicht einmal mehr in die Kirche. Seine Freunde waren irgendwelche Profilbilder im Internet, und noch nie hatte er ein Mädchen mit nach Hause gebracht. Nach seiner Zukunft gefragt, zauberte er stets eine neue Antwort aus dem Hut. Keine war je ernst gemeint, keine war beständig.
Sie wandte sich wieder dem Kissen zu, ließ es im Bezug verschwinden, zog den Reißverschluss zu, schüttelte es auf und strich es glatt. Sie hatte die Bettwäsche extra für Annette gekauft, hatte sie ohne zu zögern bestellt, als sie auf die Abbildung im Katalog gestoßen war. Sie mochte Annettes Geschmack nicht, aber sie kannte ihn. Graue Bettwäsche. Wie kann man graue Bettwäsche mögen, hatte sie Annette einst gefragt. Unsere Mütter haben alles versucht, damit die Bettwäsche weiß bleibt und mit der Zeit nicht grau wird. Annette hatte gelächelt und genickt, als sie antwortete. Eben.
Jetzt lächelte auch Karin. Ihrer alten Freundin etwas Gutes zu tun, war wie ein Automatismus, dessen Sinn zu hinterfragen sie längst aufgegeben hatte. Es war einfach so. Sie stritten und sie quälten sich. Und dann kauften sie einander Geschenke. Die Bettwäsche war noch völlig unbenutzt. Annette war lange nicht nach Eschenreuth gekommen, nur telefoniert hatten sie, gemailt und sich Postkarten geschrieben. Ja, Postkarten aus dem Urlaub oder zum Geburtstag, richtig altmodisch und bunt. Wenn nur der Anlass ihres Besuches nicht so besorgniserregend wäre. Wo konnte Jacob denn bloß sein?
Sie musste Holger noch einmal anrufen und ihn bitten, sich im Dorf umzuhören. Es war unauffälliger, wenn er es tat. Von Holger erwartete ja niemand, dass er wusste, wo Jacob war. Sie aber war seine Mutter, bei ihr sah die Sache schon anders aus. Ja, sie würde Holger bitten, den Jungen für sie zu suchen. Aber wo sollte er damit anfangen? Jetzt war es bedauerlich, dass sie Jacob den Hund verweigert hatte, den er immer hatte haben wollen. Ein Hund hätte sie vielleicht zu ihm geführt. Pavel hatte zugestimmt, aber sie hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Ein Hund brachte Dreck ins Haus. Ein Hund machte Arbeit. Man musste ihn impfen und entwurmen lassen, das Fell auf Zeckenbefall prüfen und die Haare vom Autositz bürsten, wenn man vom Tierarzt kam. Aber das war nicht das Schlimmste. Ein Hund buddelte alles wieder aus. Er schnüffelte und scharrte und legte alles frei – alte Knochen und vergrabene Erinnerungen. Nein, ein Hund kam nicht in Frage.
Nicht für sie.
Weihnachten 1972
Am Vormittag des ersten Feiertages roch es im Haus nach Gänsebraten. Karin lag ausgestreckt auf dem wuchtigen schwarzen Ledersofa im Wohnzimmer und wartete darauf, dass der Film über Paolo Bortoluzzi begann, auf den sie sich schon seit Tagen freute. Wenn das Jucken der Haut an ihrer linken Wade unerträglich wurde, richtete sie sich auf, schob ein Lineal unter den Gips und versuchte, die Stelle zu erreichen, die sie am schlimmsten peinigte. Andächtig stocherte und kratzte sie, bis die Qual nachließ. Das Lineal ging schon leichter unter den Gips als noch vor einer Woche, der Muskel wurde dünner. Zum Glück war ihre Mutter zu beschäftigt, um das zu bemerken. Geschirr klapperte in der Küche, heißes Fett zischte so laut, dass Karin sich selbst vom Sofa aus vorstellen konnte, wie es im Ofen brutzelte. Dabei hatte ihre Mutter die Tür hinter sich geschlossen, hatte sich verschanzt, um nicht gestört zu werden, während sie stundenlang mit Äpfeln, Maronen und Rotkohl, Schüsseln und Töpfen hantierte. Ihre Mutter hatte nicht einmal Zeit für den Film, und das war gut so, denn sie würde sicher wieder jede der Bewegungen des Tänzers kommentieren und sie gleichzeitig ermahnen, sich anzustrengen, jeden Tag, jede Woche, immer. Nein, das brauchte sie jetzt wirklich nicht. Sollte ihre Mutter ruhig in der Küche bleiben.
Sie sah auf die Uhr. Nur ein paar Minuten noch, dann musste es losgehen, und wenn es zu Ende war, kam der Vater aus der Klinik und sie konnten endlich essen. Ihr knurrte der Magen, sie hatte doch nur wenig gefrühstückt, um für den Festtagsbraten Platz zu lassen. Und dann duftete es auch noch so lecker! Bald, dachte sie und richtete den Blick auf den Fernseher. Bald würde der Vater die Gans bei Tisch zerlegen und die Stücke auf alle Teller verteilen. Dann bekam sie ihr Häppchen vom mageren Fleisch und vielleicht sogar, wenn nicht allzu viel Fett darunter glitzerte, auch ein winziges Läppchen von der knusprigen Haut, die sie so gerne aß und doch nicht essen durfte. Jetzt, wo das Training ausfiel, musste sie noch mehr aufpassen, dass sie nichts ansetzte. Richtig böse war die Mutter geworden, als sie den Gips gesehen hatte. Das wird dich weit zurückwerfen. Da wirst du hart arbeiten müssen, um das wieder aufzuholen. Sie hatte Karin tagelang kaum angesehen und nur das Nötigste mit ihr gesprochen. Tu das nie wieder!, hatte die Mutter geschimpft und nicht ein einziges Mal danach gefragt, warum sie überhaupt aus dem Fenster gesprungen war. Keine Fragen, keine Antworten. Karin seufzte. Das Schweigen hatte sich so fest um ihr Herz gelegt wie der Gips um ihr Bein.
Der Film ließ noch immer auf sich warten, und sie sah aus dem Fenster. Es schneite nun schon seit Stunden. Dicke Flocken segelten auf die Äste des Walnussbaumes, auf die Himbeersträucher und den Sandkasten, der nach ihrem Einzug für die Zwillinge eingefasst worden war. Sie fielen geräuschlos aus einem fahlgrauen Himmel, schwebten zur Erde, wie sie selbst in diesem Augenblick über die Bühne hätte schweben sollen. Sie schlug mit dem Lineal auf den Gips, schaute wieder hinaus.
Auch Lizzy war im Garten, und Karin reckte den Kopf, um sie besser sehen zu können. Schwanzwedelnd sprang die Hündin um Sascha und Christian herum und schnappte nach den Schneebällen, mit denen sie sich bewarfen. Wie schön war es gewesen, am Morgen aufzuwachen und Lizzy vor dem Bett liegen zu sehen. Es war nicht nur ein Traum gewesen. Karin war aufgestanden und hatte Lizzy gefüttert, war sich richtig groß vorgekommen, als sie die Fleischbrocken in den Napf gegeben hatte. Später waren sie zusammen aus dem Haus gegangen. Lizzy jagte gleich davon, aber als die Hündin bemerkte, dass Karin ihr mit dem Gips nicht so schnell folgen konnte, kam sie zurück und blieb an ihrer Seite. Es gab keinen Zweifel, Lizzy gehörte zu ihr, und das fühlte sich wunderbar an. Vielleicht konnte sie ihr erzählen, was sonst keiner wissen sollte, wenn sie gemeinsam durch die Gegend streiften und niemand bei ihnen war. Sie lächelte in sich hinein, denn mit einem Mal spürte sie, dass Lizzy viel mehr sein würde als der Trost für den Umzug aufs Land, als der sie gedacht war.
Hier auf dem Land kannst du einen Hund haben, wenn du willst, sagte der Vater, aber eigentlich wäre sie viel lieber in der Stadt geblieben. Dort kannte sie die Straßen, die Geschäfte und die Kinder aus der Nachbarschaft. Zum Ballettunterricht hatte sie laufen können. Natürlich war die Wohnung im dritten Stock ein bisschen enger geworden, seit die Zwillinge zur Welt gekommen waren, aber das war doch nicht schlimm. Wer brauchte schon ein Esszimmer? Auch die Mutter schien zufrieden gewesen zu sein, und der Vater hatte eine eigene Praxis gehabt mit einem beeindruckenden Schild an der Tür. Dr. med. Wiegand Schmitz. Orthopäde.
Warum nur waren sie in dieses Dorf gezogen?
Weil Papa in der Kurklinik mehr Geld verdient und wir in einem schönen Haus wohnen können. Ihre Mutter erklärte es ihr. Sie sagte auch, es mache ihr nichts aus, sie zum Ballettunterricht zu fahren. Manchmal blieb sie und sah zu, und wenn das Training zu Ende war, kommentierte sie auf der Heimfahrt all die kleinen Fehler, die sie bemerkt hatte. Die Schrittfolgen, die Haltung, die Sprünge, das muss dir in Fleisch und Blut übergehen. Das ist eine Frage der Konzentration. Und deiner inneren Haltung. Mit Nachdruck sagte es die Mutter, predigte es, peitschte es ihr ein. Karin hörte zu und hörte weg, und wenn sie ins Dorf einfuhren, wo die anderen Kinder auf der Straße herumstromerten, wünschte sie sich tatsächlich einen Hund. Einen flauschigen Welpen, der unbeholfen auf sie zu tapsen würde, um sich von ihr auf den Schoß heben und den weichen Bauch kraulen zu lassen, der eher fiepte als bellte und mit schwarzen Knopfaugen alles Neue gierig aufsog, der mit seiner feuchten kleinen Zunge über ihre Finger schlabberte. Ein lustiger Rabauke sollte es sein, und sie würde den anderen Kindern erlauben, ihn zu streicheln, wenn sie nett zu ihr waren.
Heiligabend kam, die Messe und das Krippenspiel, in dem Holger ein dicker Hirte mit fleckig geröteten Wangen war. Im Wohnzimmer leuchteten die Lichter am Baum mit seinem Tannengeruch, vor dem sie das Gedicht aufsagte. Um seinen Stamm herum lagen die Geschenke: glitzernde Ohrringe, ein moderner Allesschneider und die in der Schule gebastelten Strohsterne für die Mutter; der Trockenrasierer, drei Paar Arztsocken und das getuschte Bild für den Vater; die Schlitten, ein Feuerwehrauto, eine Kiste voller Bauklötze und zwei Paar Stiefel für die Zwillinge; ein neues Nachthemd und Die kleine Hexe für sie. Einen Augenblick nur betrachtete sie das Buch, dann ließ sie es in den Schoß sinken und suchte den Platz unter den geschmückten Zweigen verstohlen ab. Das konnte doch nicht alles sein?
Der Vater ging hinaus. Er wolle den Nachbarn ein Frohes Fest wünschen, sagte er, und die Mutter wunderte sich nicht über seinen plötzlichen Einfall so kurz nach der Bescherung. Sie ermahnte Sascha, nicht alle Plätzchen auf einmal zu essen, während Christian die Bauklötze auf dem Fußboden verstreute und aus der Stereoanlage die Stimme von René Kollo erklang. Stille Nacht.
Es dauerte nicht lange, bis der Vater zurückkam. Und er führte sie herein: Princess of Achill Island.
»Ein Irish Red Setter, fünf Jahre alt und gut ausgebildet«, sagte ihr Vater. Die Hündin reichte ihm bis über das Knie. Karin dachte, ihr Fell sei rotbraun, aber ihr Vater nannte es mahagonifarben. Und es hatte einen weißen Brustfleck.
»Es ist genauso wie bei den Menschen«, sagte er, während er Princess of Achill Island durch das Wohnzimmer führte. »Weiß ist zulässig, ganz anders als Schwarz. Schwarz verstößt gegen die Reinheit der Rasse.«
Die Mutter warf ihm diesen merkwürdigen Blick zu, den Karin schon kannte. Es war der Sag-so-was-nicht-vor-den-Kindern-das-soll-man-ja-nicht-sagen-aber-eigentlich-störtes-mich-nicht-Blick. Ihr Vater schien das auch zu wissen. Er lachte triumphierend, bevor er wieder ins Schwärmen geriet. Aus einem untadeligen Wurf stamme das Tier und habe hervorragende Papiere. »Steh!«, befahl er, und sie stand. »Sitz!«, zischte er, und es klang wie das ›Schmitz‹, wenn er jemandem seinen Namen sagte, ihn anschließend buchstabierte: mit Theodor Zacharias.
Die Hündin saß auf den Hinterbeinen, aber der Vater zog sie gleich wieder hoch. Langsam schritt er mit ihr auf den Ledersessel zu, in den Karin sich hineingedrückt hatte.
Ihr Vater grinste. »Sie hat einer Patientin gehört. Rheumatoide Arthritis, ziemlich schwerer Fall. Sie kommt kaum noch vor die Tür, und das Tier braucht viel Auslauf. Sie musste es weggeben. Was für eine Gelegenheit!« Nun feixte er und zählte die Vorzüge der Rasse auf. »Drahtig, agil und athletisch, schlank und kräftig. Diese Hunde sind zur Jagd geeignet und ausgesprochen gehorsam. Und dabei sehr anhänglich an den Herrn.«
Als beide bei Karin ankamen, blieb die Hündin stehen. Karins Vater ging in die Hocke, hob mit der rechten Hand die Schnauze des Tieres an und mit der linken den Schwanz.
»Schau her, wie aristokratisch sie ist und wie wohlproportioniert!«
Er streckte den Körper der Hündin, und Princess of Achill Island ließ es über sich ergehen. Stocksteif stand sie im Griff des Vaters. Mit den Händen zeichnete er die Form ihres Schädels nach, ertastete die Wölbung des Brustkorbs und maß die Länge ihrer Rute. Auch die Festigkeit der Sehnen prüfte er und die Stärke ihrer muskulösen Lenden. Ganz versonnen sah er dabei aus, und das war kein Wunder, denn er war ja ein Experte auf diesem Gebiet. Auch bei ihr testete er immer wieder die Festigkeit der Muskulatur des Rückens und des Bauches, der Arme und der Beine, vergewisserte sich der Lockerheit der Bänder und der Rundung der Hüften, und er tat es genauso gewissenhaft wie bei all den Kindern in den orthopädischen Turngruppen, die er leitete. Es war nun einmal sein Beruf. Er prüfte genau. Er prüfte gern.
Manchmal fand sie, er prüfte zu sehr.
Sie glitt vom Sofa und setzte sich auf den Boden, was mit dem Gips ziemlich umständlich war. Ihr Vater ließ die Hündin los. Die gut Erzogene mit den tadellosen Papieren bewegte sich nicht. Erst jetzt sah Karin, dass das Tier zitterte.
Princess of Achill Island war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte. Ob sie Papiere hatte, war Karin egal, und die Farbe des Fells war auch nicht wichtig. Aber sie war so groß, so erwachsen, so fertig. Ihr Gang war nicht tapsig, und sie schleckte auch Karins Finger nicht ab. Sie fiepte nicht, und es war fraglich, ob sie jemals bellte. Karin hob die Hand, strich zögernd über das glänzende Fell. Ihr Vater wich zurück, und im selben Moment schlich die Hündin einen winzigen Schritt auf sie zu, beschnupperte ihr Kleid und ihre Zöpfe. Karin nahm ihren Kopf zwischen die Hände und sah ihr in die unruhigen Augen.
Sie hatte eine Hündin zu Weihnachten bekommen, eine Dame, die zu ihr passte. Princess of Achill Island. Der Name hörte sich komisch an. Es war ein vornehmer Name, wie er in Märchenbüchern stand, die von Königshäusern handelten, von ihrem Glanz und Glück. Vielleicht war das gelogen. Schon lange beschlich sie dieser Verdacht, denn ihr Vater nannte sie seine Prinzessin, wenn er sich an sie drückte. Princess of Achill Island. Sie legte der Hündin die Arme um den Hals und atmete ihren Duft.
Von nun an war sie Lizzy.
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