Kitabı oku: «Geschichten des Windes», sayfa 2

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Zwei

- 1689 -

Sean war glücklich. Er schaute wieder einmal aus seinem Fenster, doch er hatte nicht mehr diese zermürbende Sehnsucht nach Gesellschaft und Dazugehörigkeit in sich.

Drei Jahre waren ins Land gegangen und ja: Sean hatte Arthur wiedergesehen. Sogar ziemlich oft.

In den letzten drei Jahren gab es viele Veränderungen in Seans Leben.

Er hatte neue Freunde gewonnen. Nun war es nicht mehr nur der alte Angus, zu dem er eine nähere Beziehung außerhalb seiner Familie pflegte, sondern vor allem die Familie Burton, Arthurs Familie. Fiona, die Zofe seiner Mutter war doch tatsächlich Arthurs Mutter! Sean wusste zuvor nichts über ihre Familie, sie war ja nur eine Angestellte.

Nach seinem Ausflug damals in die Stallungen hatte Sean fieberhaft nach einer Möglichkeit gesucht, diesen sympathischen Jungen wiederzusehen. Etwas mutiger geworden, befragte er seine Eltern eines Tages zu den Kindern auf Dunnottar Castle.

„Warum interessieren dich plötzlich diese Kinder?“, hatte seine Mutter Raelyn ihn gefragt. „Du bist etwas Besseres, Sean.“

„Aber Mutter“, widersprach er zum ersten Mal, „Ich beobachte sie schon lange. Sie sind so fröhlich, besonders der eine Junge, der mit den halb langen blonden Haaren.“

„Ich habe keine Ahnung, wen du meinst“, sagte seine Mutter abwehrend.

Sean ließ enttäuscht den Kopf hängen.

Da trat unerwartet Raelyns Zofe zum Tisch, die während des Essens im Hintergrund auf Anweisungen ihrer Herrin gewartet hatte. Sie räusperte sich schüchtern und signalisierte damit, dass sie zu sprechen wünschte.

„Ja, Fiona?“, sprach die Lady von Dunnottar Castle gebieterisch.

„Mylady, wenn ich etwas dazu sagen darf: der junge Laird meint sicher meinen Jungen, Arthur.“ Damit knickste sie vor der Lairdschaft und senkte wieder den Blick.

„Ja genau! Arthur heißt er!“ Sean war aufgeregt von seinem Stuhl aufgesprungen und schaute erwartungsvoll zwischen seinen Eltern und der Zofe hin und her.

„Setz dich, Junge.“ Sein Vater Alistair hatte streng das Wort ergriffen. „Was ist das für eine Aufregung? Und woher kennst du denn den Namen des Jungen?“

Die dunkelbraunen Augen des Lairds strahlten eine Mischung aus Neugier, Belustigung und Zorn aus.

Sean schoss die Schamröte ins Gesicht. Mist! Jetzt habe ich mich doch verraten. Mühsam suchte er nach einer Antwort: „Ähm… Ich war einmal mit Maiga auf dem Hof und die Kinder spielten gerade. Und da ist zufällig sein Name gefallen. Darf ich ihn kennenlernen? Bitte! Er ist doch der Sohn von Fiona und wir mögen Fiona.“

Man konnte in Raelyns Gesicht deutlich erkennen, dass sie zwiegespalten war. Sie schätzte Fiona als eine durchaus ehrbare und anständige Person ein und sie respektierte diese Frau als ihre Zofe, doch trotzdem gehörte sie zum einfachen Volk.

„Ich werde es mir überlegen und jetzt Ende der Diskussion“, ertönte die ernste Stimme der Lady.

„Vielen Dank, Mutter.“

Sean freute sich sehr über diesen kleinen Triumph und wusste, dass dieses Thema noch nicht beendet war. Er fragte höflich, ob er sich entfernen dürfe und ging vergnügt zu seinem Zimmer. Fiona, die sich wieder im Hintergrund hielt, lächelte. Sie mochte Sean und würde sich über eine Freundschaft der beiden Jungen freuen. Alistair lächelte ebenfalls. Er war erstaunt über den aufkommenden Mut seines Sohnes, gegen seine Mutter zu rebellieren. Alistair befand sich seinerseits nicht völlig im Einklang mit der Erziehungsweise seiner Gemahlin und wünschte sich für seinen Sohn schon seit Längerem mehr Freiheiten und Selbstbestimmung. Schließlich würde Sean einmal der Laird von Dunnottar Castle sein. Doch Alistair fehlte oft selbst der Mut, seiner Gattin zu widersprechen.

Als sich ein paar Tage später die Familie McCunham beim Mittagsmahl traf, verkündete Seans Mutter mit gemischten Gefühlen: „Also gut, Sean, du darfst dich mit Fionas Sohn treffen, aber nur unter Aufsicht, versteht sich.“

Sean stand vor Staunen der Mund offen.

„Danke!“

Sean sprang auf, umarmte seine überrumpelte Mutter und dann seinen Vater, der sich über die stürmische und ungewohnte Vertrautheit seines Sohnes freute.

Raelyn strich ihr Kleid glatt, nestelte an ihrer Frisur herum und sagte streng: „Aber jetzt wird gegessen.“

***

Die Treffen der Jungen, die sich als sehr bereichernd für beide erwiesen, wurden immer häufiger und zunehmend länger, und es entwickelte sich eine innige Freundschaft zwischen Sean und Arthur. Obwohl die Jungen unterschiedliche Charaktere hatten, entdeckten sie doch viele Gemeinsamkeiten in ihren Interessen und Meinungen. Seans eher zurückhaltende und durchdachte Art ergänzte sehr gut Arthurs Verwegenheit, die ihn in so manche unangenehme Situation geraten ließ. Besonders an seinem Freund gefiel Sean dessen Humor. So viel wie mit Arthur hatte Sean noch nie zuvor gelacht.

Zuerst durften sich die Jungen nur im Palais treffen, unter der Aufsicht von Maiga oder Fiona, aber Seans Eltern wurden mit der Zeit immer großzügiger. Besonders Seans Mutter bemerkte bald, wie gut dieser Kontakt ihrem Sohn tat. Sean wirkte nun deutlich fröhlicher und aufgeschlossener und das rührte ihr sonst so verstocktes Mutterherz sehr. So durften die Jungen bald, gemeinsam mit der Aufsichtsperson, auf dem Burggelände spazieren gehen und sich sogar in den Stallungen aufhalten. Dass Arthurs Vater Tevin der Stallmeister der Burg war, entpuppte sich hierbei als glückliche Fügung, da auch er die Kinder beaufsichtigen dufte. Die Stunden bei den Pferden waren den Jungen die liebsten. Hier hatten sie sich schließlich kennengelernt und auch Arthur mochte die Tiere sehr. Sean durfte Tevin auch bei der Stallarbeit helfen, was für einen Adligen undenkbar war, und er genoss diese körperliche Tätigkeit sehr. Natürlich musste er sich danach sofort umziehen und gründlich waschen, da seine Mutter diesen grässlichen Mistgeruch verabscheute.

Der Umgang mit den einfachen Menschen bewirkte, dass sich Seans Persönlichkeit und Selbstwertgefühl mehr und mehr entfalten konnten. Er wurde allgemein lockerer und selbstsicherer in seinem Auftreten, und mutiger. So traute er sich immer mehr gegenüber seinen Eltern und forderte vermehrt seine Bedürfnisse und Wünsche ein. Es bereitete ihm fast keine Bauchschmerzen mehr, als er sie schließlich darum bat, auch einmal Arthurs Familie besuchen zu dürfen. Er war zuvor, außer bei Angus, nie in einer Wohnung der Angestellten gewesen. Alistair hatte nichts dagegen, aber Raelyn befürchtete, dass ihr Sohn die höfischen Umgangsformen und das gute Benehmen verlernen würde. Eine Weile sträubte sie sich gegen diesen Vorschlag, doch Seans Drängen wurde immer energischer und auch Fiona redete ihr gut zu.

So kam es, dass Fiona eines Tages den jungen Laird mit zu sich nach Hause nehmen durfte. Sean wurde ab diesem Tag ein häufiger und gern gesehener Gast im Hause Burton und Seans Mutter behielt ihre Bedenken fortan für sich.

Für Sean war es sehr interessant und aufschlussreich, Arthurs Familie kennenzulernen. Er bekam dadurch immer mehr mit, wie es Menschen ging, die in weniger Reichtum als er und seine Familie lebten. Er spürte, dass sie ein bewussteres Leben führten und die Dinge, die sie hatten, mehr schätzten. Arthur musste nicht so auf die Etikette achten wie er selbst und wirkte dadurch wesentlich freier. Gutes Benehmen stand bei der Familie Burton nicht an oberster Stelle, obwohl sie sich gegenseitig und auch dem Laird gegenüber als sehr respektvoll erwiesen. Durch die zahlreichen angenehmen Stunden im Hause Burton entwickelte Sean immer mehr Argwohn gegenüber seinem Stand als Adeliger und fühlte sich zunehmend zu den einfachen Menschen hingezogen.

Die Zeit verging und Sean hatte die Burtons sehr ins Herz geschlossen. Er lernte auch Fiona viel besser kennen, die er bis jetzt nur als zurückhaltende Zofe seiner Mutter erlebt hatte. Im Haus des Stallmeisters entpuppte sie sich als liebenswürdige, warmherzige und starke Frau sowie hingebungsvolle Mutter. Sean ertappte sich manchmal dabei, wie er sich vorstellte, dass Fiona seine Mutter wäre. Sie hatte immer ein offenes Ohr für ihre Kinder und nun auch für Sean. Fiona vermittelte ihm das Gefühl, wirklich willkommen zu sein und schenkte ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, obwohl sie im Palais, im Haushalt und mit den Kindern genug zu tun hatte. Am meisten beeindruckte ihn, dass sie überhaupt nicht selbstsüchtig war. Sie opferte sich bedingungslos für ihre Mitmenschen auf. In der Familie McCunham waren alle ziemlich egoistisch, fand Sean.

Auf ihre eigene Art war seine Mutter Raelyn auch liebenswürdig, aber sie schien meist mit den Gedanken woanders zu sein und kränkelte viel. Bei ihr drehte sich alles um ihre Gesundheit und um das Verhalten als privilegierte Person. Und Seans Vater hatte meistens keine Zeit für ihn. Seine Großmutter war zwar sehr lieb, aber doch auch oft mit sich selbst beschäftigt.

Weiterhin staunte Sean jedes Mal wieder darüber, wie liebevoll Arthurs Eltern miteinander umgingen. Hier spürte er nicht die Mauer der Etikette und Höflichkeit, die zwischen seinen Eltern existierte. Bei Fiona und Tevin wirkte alles sehr herzlich und natürlich. Sean konnte spüren, dass sich diese zwei Menschen sehr mochten.

Neben einem liebevollen Elternhaus hatte Arthur noch etwas, was sich Sean sehnlichst wünschte: Geschwister. Arthurs siebzehnjähriger Bruder Rory sollte traditionell nach Tevin der nächste Stallmeister werden, doch Sean hatte von Anfang an begriffen, dass der verträumte Jugendliche nicht für diese Arbeit geboren war. Er zeigte keinerlei Begeisterung für die Tiere und ging nur lustlos und widerwillig mit seinem Vater in den Stall. Sean beobachtete des Öfteren, wie sich Vater und Sohn stritten, weil Rory nicht gründlich und schnell genug arbeitete.

Und dann gab es noch Shona, Arthurs Zwillingsschwester. Sie hatte das gleiche blonde Haar wie Arthur, Rory und Fiona und trug es meist in zwei langen geflochtenen Zöpfen. Nur am Sonntag, wenn die Familie Burton mit in die Kapelle zum Gottesdienst ging, war ihr Haar zu einem Kranz geflochten.

Shona überragte den zwei Jahre jüngeren Sean und erreichte fast Arthurs Größe. Sie war aufgeweckt und lustig wie ihr Zwillingsbruder und strahlte viel Selbstvertrauen und Lebensenergie aus. Sie half ihrer Mutter fleißig im Haushalt, aber wann immer sie Zeit hatte, ging sie zu den Ställen. Shona liebte Pferde und teilte somit diese Leidenschaft mit Sean. Als Tochter des Stallmeisters durfte sie beim Versorgen der Tiere helfen und sie konnte sogar reiten, was für einfache Mädchen eigentlich nicht üblich war.

Sean sah oft neidisch zu, wie liebevoll die drei Burton-Geschwister miteinander umgingen und wie eng ihre Verbindung zueinander war, besonders die der beiden Zwillinge. Sie waren enge Vertraute und konnten sich, wenn nötig, auch als Einheit gegen ihre Eltern behaupten. Natürlich gehörten auch kleinere Streitigkeiten dazu, aber die Kinder versöhnten sich meistens schnell wieder. Sean hatte niemanden, mit dem er sich gegen seine Eltern verbünden konnte. Doch nun, da er ein enger Freund von Arthur war, wurde er quasi mit in die Familie aufgenommen. Und das tat sehr gut.

Eines Tages erzählte Arthur seinem Freund, dass er noch einen Bruder habe: Jamie. Dieser war das älteste Burton-Kind und jetzt achtzehn Jahre alt. Er sollte eigentlich nach Tevin der Stallmeister von Dunnottar Castle werden, denn so gebot es die lange Tradition der Familie Burton. Doch Jamie schlich sich vor über zwei Jahren des nachts davon und wurde seitdem nicht wieder gesehen. Tevin suchte ihn verzweifelt mit ein paar Freunden ganze drei Tage lang, doch erfolglos. Fiona war am Boden zerstört gewesen und alle fragten sich, warum der Junge weggelaufen war und wo er sich nun aufhielt. Lebte er überhaupt noch?

Nach dieser Enthüllung war Sean sehr erschüttert gewesen und dachte oft an diesen Bruder. So etwas würde er seinen Eltern nie antun, sagte er sich. Er versuchte sich vorzustellen, wie Jaimie aussah und was er jetzt wohl machte. Dass er tot war, wollte Sean nicht glauben.

Drei weitere Monate später und Dank Seans unerbittlichem Drängen, wurde es Sean und Arthur schließlich gestattet, sich für kurze Zeit ohne Aufsicht auf dem Burggelände zu bewegen. Sean musste allerdings versichern, dass er dabei einen Bogen um die anderen Kinder machte, die wirklich kein guter Umgang waren.

Diese neue Freiheit war für Sean wie eine Offenbarung, denn er nahm so das Burggelände ganz anders und viel intensiver wahr. Die Luft wirkte nun frischer, die Gebäude beeindruckender, die Wege steiniger und die Pflanzen grüner. Und die unerreichbare Krone des Eichbaums strahlte eine neue Faszination aus.

„Ich bin schon oft da hochgeklettert“, prahlte Arthur, als Sean wieder einmal sehnsüchtig am Baum emporblickte. „Ist ganz einfach. Soll ich es dir zeigen?“

Verblüfft nickte Sean und schaute staunend zu, wie sein Freund den Stamm hochkletterte und sich an den niedrigeren Ästen emporhangelte. „Wie kannst du so klettern? Das schaffe ich nie!“

„Versuchs doch mal! Soll ich dir helfen?“

In den nächsten Tagen war nun die Eiche das Ziel ihrer Streifzüge und Sean lernte Stück für Stück, mit Arthurs Hilfe, den Baum zu erklimmen. Besonders schwierig war dabei, dass er sich nicht schmutzig machen durfte. Sean erreichte zwar nie denselben Grad von Arthurs Kletterkunst, war aber trotzdem mächtig stolz auf seine neuen Fähigkeiten.

Anfangs fühlte sich Sean noch beobachtet, wenn er mit Arthur draußen war (und seine Mutter tat dies wirklich, zum Glück nie, wenn Sean am Baum übte), aber da nach seinen Ausflügen selten irgendwelche negativen Kommentare von seinen Eltern kamen, wurde er immer mutiger. Die Jungen entwickelten neue Spiele, wie das Versteckspiel auf dem Kirchhof zwischen den Gräbern und sie trauten sich, Pasteten oder andere Leckereien aus der Küche zu stehlen. Die anderen Kinder mieden Sean und nun auch Arthur, weil sie meinten, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Doch Arthur schien das egal zu sein.

Eines Tages nahm Sean seinen Freund mit in die Bibliothek. Arthur war sofort begeistert und staunte über diese Fülle an Büchern.

„So viele Bücher! Die kann ich ja gar nicht zählen! Wer hat die alle gesammelt?“, fragte Arthur, der zuvor nur die Bibel gesehen hatte.

„Mein Ururgroßvater. Er liebte Bücher.“

„Kannst du die lesen? Keiner aus meiner Familie kann lesen. Meine Eltern erzählen uns immer die biblischen Geschichten und schottische Sagen.“

„Ja, ich kann lesen. Sehr gut sogar!“, prahlte Sean und war froh, auch einmal etwas besser als Arthur zu können.

„Ach quatsch, du lügst!“, sagte Arthur. Ungläubig zog er ein beliebiges Buch aus dem Regal heraus und gab es Sean. „Los! Lies!“

Dann hörte er erstaunt zu, wie sein Freund tatsächlich aus dem Buch vorlas. Arthur war so fasziniert, dass er unbedingt auch lesen lernen wollte. Begeistert davon, seinen Freund mit der Faszination für Bücher angesteckt zu haben, brachte Sean Arthur ab diesem Tag das Lesen bei. Arthur war kein dummer Junge und begriff schnell. Es machte beiden viel Spaß, die Fortschritte mitzuerleben und bald konnte auch Arthur leichtere Passagen vorlesen.

Weiterhin verbrachten die Jungen einen Großteil ihrer Zeit bei den Pferden und Seans Wunsch, selbst reiten zu können, wurde immer größer. Besonders, weil Arthur als Sohn des Stallmeisters auch reiten konnte. Als Sean wieder einmal Shona beim Reiten zusah, wurde er wütend und eilte aufgebracht auf direktem Weg zu seinen Eltern.

„Mutter, Vater, ich muss unbedingt reiten lernen! Sogar Shona kann das und sie ist ein Mädchen!“

Alistair und Raelyn McCunham saßen gerade im Speisesaal und genossen ihren Nachmittagstee. Sie hatten seit einiger Zeit die Abmachung, dass ihr Sohn nicht mehr unbedingt bei dieser Zeremonie dabei sein musste.

„Sean, setz dich doch erst einmal“, sprach Raelyn verwirrt aufgrund seines stürmischen Auftretens. Sie war gerade in Gedanken ganz woanders gewesen. Sean setzte sich brav und sammelte sich.

„Nun der Reihe nach, Sohn“, erklang die tiefe, sonore Stimme von Alistair.

„Also, wie ich bereits gesagt habe: ich muss jetzt reiten lernen!“, sagte Sean noch einmal.

Seine Eltern blickten sich an.

Raelyn verdrehte die Augen. „Sean, das hatten wir doch schon: es ist zu gefährlich. Ich wüsste nicht, was ich machen sollte, wenn dir etwas geschieht. Du bist unser einziges Kind.“

„Ja, Mutter, ich weiß. Aber ein richtiger Junge kann reiten und außerdem liebe ich Pferde! Vika ist ganz sanft und würde mich nie abwerfen. Bitte, Mutter!“

Sean war ganz aufgelöst.

Jetzt schaltete sich sein Vater ein. Seine Stirn stand in Falten. Wie konnte er hier vermitteln? Er war schon lange insgeheim der Meinung, dass sein Sohn reiten lernen sollte und nun sagte er zu seiner Gemahlin: „Meine Sonne. Irgendwann muss der Junge es lernen, das gehört sich nun einmal so. Wisst ihr was? Ich werde es ihm selbst beibringen. Dann bin ich dabei und kann ihn vor Unfällen schützen.“

„Au ja, Vater! Ihr seid zu gnädig. Wann fangen wir an?“ Aufgeregt hüpfte Sean um den langen Eichentisch.

Seine Mutter war völlig überrascht. Konnte ihr Gemahl das ernst meinen? Nach längerem innerem Ringen sprach sie, über sich selbst verblüfft: „In Ordnung, meinetwegen. Aber ihr müsst mir versprechen, äußerst vorsichtig zu sein.“

Und das versprachen beide.

Ab diesem Tag übten Vater und Sohn gemeinsam jeden freien Nachmittag. Sean hatte sich am Anfang schwergetan, sich in den Rhythmus seines Pferdes Vika einzufinden. Auch empfand er es als äußerst anstrengend, das Gleichgewicht zu halten und das Tier mit den Schenkeln zu lenken. Sie macht ihrem Namen, der Siegerin bedeutet, alle Ehre, dachte er dabei häufig.

Nach so einem Nachmittag taten ihm meistens die Beine und der Rücken weh. Aber Sean blieb hartnäckig, und sein Vater war sehr geduldig. Als es leichter ging, konnte Sean das Reiten zunehmend genießen.

„Vater, ich kann fliegen!“, schrie er eines Tages von Vikas Rücken aus und Alistair klatschte begeistert in die Hände.

„Ja, Sean. Du machst das wunderbar!“, rief er stolz seinem Sohn zu. Auch Alistair fühlte sich plötzlich leichter.

Sean durfte nun allein weiter üben und es machte ihm viel Spaß. Leider stand der Winter vor der Tür und es wurde zunehmend kälter. Sean konnte bald nur noch selten seine Runden auf Vika über den Burghof drehen.

Doch an einem sonnigen Nachmittag im Dezember sattelte Sean sein Pferd und trabte zum Haus der Burtons. Fiona hörte einen Reiter, schaute aus dem Fenster und bemerkte, dass es Sean war. Sie freute sich immer, wenn der Junge kam. Sie mochte ihn sehr gern. Als sie die Tür öffnete, hatte Sean sein Pferd schon angebunden. Seine Kapuze war verrutscht und ganz außer Atem trat er näher.

„Sean, was ist denn los?“, wollte Fiona ihn fragen, aber dieser hatte bereits die schweren Winterstiefel abgestreift, war ins Haus geschlüpft und die Treppe zum Zimmer der Zwillinge hoch gerannt. Fiona fragte sich kopfschüttelnd, was die Kinder wieder ausheckten.

„Hier, lies das!“, forderte Sean Arthur aufgeregt auf und zeigte ihm ehrfurchtsvoll ein Buch. Arthur, der gerade träumend auf seinem Bett gelegen hatte, schreckte hoch: „Was ist denn, Sean? Musst du mich so erschrecken?“

Sean fuchtelte immer wieder mit einem dünnen Buch vor seiner Nase herum. Als er das erstaunte Gesicht seines Freundes erblickte, beruhigte er sich etwas. „Hier, ich habe ein geheimnisvolles Buch in der Bibliothek gefunden. Du glaubst nicht, was da geschrieben steht!“

Drei

- 1689 -

„Mei…ne R…Reise mit Fran…cis Dra…ke - mein grö…ßtes Aben...teu.er“,

las Arthur stockend.

„Soll ich weiterlesen?“, fragte Sean vorsichtig.

Nickend überreichte Arthur ihm das Buch und sagte schnell: „Handschrift kann ich noch nicht so gut lesen.“

Sean bemerkte, dass Arthur sich schämte und las schnell weiter:

„Am 15. November im Jahre 1577 ging es endlich los. Ich hatte auf der Pelican angeheuert, dem größten Schiff, auf dem ich jemals gewesen bin. Sie war eine niedrige Galeone mit drei Masten, hatte sieben Luken auf jeder Seite und vier im Bug und konnte 100 Tonnen laden. Es waren allerlei Waffen und Munition an Bord, 14 Kanonen unter Deck und zwei Kanonen im Bug. Die Mannschaft bestand aus 70 Seeleuten. Neben unserem Schiff, dem Flaggschiff, fuhren noch vier weitere Schiffe in der kleinen Flotte: die Elisabeth, die Marigold, die Swan und die Christopher. Insgesamt waren wir 164 Männer, die von dem bekannten Seefahrer Francis Drake befehligt wurden. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Welt zu umsegeln und wir waren verrückt genug, uns seinem Vorhaben anzuschließen.

Es war strahlend blauer Himmel, als wir um fünf Uhr nachmittags die Segel setzten und aus der Bucht von Plymouth4 fuhren. Doch als wir immer weiter Richtung Südwesten segelten, zogen plötzlich tiefschwarze Wolken auf und es entwickelte sich ein Sturm, der größer war als alle, die ich je erlebt hatte. Also mussten wir so kurz nach unserem Start im Hafen von Falmouth5 Schutz suchen. Doch der Sturm war so gewaltig, dass wir von unserem Schiff und der Marigold die Masten kappen mussten. So fuhren wir dreizehn Tage nach Beginn unserer Reise wieder in unseren Heimathafen, um alles reparieren zu können…“

„Eine Weltreise! Wie aufregend! Sie mussten die Masten kappen!“ Arthur war ganz Feuer und Flamme. „Lies weiter!“

„…In dieser Zeit hatte ich die erste richtige Gelegenheit, unseren Generalkapitän näher kennenzulernen. Er überwachte die Arbeiten sehr genau und kannte sich in vielen Dingen gut aus. Auch auf unserer späteren Reise, die immerhin fast drei Jahre dauern sollte, bemerkte ich, dass Francis Drake in sämtlichen seefahrerischen Angelegenheiten sehr bewandert war. Er kannte sich außerdem in militärischen und medizinischen Dingen gut aus. So rettete er uns mehrmals das Leben.

Er hatte ein glänzendes Gedächtnis und eine vorzügliche Beobachtungsgabe. Francis Drake redete viel, auch mit Männern, die keine hohe Position einnahmen. Aber vielleicht sollte ich zuerst sein Äußeres beschreiben. Auf seinem untersetzten Körper mit den kräftigen Gliedern saß ein runder Kopf, den braunes Haar und ein Vollbart schmückten. Seine schönen Augen blickten meist hell und fröhlich daher und suchten stets den Augenkontakt des Gegenübers. Francis Drake benahm sich sehr menschlich, auch gegenüber seinen Gefangenen. Er mochte Musik und malte neu entdeckte Arten von Pflanzen und Tieren gern mit Wasserfarbe nach.

Aber wie jeder Mensch hatte er neben seinen vielen guten Eigenschaften auch diejenigen, die seinen Mitmenschen nicht gefielen. So war unser Kapitän arrogant und prahlerisch. Außerdem stellte er eine gewisse Wankelmütigkeit bei Freundschaften zur Schau und war sehr anfällig gegenüber der öffentlichen Meinung. Dass er bei dem Beginn dieses großen Abenteuers erst 33 Jahre alt war, zeigte allerdings, welche großen Fähigkeiten und Erfahrungen unser Kapitän aufwies. Ich hörte ihn einmal sagen, dass er bereits mit dreizehn Jahren mit der Schifffahrt begonnen hatte. Er war am Fluss Medway6 im Südosten Englands als Sohn eines puritanischen Schiffskaplans aufgewachsen…“

„Hast du schon einmal etwas von ihm gehört oder gelesen?“, fragte Arthur unvermittelt.

„Nein, aber er muss damals sehr bekannt gewesen sein“, antwortete Sean.

„…Als dann schließlich alles zur Zufriedenheit unseres Generalkapitäns war, konnten wir am 13. Dezember zum zweiten Mal starten. Nun ging es besser voran und wir fuhren an den Kapverdischen Inseln vorbei nach Südamerika…“

Sean blätterte einige Seiten weiter.

„Dann beschreibt der Autor die Fahrt über den Atlantischen Ozean. Er schreibt, dass er noch nie so lange ohne Land gefahren war und oft Angst hatte“, erklärte Sean.

„…In Brasilien sind wir ein Stück den großen Fluss Rio de la Plata hinauf gesegelt, um unsere Vorräte aufzufüllen. Unsere Hauptprobleme bei der Reise stellten sich schnell heraus: das Wetter, die Besorgung von frischem Trinkwasser und das Zusammenhalten der Flotte.

Auf dem Fluss fanden wir mehrere Felseninseln, auf denen eine große Anzahl von Robben lagerten. Sie waren nicht scheu und wir konnten etliche von ihnen töten. Aus meiner Heimat wusste ich, wie gut ihr Fleisch schmeckt und freute mich sehr, dass wir einige von ihnen als Proviant für unsere Weiterreise verwendeten.

Wir fuhren weiter nach Südwesten an der Küste entlang. Auf einer unserer Landungen am Festland, um wieder Trinkwasser aufzufüllen, kamen uns eines Tages Eingeborene entgegen.

Sie waren von großer Anmut, sauber, kräftig gebaut und hatten Federn im Haar. Bis auf einen Lendenschurz waren sie nackt. Sie trugen ihr Haar sehr lang und damit es sie nicht behinderte, war es mit einer Rolle aus Federn der großen Laufvögel hochgesteckt. Die Eingeborenen hatten ihre Körper mit verschiedenen Farben in vielfältigen Mustern bemalt. Einige schmückten ihr Gesicht mit Schwefel oder Ähnlichem, andere malten ihren ganzen Körper schwarz und nur ihr Hals war vorn und hinten frei gelassen. Sie beteten Sonne und Mond an und waren sehr schnell zu Fuß…“

„Hast du so etwas schon mal gehört? Menschen, die sich den Körper bemalen und mit Federn schmücken! Außergewöhnlich! Lies weiter!“, staunte Arthur.

„…Wir fuhren immer weiter nach Süden, um die berühmt-berüchtigte Magellanstraße zu durchqueren, die Durchfahrt zum Pazifik, dem größten entdeckten Ozean. Sie war nach dem berühmten Seefahrer Ferdinand Magellan benannt, dem Vorbild unseres Kapitäns. Magellan hatte die erste Weltumseglung absolviert. Bei dieser Passage musste Drake sein ganzes Können zeigen. Neben großen Stürmen und widrigen Winden machten uns die vielen Krümmungen und Engpässe der Wasserstraße stark zu schaffen. Oft dachte ich, dass wir nicht weitersegeln könnten. Das Land auf beiden Seiten war sehr hoch und gebirgig…“

„Hier beschreibt er noch eine Weile die Schwierigkeiten der Durchfahrt“, erklärte Sean und blätterte weiter.

„…Kurz vor dem Pazifik zeigten sich unzählige Inseln und weil kein eindeutiger Weg sichtbar war, ruderte unser Kapitän mit ein paar Männern in Booten herum, um die Möglichkeiten einer Durchfahrt zu erkunden. Es war alles sehr nervenaufreibend, aber Drake ermutigte uns immer wieder.

Endlich erreichten wir den Pazifik und segelten die Westküste Südamerikas hinauf. Und wieder kamen wir in einen großen Sturm. Zu unserem großen Bedauern verloren wir die Marigold und wurden stark nach Süden abgetrieben. Wir entwickelten Todesangst, so dass sich die Mannschaft der Elisabeth entschied, nach England zurückzukehren. Als der Sturm endlich vorbei war, blieb unser Schiff, das Drake in Golden Hind umbenannte, allein zurück. Wir hatten einen Anker verloren und waren entsetzlich erschöpft von den Strapazen…“

„Die haben Mut! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das sein muss, auf einem Schiff in einen Sturm zu kommen!“, kommentierte Arthur.

„…An der Küste von Peru suchten wir einen Platz, um auszuruhen und Lebensmittel sowie frisches Wasser aufzunehmen. Wir waren noch nicht lange vor Anker, als wir in einen gemeinen Hinterhalt gerieten. Die dort lebenden Eingeborenen griffen uns hinterrücks an und verletzten einige Männer von uns, Francis Drake dabei schwer. Unser erster Schiffsarzt wurde sogar getötet. Die Eingeborenen hielten uns für Spanier, die Leute, die sie jahrelang unterdrückt hatten. Deshalb waren sie uns so feindlich gesinnt…“

Arthur riss die Augen auf. Er war sprachlos.

„…Unser Kapitän erholte sich zu unser aller Glück wieder und wir konnten weitersegeln. Wir kamen an Valparaiso vorbei. Die Küste war steil und wir suchten ständig nach Nahrungsmitteln und Trinkwasser…“

„Hier beschreibt er die anstrengende Suche nach den Dingen, die sie so dringend für ihre Weiterreise brauchten. Sie kamen dabei immer wieder in Kontakt mit Eingeborenen. Aber Francis Drake und seine Mannschaft waren ihnen gegenüber sehr misstrauisch. Der Autor beschreibt, dass es eine äußerst strapaziöse Fahrt war und sich die Seeleute ständig neuen Gefahren stellen mussten.“

Sean übersprang ein paar Seiten.

„…Bei der Insel Caines gerieten wir in ein starkes Erdbeben, was wir auch auf unserem Schiff extrem spürten. Besonders schlimm aber empfand ich den Kälteeinbruch, der uns bald ereilte. Wir waren nördlich von Guatulco7. Es war gerade Juni, als die Temperaturen plötzlich von großer Hitze in schneidende Kälte umschlugen. Das Fleisch gefror sogleich, nachdem wir es vom Feuer genommen hatten. Die Taue und Takelwerke waren so steif, dass die Arbeit, die sonst drei Männer leisten konnten, nun sechs Männer und nur mit großer Anstrengung bewältigen konnten. Die Mannschaft war enorm niedergeschlagen, aber unser Kapitän ermutigte uns ohne Unterlass und gab uns Hoffnung…“

„Das muss hart gewesen sein“, sagte Arthur kurz. Er wollte schnell weiter hören.

„…Als wir vom Land aufbrachen und Richtung offenes Meer segelten, wurde es wärmer…“

„Weiter geht es um die Überfahrt über den Pazifischen Ozean“, erwähnte Sean. Einige Seiten später las er weiter.

„…Nach 68 Tagen ohne Land zu sichten kamen wir schließlich zu den vier Gewürzinseln8. Der König einer der Inseln war sehr freundlich zu uns und versorgte uns reichlich mit Lebensmitteln…“

Wieder blätterte Sean weiter.

„…Als Nächstes gingen wir vor einer kleinen Insel südlich von Celebes9 vor Anker. Wir verbrachten ganze 26 Tage dort, weil wir einige Reparaturarbeiten zu erledigen hatten. Wir bauten eine Schmiede, um notwendige Eisenteile für das Schiff herzustellen. Dafür mussten wir viel Holzkohle brennen. Die Insel verfügte über ausreichend Lebensmittel und generell gute Lebensbedingungen. So konnten sich unsere erschöpften und kranken Seeleute wieder vollständig erholen.

Die Insel war komplett bewaldet und verfügte über allerhand merkwürdiges Getier. So gab es unzählige Fledermäuse, welche teilweise größer als ausgewachsene Hühner waren und eine erstaunliche Geschwindigkeit aufzeigten. Es sah seltsam aus, wie sie in Trauben kopfüber an den Bäumen hingen.

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