Kitabı oku: «Religion ohne Kirche», sayfa 3

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Die Beschreibung dieses kostbaren inneren Schatzes mag Sie ermutigen, ebenfalls offen zu sein für die Ein-fälle Gottes. Gott, hier in Gestalt des mir so vertrauten und lieb gewordenen Christus, fällt in mich ein, um mir etwas zu verdeutlichen, das mir mit dem reinen Intellekt nicht zugänglich ist. Ich brauchte dazu keinen Theologen oder andersgearteten Mittler. Die logotherapeutische Sitzung stand keinesfalls unter einem explizit religiösen Vorzeichen. Vielmehr hatte ich sogar Bedenken, gleich dazu zu stehen, dass sich mir der innere Verbündete in Gestalt des Christusbewusstseins zeigte. Es erschien mir kitschig und als „Christus-Fan“ dachte ich erst, ich würde mir das im Kopf zusammenreimen oder ein-bilden. Dann aber entfalteten sich die Bilder in mir in solcher Leichtigkeit und rascher Abfolge, dass es sich unmöglich um „Kopfgeburten“ handeln konnte. Als ich diese Gedanken am Ende der Sitzung der Therapeutin gegenüber äußerte, meinte sie mit sanftem Lächeln: „In Wertimaginationen zeigt sich Christus oft – auch bei Menschen, die ihn gar nicht haben wollen.“

Sich dergestalt in die Innerlichkeit zu versenken, mag nicht jederfraus, erst recht nicht jedermanns Sache sein. Es gibt genügend andere Möglichkeiten, sich von Christus berühren zu lassen und ihn in der Tiefe der eigenen Seele neu oder wieder zu entdecken. Verschiedene Anregungen dazu aus meinem eigenen Erfahrungsschatz, wie zum Beispiel Christusbegegnungen in der Systemischen Aufstellungsarbeit oder beim Holotropen Atmen, habe ich an anderer Stelle bereits gegeben.18 Genauso gut kann die Christusbeziehung beim Betrachten eines Bildes oder der Lektüre eines Gedichtes neu aufflammen, im Spiel mit einem Kind, beim Wandern in der Natur oder auch nachts im Traum. Lassen wir uns in unserer Tiefe berühren, wodurch auch immer. Der weltberühmte Franziskanerpater Richard Rohr definiert die Begriffe Mystik oder mystisch als „Religion, die auf Erfahrung beruht. Das ist alles.“19 Dabei ist ja nicht auszuschließen, dass uns Christus sogar in einem klassischen Gottesdienst begegnet. Bei Gott ist bekanntlich nichts unmöglich. Nur das Monopol auf die Vermittlung von Gotteserfahrungen können wir Kirche und ihren Vertreter*innen nicht länger einräumen. Dazu ist die Begegnung mit diesem Christus und die Rückbindung an ihn, re-ligio im Wortsinn, zu wesentlich.

Mit dieser ersten These verhält es sich wie mit Artikel 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wenn wir uns tagtäglich im Umgang mit uns selbst, mit anderen und mit unserem Lebensraum daran erinnern und danach handeln würden, könnten wir uns weitere Normen und Vorschriften sparen. Sobald wir uns auf diesen Jesus von Nazareth be-sinnen und ihn in unserem Alltag zum Maßstab unseres Handelns machen oder uns zumindest darin üben, erübrigen sich alle weiteren Prämissen. So einfach könnte es sein. Aber da wir vor lauter Anweisungen, Vorschriften und Moralgedöns, das die Kirchen diesem Jesus angedichtet haben, gar nicht mehr wissen, was es bedeuten könnte, sich in unserem ganz normalen Leben freud- und kraftvoll an ihm zu orientieren und aus dieser Quelle zu leben, müssen wir uns ein paar Gedanken mehr dazu machen.

„Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“

Gustav Heinemann, Bundespräsident, 1969–1974

2.Es gibt nur eine Konfession.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit machten sich 2019 sogar die deutschen katholischen Bischöfe auf den Weg und beschlossen den sogenannten „synodalen Weg“, was bedeutet, dass Monarchen von ihrem Herrschaftsanspruch insoweit ablassen, als sie in einem jahrelangen „strukturierten Dialog“ mit den Mitgliedern ihrer Religionsgemeinschaft über reformbedürftige Reizthemen diskutieren. Nicht einmal dieses simple „Wir reden miteinander“ lässt sich ohne Proteste und Gegenstimmen umsetzen, aber die Mehrheit derer, die begriffen haben, dass sie nicht herumkommen um einen Austausch auch mit den sogenannten Laien und Laiinnen – hört, hört, sogar mit den Frauen! –, setzte sich durch. Willkommen im 21. Jahrhundert! Was für die evangelische Kirche längst selbstverständlich ist, soll jetzt bei den Katholiken in Angriff genommen werden, zaghaft und kontrovers diskutiert. Der Hintergrund der Widerstände, die sich da regen, liegt im unbequemen Abgeben von Macht, das durch demokratische Prozesse unvermeidlich wird, jedenfalls, wenn man sie ernst nimmt. Durchs mediale Dorf getrieben jedoch wird eine andere Kuh: die Angst vor einem Schisma, einer neuerlichen Spaltung, vor dem „Zerfall der Weltkirche“. Sogar der Chef persönlich meldete sich zu Wort in Form eines Briefes an die deutschen Katholiken20, in dem unterschwellig und schon dadurch, dass ein Papst diese seltene Maßnahme überhaupt ergreift, zum Ausdruck kommt, dass die Deutschen sich tunlichst vor einem Sonderweg hüten sollen. Die römisch-katholischen Schäfchen sollen schön zusammenbleiben; wo kämen wir denn hin, wenn das deutsche Lamm einfach ausscherte! Selbst wenn also in diesem neuen Gremium, das sich Mitspracherechte und offene Diskussionsprozesse ans Revers bzw. den klerikalen Stehkragen heftet, heiße Eisen besprochen werden, darf das von vornherein nicht zu revolutionären Veränderungen führen. Man kann sich vorstellen, wie es laufen wird: Themen wie die Priesterweihe von Frauen, die Behandlung gleichgeschlechtlicher Paare oder auch „nur“ Wiederverheirateter sowie der lebensfeindliche Pflichtzölibat für Priester kommen auf die Tagesordnung und werden weitschweifig über Jahre hinweg in verschiedenen Gruppierungen diskutiert. Damit gibt man sich modern und beruhigt die Öffentlichkeit: „Wir sind auf dem synodalen Weg“, „Wir sind im Gespräch“. Danach bleibt für die nächsten Jahrhunderte alles beim Alten. Gut, dass wir darüber gesprochen haben!

Zerfall der Weltkirche – welche Weltkirche eigentlich? Wenn man diesen Begriff nur auf den eigenen Stall bezieht und alles ausschließlich aus dieser Perspektive betrachtet, könnte man meinen, es gäbe noch eine Einheit. Wenn man aber das ganze Christentum betrachtet – von anderen Religionen als möglichen Zugangswegen zum All-Einen ganz zu schweigen – und sich bewusst macht, wie viele christliche Konfessionen es gibt, stellt sich die Realität ganz anders dar. Von wegen Einheit! Ich werde mich hüten, eine konkrete Zahl zu nennen, da melden sich sicher kluge Menschen, die es besser und genauer wissen. Es kommt dabei darauf an, was man alles dazuzählt bzw. „gelten“ lässt. Neben den zahllosen Konfessionen gibt es Begriffe wie Strömung, Bewegung, Gemeinschaft, Gruppe, Glaubenstradition … Nicht zu vergessen, die überkonfessionellen Glaubensgemeinschaften und Vereine, die dann wiederum nicht verwechselt werden dürfen mit den Konfessionslosen oder gar der Ökumene. Alles klar? Machen wir uns bewusst: All diese Gruppierungen beziehen sich ausnahmslos auf den einen Jesus Christus. Trotzdem verlieren sie sich in Haarspaltereien und bekämpfen einander gegenseitig aufgrund von „Mentalitätsunterschieden“, wie einer der Gründe für Abspaltungen genannt wird. Es handelt sich dabei um Nebensächlichkeiten, die mit dem, worum es eigentlich bei Religion geht, nichts zu tun haben.

Auch in meinem Berufsalltag erlebe ich das immer wieder. Ein Beispiel: In einem evangelischen Jugendprojekt, in dem ich als Beraterin mitarbeite, äußerte ich mein Unbehagen darüber, bei einer Veranstaltung Jugendliche mit Skateboards über den Altar fahren zu lassen. Vielleicht ist man in der zweiten Lebenshälfte ein wenig prüde, aber ich fände es auch nicht witzig, wenn die Jugendlichen über meinen heimischen Esstisch skaten würden. Sofort bekam ich die Breitseite vom Pfarrer: Als Katholikin hätte ich natürlich ein anderes Verständnis vom Tisch des Herrn, der bei uns schließlich geweiht sei. Nach evangelischem Verständnis dagegen sei das eben nur ein Tisch, den man in der Jugendarbeit durchaus einmal anderweitig nutzen könne. Aha. Wenn ich daheim meinen Tisch schön gedeckt habe und mit lieben Menschen um ihn herum versammelt bin, ist das für mich und hoffentlich für all meine Gäste auch ein geweihter heiliger Ort. Selbst nach dem Abräumen des Geschirrs würde ich persönlich die Skater lieber hinunter in den Hof schicken. Im Geiste stehe ich meinem inneren Christus gegenüber und frage ihn, welches konfessionelle Tischverständnis er persönlich bevorzuge. Erst schaut er mich mit seinem klaren Blick unverwandt an, dann bricht er in schallendes Gelächter aus.

Christus war kein Christ

Welche Spaltung soll denn nun also vermieden werden? Anders gefragt: Von welcher Einheit ist da eigentlich die Rede, die angeblich erhalten werden soll? Es ist ja nicht nur ein einziger Riss, der so unübersehbar durch das Christentum geht, sondern im Lauf von zwei Jahrtausenden entstand ein ganzer Flickenteppich. Nun können solche Bodenbeläge bekanntlich hübsch bunt und schön anzuschauen sein, doch wenn der einzig verbindende Faden immer mehr in den Hintergrund tritt und kein Zusammenhang mehr erkennbar ist, kann man irgendwann überhaupt keinen Teppich mehr als tragenden Grund erkennen. Innerhalb der großen christlichen Kirchen ist es oft richtiggehend peinlich, außerhalb von Gottesdiensten den Namen Jesus oder Christus auch nur zu erwähnen. „Wie ist denn die drauf?“ Befremdlich … Andere Strömungen, vorwiegend die freikirchlichen, neigen zum Gegenteil und erschlagen einen in jeder passenden und unpassenden Situation mit Gebeten, Bibelstellen oder frommen Sprüchen. Was mir jedoch oft fehlt, ist das innere Spüren dieses tragenden Grundes, jenseits von Theorien, Glaubenssätzen, Dogmen. Genau da aber fängt re-ligio, Rückbindung, an: im Inneren jedes einzelnen Menschen, nicht im Außen, weder in Vorschriften und Normen noch in festgelegten Ritualen und Bräuchen. Wenn wir uns rückbesinnen auf diese Wurzel und auf das, was dieser Jeschu in die Welt bringen und uns vermitteln wollte, zum Beispiel mit einer Frage wie „Was soll ich dir tun?“ (Mk 10,51), verkommen all die kleinkarierten theologischen Diskussionen von selbst zur Bedeutungslosigkeit. Machen wir uns klar: Jesus war weder katholisch noch evangelisch, er war bekennender Jude. So kann auch für uns Konfession wieder ein Bekenntnis im Wortsinn werden, nämlich zu diesem einen Jesus Christus als Wegweiser und Begleiter zu Gott.

„Der religiöse Mensch der Zukunft wird ein interreligiöser Mensch sein.

Das heißt nicht, dass man zweigleisig fährt, sondern dass man gut beheimatet ist und von da aus in den Dialog geht.“

Sebastian Painadath21

In einem neuen Christus-Bewusstsein leben wir diese Anbindung an die eine göttliche Quelle von innen heraus. Ein beeindruckendes Vorbild für solch eine spirituelle Haltung ist der in Kerala in einem christlichen Ashram lebende und arbeitende indische Jesuit Pater Sebastian Painadath. Neben dem einfachen und naturverbundenen Lebensstil sowie dem Einsatz für die Bewahrung der ökologischen Lebensgrundlagen der Einwohner*innen gibt es dort in spiritueller Hinsicht eine große Besonderheit: Christen, Moslems, Hindus und Buddhisten sind eingeladen miteinander zu beten, quer über alle Religionsgrenzen hinweg. Dem bescheiden und stets in Einfachheit auftretenden indischen Priester geht es darum, alle Wege der Suche nach dem einen Göttlichen zu würdigen und in respektvollem Dialog und gegenseitigem Interesse zu leben. Auf seinen Vortragsreisen und Meditationskursen im Westen hält sich dieser Gelehrte gar nicht auf bei Detailfragen verschiedener christlicher Konfessionen, wie etwa ob ein gemeinsames Abendmahl evangelischer und katholischer Christ*innen „erlaubt“ sei. Die Themen, die kirchlich geprägte Kreise in unseren Breiten bewegen, sind so weit weg von dem, was dieser Mann vermitteln will, dass er bei derartigen Diskussionen zwar fast ratlos, nie aber abwertend wirkt. Ihm geht es um ein inneres Zusammenwachsen der spirituellen Traditionen von Ost und West, um ein tiefes Verständnis etwa der mystischen Weisheitslehre eines christlichen Meister Eckhart ebenso wie der hinduistischen Upanishaden. Und zwar nicht, um eine der Lehren absolut zu setzen, im Gegenteil: Er leitet Menschen an, dem göttlichen Kern in ihrem eigenen inneren Herzensraum zu begegnen und auf der Grundlage dieser tiefen Erfahrungen in den Dialog mit anderen Religionen zu gehen. Wachen wir also auf und lassen auch wir den trennenden „Klein-Klein-Kram“ hinter uns. Das ist ganz leicht. Einfach weglassen und miteinander auf die Suche nach der göttlichen Quelle in uns gehen, jenseits aller Religions- oder Konfessionsgrenzen. So einfach ist das und so befreiend!

Das kann aber nur gelingen, wenn wir endlich aufhören, Religion und Kirche gleichzusetzen. Solange die Frage: „Bist du noch drin?“ im Vordergrund steht und mit Religiosität verwechselt wird, werden wir in unserer spirituellen Entwicklung weiterhin gelähmt bleiben und die Anbindung (re-ligio) nicht spüren. Kirche als Gesamtsystem in ihrem derzeitigen Zustand, egal welcher Konfession, erscheint mir eher als Religions-Verhinderer. Lassen wir uns unsere Zugangswege nicht länger blockieren!

Es ist Sonntagmittag und ich komme zurück von unserem „Sonnengebet“. Erfüllt von einem tiefen Glücksgefühl, geht mir das Wort be-seelt durch den Kopf. Ich ertappe mich dabei, dass ich diesen Begriff manchmal eher abwertend verwende und über jemanden sage: „Der oder die ist mir zu beseelt.“ Heute merke ich, dass genau dieses Wort mein inneres Erleben am treffendsten beschreibt: Die Gemeinschaft, die ich an diesem Vormittag erfahren durfte, berührte mich in der Tiefe. Sie erreichte meine Seele und damit meinen innersten göttlichen Kern. Es ist die Erfahrung, die ich mir in einem Gottesdienst wünsche. Diese unsere Art des Gottesdienstes lernten wir von Pater Painadath: Das auf dem Yoga basierende „Sonnengebet“22 ist ein Beten mit allen Sinnen. Wir beten nicht etwa die Sonne an, sondern beginnen in einer dankbaren Haltung den von der göttlichen Quelle geschenkten Tag. Dabei verrenken wir uns nicht in komplizierten Yoga-Formen, sondern verknüpfen 20 einfache Bewegungsabfolgen mit einem geistigen Impuls. Zum Beispiel strecken wir uns weit nach oben aus, formen die Hände zu einer Blüte und spüren hinein mit dem Gedanken: „Wie eine Knospe warte ich geduldig auf die Entfaltung durch das göttliche Licht.“ Um die Knospe allmählich sich öffnen zu lassen mit dem Satz: „Im göttlichen Licht der Sonne wächst und blüht mein Leben voll Freude.“ Nach ca. 15 Minuten körperorientiertem Gebet beten wir gemeinsam das „Vaterunser“ und setzen uns anschließend für 25 Minuten zur stillen Kontemplation. Danach frühstücken wir bei einem „bring & share“-Buffet miteinander und tauschen uns aus über das, was uns bewegt. Heute stand das Thema Spiritualität im Vordergrund und wir erzählten sehr offen: von unserer Sehnsucht und von enttäuschten Hoffnungen, von schönen religiösen Erfahrungen und von der Verzweiflung der „dunklen Nacht der Seele“. Das alles in gegenseitiger Wertschätzung und Achtung vor der Haltung und den Erlebnissen der anderen, ohne das Wort „Achtsamkeit“ aussprechen oder dazu aufrufen zu müssen. Unsere religiöse Sozialisation spielt nur insofern eine Rolle, als wir uns über unser inneres Erleben austauschen und über den Weg, den wir damit gehen. Ob jemand nicht oder noch oder wieder einer kirchlichen Institution oder religiösen Gemeinschaft angehört, ist unerheblich; zum Teil wissen wir das gar nicht voneinander. Durch die Art des sinnlichen Gebets, mit dem wir diese Mahlgemeinschaft beginnen, und durch das Interesse füreinander entsteht auch bei neu hinzukommenden und einander noch fremden Menschen augen-blicklich wohltuende Nähe. Ich bin sicher: Christus war heute in unserer Mitte und hielt mit uns Mahl.

Ursprünglich hatten wir das „Sonnengebet“ in einem evangelischen Gemeindehaus anbieten wollen. Der Pfarrer, dem ich es beschrieben hatte, war begeistert von der Idee und wollte die Veranstaltung sogar ins Gemeindeangebot aufnehmen. Zuvor sollte ich es im Kirchenvorstand vorstellen, dort wäre man bestimmt sehr angetan. Nachdem ich lange vergeblich auf die Einladung dorthin gewartet hatte, hakte ich nach. Auf meine erste Mail erhielt ich keine Antwort. Auf meine zweite Nachfrage bekam ich brüsk und ohne jede Begründung die Nachricht, man habe sich entschieden, das Angebot nicht anzunehmen. Meine weitere Frage, woran es denn gescheitert sei, blieb ohne Reaktion. Über einen Bekannten erfuhren wir später, dass die Frage dem Kirchenvorstand nie zur Entscheidung vorgelegt worden war. Das Thema sei bereits im Kreis der zuständigen Pfarrer gescheitert mit der Begründung, so etwas passe nicht ins Konzept der Gemeinde. So viel zu den oft als Vorzeigemodell verkauften demokratischen Prozessen innerhalb evangelischer Strukturen.

Ich bin gespannt, was aus all den schönen Räumen wird, über die sowohl katholische als auch evangelische Gemeinden verfügen. Räume nehmen Energien auf und wenn sie irgendwann nicht mehr be-spielt werden, werden sie stumpf und innerlich leer. Ganz davon abgesehen, dass es Menschen braucht, die sich um den Erhalt kümmern, sowohl finanziell als auch ideell. Lassen wir wirklich alles verkommen, was mit viel Liebe, Geld und Zeit aufgebaut wurde, aus lauter Angst vor Veränderung?

Wir sind nun mit unserer „Sonnengemeinde“ einmal pro Monat gegen einen geringen Obolus zu Gast in den Räumlichkeiten eines gemeinnützigen Vereins. Die Fachberatungsstelle kümmert sich um von sexualisierter Gewalt betroffene Mädchen und Frauen, spirituelle Veranstaltungen im engeren Sinn gehören nicht zur Angebotspalette. Doch als ich anfragte, ob wir dort zu unserem „Sonnengebet“ zusammenkommen können, stand die Tür für uns weit offen.

Angst lässt uns eng werden, das lateinische Wort „angustia“, die Enge, erinnert daran. Christliche Glaubensgemeinschaften egal welcher Couleur haben oft so viel Angst davor, auch noch die letzten treuen Anhänger*innen zu verlieren, dass sie eher enger werden, statt einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, warum sie denn mit ihrer Botschaft für Menschen nicht mehr attraktiv sind, nicht anziehend im Sinne einer magnetischen Sogwirkung, die nur durch einen spürbar heilsamen und freudvollen Ruf entstünde. Katholiken in unseren Breiten haben, so scheint es mir, weitestgehend kapituliert. Sie fangen an, mit viel Geld ihre Kirchen rückzubauen, die vor Jahrzehnten mit ebenso viel Geld gebaut wurden. Diejenigen, die noch kommen, sollten es behaglich haben, heißt es. Darüber hinaus redet man sich den Mitgliederschwund mit verbissenen Lippen schön mit der Begründung, es wäre doch wunderbar, wenn künftig nur noch die kämen, die es ernst meinten mit dem Glauben. Auf die Idee, dass der mangelnde Zulauf an den Glaubensinhalten und an der trostlosen Vermittlung der selbigen liegen könnte, kommt man vorsichtshalber nicht. Dabei wäre eine programmatische Neuausrichtung und Be-sinnung nicht nur heilsamer, sondern auch bei Weitem kostengünstiger. Man könnte mit dem eingesparten Geld endlich das tun, wozu jede Religionsgemeinschaft per definitionem aufgerufen ist: aus der eigenen Komfortzone heraustreten und Leid und Not derer lindern, die unserer Hilfe so dringend bedürfen. Wie kann ausgerechnet eine Gemeinschaft so wenig wandlungsfähig sein, die Sonntag für Sonntag oder sogar täglich die Wandlung feiert?

In evangelischen Gemeinden oder Projekten erlebe ich dagegen oft ein inhaltliches Sich-Anbiedern bei den paar wenigen Menschen, die noch kommen. Um sich einen modernen Anstrich zu geben, springt man über jedes sich bietende Stöckchen: „Wir gehen mit der Zeit!“ Im Vergleich zum katholisch starrsinnigen Beharren ist dies das andere Extrem: Man wogt im Namen des Herrn mit jeder Zeitgeistwelle mit, Hauptsache, es wirkt „hip“. Ich glaube, dass langfristig auch diese Haltung, die wie ein orientierungslos im weiten Ozean treibendes Boot jede Trend-Wende mitmacht, genauso wenig tragfähig ist, wie andererseits jedwede fehlende Wandlungsbereitschaft.

Wie aber könnte es anders gelingen? Wo liegt der Schlüssel? Wiederum denke ich, die Lösung ist einfach: Ein erneuertes Christentum legt weniger Wert auf die Hülle als auf den Inhalt. Wir stecken weder Energie in das Aufrechterhalten einer Organisation noch in den Neuaufbau. Die ganze Kraft und Sehnsucht fließt in das, von dem wir spüren, dass es uns in der Tiefe erreicht und wirklich trägt, auch in ungemütlichen Lebenssituationen. Wir geben jede fundamentalistische Einstellung auf und lassen überkommene Deutungen uralter Bilder ein für alle Mal los. Wenn wir uns be-sinnen auf ihren ursprünglichen Gehalt, auf das, was damit gemeint gewesen sein könnte und vor allem, was uns heute daraus an Weisheit und für unsere Zeit not-wendigem Handlungsimpuls erwachsen kann, dann spielen kleingeistige theologische Spitzfindigkeiten plötzlich keine Rolle mehr.

„Das Tatsächliche ist nicht geschehen.

Es geschieht in uns, wenn wir es richtig begreifen.“

Eugen Drewermann23

Bezeichnenderweise findet man die an-stößigsten Impulse bei Menschen, die bei Kirche, zumal der katholischen, in Ungnade gefallen sind. Einer davon ist der bekannte Theologe, Tiefenpsychologe und Buchautor Eugen Drewermann. Den unbequemen Rabbiner Jeschu ließ das damals herrschende Regime aufgrund seiner un-erhört radikalen Lehre ans Kreuz schlagen. Die Mittel und Wege, derer sich mächtige Systeme und die in ihnen agierenden Personen heute bedienen, sind auf andere Art gewalttätig und grausam: 1991 entzog die katholische Kirche Drewermann die kirchliche Lehrbefugnis, dann erteilte sie ihm Predigtverbot, um ihn schließlich 1992 vom Priesteramt zu suspendieren. Angesichts der schonungslosen Radikalität und Aktualität, mit der Drewermann die jesuanische Botschaft eben nicht wörtlich, dafür aber sehr wohl beim Wort nimmt, ist er eindeutig zu ungemütlich für Kirchenobere. Versteht man die Gleichnisse und Geschichten, die dieser Jesus damals erzählte, bildlich und symbolhaft, bekommt das Neue Testament plötzlich einen brandaktuellen Bezug und wir müssen radikal etwas an unserer Haltung und damit in der Welt verändern. Wenn wir das begreifen und uns wirklich darauf einlassen, erreichen uns die hinreichend bekannten Legenden, die wir unzählige Male in Religionsunterricht und Gottesdienst hörten, wieder in der Tiefe unserer Herzen und können gar nicht anders, als uns aufzurütteln.

Ein Beispiel: In einem Vortrag erzählt Drewermann von dem Gespräch, das er mit seinem damaligen Bischof führte, ehe dieser ihn aus den kirchlichen Reihen verstieß. In der Begegnung bekräftigte Drewermann seine Haltung, nach der biblische Bilder eben entsprechend bildhaft auszulegen sind und nicht als historische Tatsachen verstanden werden dürfen. Exemplarisch greift er das Wunder von der Brotvermehrung heraus und zwar so, wie es im Johannes-Evangelium beschrieben ist (Joh 6,9). In dieser Erzählung lässt sich Jesus von einem Kind das Wenige geben, was es hat, nämlich fünf Brote und zwei Fische. Und plötzlich ist genug für alle da! Drewermann legt „seinem“ Bischof den tiefen Sinn dieser Geschichte aus: Natürlich vermehrte der Rabbiner nicht fünf Brote und zwei Fische zu Nahrung für Tausende von Menschen. Wie sollten wir so etwas verstehen oder den Kindern in der Schule erklären: Es gibt einen allmächtigen Gott, der Nahrung für alle herbeischaffen kann, einfach, weil er es will, und zugleich verkündet uns die UNO, dass gerade 20 Millionen Menschen in Nordafrika verhungern? Wenn Gott das nicht verhindert, obwohl er es könnte, so Drewermann weiter, dann gehörte er schleunigst selbst verurteilt wegen unterlassener Hilfeleistung. Der damalige „Noch-Priester“ wendet sich direkt an seinen Vorgesetzten: „Herr Erzbischof, mit dieser Meinung verbreiten Sie nicht Glauben, sondern Unglauben.“ Wie viele andere biblische Geschichten ist auch das „Brotwunder“ eine Legende und die Botschaft richtet sich an uns: Wir sollen das Wunder dieser Verwandlung geschehen lassen und endlich mit den Armen teilen. Stattdessen aber sichern wir unsere Grenzen, lassen die Menschen im Mittelmeer absaufen, verbreiten Angst und schaffen vermeintliche Sicherheit. Schonungslos legt Drewermann den Finger in die weit klaffende Wunde, indem er den Appell Jesu auf unsere aktuellen Systeme Kirche und Staat überträgt. Genau wie die Jünger behaupteten, es sei nicht genug für alle da, heißt es auch bei uns stereotyp, wir hätten nicht genug Geld. „Für Hungernde ist nie genug Geld da, hingegen ist immer genug da für Rüstung, immer genug für Kirchenbauten, immer genug für Personalkosten …“ Und Drewermann betont dem Erzbischof gegenüber dezidiert, das Wunder bestünde nicht darin, dass Jesus damals Brot vermehrte, sondern darin, dass er das menschliche Herz ändert „von uns verdammten Erwachsenen, die nur rechnen können, wie es vernünftig und effizient ist und wie es sich in den nächsten Wahlen politisch auswirken wird“. Jesus öffnete das Herz des Kindes fürs Teilen. Es ist höchste Zeit, dass wir das begreifen. Drewermann konfrontiert den Erzbischof knallhart mit der Realität: „Ob Sie das Wunder der Brotvermehrung glauben oder nicht, entscheidet sich heute Nachmittag.“ Nämlich darin, ob er aus diesem Gespräch hinausginge und bei der kirchlichen Position „Wir haben kein Geld“ bliebe oder ob er den mit dem Bild verbundenen Auftrag, dass wir uns „auf die Socken machen sollen“, ernst nähme und umsetze. Offenbar machte sich der Bischof auf die Socken – und leitete das Amtsenthebungsverfahren gegen Eugen Drewermann ein.

Ein erneuertes Christentum wird die biblischen Geschichten in diesem Sinn des „Hier und Jetzt“ neu lesen und deuten. Wir verstehen sie als ermutigende Vision von einer Welt, wie sie sein kann, wenn wir unsere Herzen füreinander öffnen, bedingungslos und grenzenlos. Wir verstehen die Botschaft Jesu als Appell, den wir ernst nehmen und für bare Münze, ohne ihn wörtlich zu nehmen. Nur so werden wir der Evolution, dem Fortgang der Menschheitsgeschichte und der damit einhergehenden Weiterentwicklung des Bewusstseins gerecht. Um es mit Drewermann zu sagen: „Die Bibel erzählt Visionen, um diese gottverdammte Wirklichkeit zu widerlegen. Das ist ihre Aufgabe: den Traum Jesu von einem kommenden Gottesreich in unsere Seele zu schreiben.“24

Dass diese Art des biblischen Verständnisses, Seins und Handelns konfessionelle Gräben nicht kennt, dürfte sich von selbst verstehen. Doch ein solches Miteinander zieht auch im Umgang mit anderen Religionen keine Grenzen; es muss sich nicht abgrenzen und eng werden aus Angst vor der Position der anderen. Wenn wir heilige Schriften in dieser Weise lesen, werden wir immer versuchen, das Beste aus ihnen herauszudestillieren, nämlich das, was uns selbst inwendig aufrichten kann und was dem gelingenden Miteinander von uns Menschen und aller anderen Geschöpfe auf diesem Planeten am meisten dienlich ist und geeignet, Not und Elend zu lindern. Lassen wir noch einmal Eugen Drewermann zu Wort kommen, diesmal in seinem Dialogbuch „Wozu Religion? Sinnfindung in Zeiten der Gier nach Macht und Geld“ befragt, ob Religionen nicht eigentlich zusammengehen könnten, wenn sie bereit wären, viel von ihrer Macht abzugeben: „Ganz sicher. Sobald sie beginnen würden, von unten her mit Träumen, mit Symbolen, dichterisch, von den Bedürfnissen der Menschen her in Angstberuhigung, Güte und Begleitung, im Nichtverurteilen und im Verstehen sich mitzuteilen, wäre die Herrschaft religiöser Institutionen über Menschen zu Ende. Wir sähen dann Menschen vor uns, die sich langsam aufranken wie Blumen beim Sonnenschein im Frühling.“25 Das Bild passt zu unserem „Sonnengebet“, mit dem wir im kleinen Rahmen einen Anfang dieser wohltuenden Vision leben. Lassen wir sie in unterschiedlichsten Formen überall auf der Welt zur heilsamen Wirklichkeit werden!

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22 aralık 2023
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