Kitabı oku: «Schöner sterben in Wien», sayfa 2
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LILLY
Donnerstag
Den ganzen Tag über hatte ich mich lausig gefühlt, aber dennoch mein Programm wie ferngesteuert abgespult. Zu meinem Glück war der Baumeister-Geburtstag besser verlaufen als befürchtet und gespuckt hatte der Gute auch kaum.
Zu Hause hatte ich mich nach einer schnellen Dusche im Pyjama an meinen schönen Nussholztisch gesetzt. Ebenda kauerte ich jetzt und betrachtete zum wahrscheinlich tausendsten Mal den Führerschein.
Sie war wieder da.
Jana.
Eine weitere in meinem Kopf eingesperrte Zecke, die sich in mein Gewissen bohrte.
Ich hatte die Meisterleistung vollbracht, gleich mehrmals in meinem Leben einen Unfall vertuschen zu müssen. Gruselig. Derartiges blieb natürlich nicht ungestraft. Wenn einen schon nicht die Polizei erwischte, so doch die Schleifen im Kopf.
»Man sieht sich im Leben wirklich immer zweimal«, murmelte ich leise und musterte das verräterische Stückchen Plastik. Kaum war es mir gelungen, meinen fatalen Georg-Fehler halbwegs aus der Welt zu schaffen, schon legte sich der nächste Schatten aus der Vergangenheit über mein Leben. Und jetzt fielen sie gemeinsam über mich her. Die Bilder schossen mir durch den Kopf.
Jana Jelinek, die hübsche blutjunge Hotelprostituierte aus Prag. Georg, der erfolgreiche Schauspieler, der dort einen Film dreht. Ich, die ihn am Set besucht und sie nackt in seinem Bett vorfindet. Der Zoff, als er abstreitet, sie gebucht zu haben. Der fatale nächste Tag, als Jana mir aus Rache in unserem Hotelzimmer Kokain unterzujubeln versucht. Wobei ich sie ertappe, sie mich angreift und dabei so unglücklich stürzt, dass sie sich am Couchtisch das Genick bricht.
Noch mehr Bilder. Der verrenkte Körper, Georgs Panik vor dem Ende seiner Karriere, sollte alles auffliegen. Und ich, die dafür sorgt, dass ihr Tod zwar wie der Unfall aussieht, der er ist, man sie aber nicht bei uns im Zimmer findet.
Wie um alles in der Welt kam jetzt ihr Führerschein in meine Handtasche? Und wer war sie gewesen, diese puppenhafte Spontanblondine Anfang 20 mit den schlecht operierten Brüsten, dem dürren Körper und der Ausstrahlung eines Teenagers?
Bis auf mein Gewissen hatte mich bis dato nie jemand mit dem Geschehenen konfrontiert. Mit meinen Lügen. Der Vertuschung. Dem Drücken vor jeglicher Verantwortung. Und nun – aus dem Nichts heraus – diese tickende Zeitbombe, der Beweis dafür, dass jemand Bescheid wusste und sich rächen wollte! Subtil. Genussvoll. Und ohne Eile.
Woher um alles in der Welt kam dann dieses Gefühl von … Erleichterung? Dieser Riss in meiner Lethargie? Gestern noch hatte ich gedacht, dass etwas passieren müsste, weil das tiefe Loch, in dem ich steckte, mich zu ersticken drohte. Und jetzt, da es keine Alternative mehr gab außer die, alles zu gestehen, fühlte ich mich besser als je zuvor in den letzten Jahren. Was stimmte bloß nicht mit mir?
Nachdenklich schlenderte ich zur Terrassentür und schaute hinaus in den dunklen Garten. Es ist die Gelegenheit, zumindest ein wenig Buße zu tun, Lilly, dachte ich. Löse dieses Rätsel, wo immer es dich am Ende hinführt. Vielleicht bringst du danach ja sogar den Mut auf, endlich auch jemandem von Georg zu erzählen. Es muss ja nicht gleich die Polizei sein.
Ich ballte die Fäuste. Meine Müdigkeit verschwand.
Wenn ich der Sache auf den Grund gehen wollte, musste ich zunächst mehr über Jana wissen. Die große Frage war also, wer mir dabei helfen konnte.
Zunächst versuchte ich es auf dem naheliegenden Weg. Facebook und Instagram.
Jana Jelineks gab es zuhauf, aber keines der Profile passte, auch keines, das seit Jahren inaktiv war. Es wäre auch zu schön gewesen. Ein paar Klicks, ein Account, einige alte Fotos oder Ähnliches, was mich weiterbringen würde. Doch so: nada.
Google war ebenfalls unergiebig. Jana hatte es zwar damals als Leiche online geschafft, aber die wenigen Berichte, die ich fand, waren alt. Ich hatte einfach nicht genügend Fakten, nach denen ich suchen konnte.
Als Nächstes kam mir in den Sinn, offiziellere Quellen anzuzapfen. Zeitungskollegen etwa. Ich kannte einen Redakteur bei einer der großen überregionalen Tageszeitungen »Lidové Noviny« und jemanden beim Boulevardblatt »Aha!«. Aber ich hatte Angst, schlafende Hunde zu wecken. Da Janas Tod nach wie vor als Unfall eingestuft wurde, hatte es nie offizielle Nachforschungen gegeben, lediglich Spekulationen. Die Kollegen waren damals schnell auf aktuellere Themen übergesprungen – und der Fall Jelinek war in der Versenkung verschwunden.
Ohne Vor-Ort-Recherche würde ich also nicht weiterkommen. Doch genau das wollte ich vermeiden. Die Kollegen würden sofort Lunte riechen, wenn eine Wiener Journalistin in der alten Geschichte herumwühlte. Noch dazu eine, die auf dubiose Art und Weise in den Fall verstrickt war. Schlimmstenfalls würde es sogar erneut die Polizei auf den Plan rufen. Mit Schrecken erinnerte ich mich an das Duo, das mich damals in Prag ausgequetscht hatte: eine mit allen Wassern gewaschene Fahnderin und ihr mausartiger Kollege mit scharfem Blick. Geglaubt hatten sie mir nicht, mich aber, aus Mangel an Beweisen, gehen lassen müssen. Die würden doch vor Wollust platzen, wenn ich jetzt Akteneinsicht forderte!
Es über ein Standesamt oder Magistrat zu versuchen, erschien mir ebenfalls nicht ratsam. Tschechien funktionierte in Sachen Datenschutz nicht anders als Österreich. Wer Informationen wollte, musste gute Gründe vorweisen oder einem bestimmten Personenkreis angehören. Im Online-Telefonbuch gab es seitenweise Jelineks, quer über das Land verteilt. Auch das also eine Sackgasse.
Was war mit anderen Suchmaschinen? Für eine Reportage hatte ich einmal herausgefunden, dass Google zwar in 90 Prozent aller Länder weltweit Marktführer war, nicht aber bei unseren nördlichen Nachbarn. Vermutlich wegen der sprachlichen Besonderheiten. So viele seltsame Zeichen oben auf den Buchstaben verlangten Regionalkompetenz. So hatte sich dort ein Portal namens seznam.cz etabliert. Was mir auch nicht half, da ich kein Wort Tschechisch sprach.
Aber ich kannte jemanden, der es im Blut hatte.
3
LILLY
Freitag
Ferdinand Houdek.
In seiner Geburtsurkunde stand zwar »Vlastemil«, aber zu seinem Glück besaß er – in Tschechien eigentlich eher unüblich – einen zweiten Vornamen, den er kurzerhand zu seinem ersten umfunktioniert hatte. Auf meine Frage: »Warum hast du denn keinen ›Emil‹ daraus gemacht, das würde doch naheliegen?«, hatte er – in Anspielung auf den Erich Kästner Klassiker – einst gebrummt: »Geh’ in Oasch damit, ich bin doch kein Detektiv!«
Ferdinand also, besser gesagt, Ferdl Houdek, gebürtiger Pilsner, trotzdem leidenschaftlicher Weintrinker, blitzgescheit, liebenswürdig, verlässlich und mein mit Abstand liebster Kameramann. Wie viele Höhen und vor allem Tiefen des Gesellschaftslebens wir schon miteinander durchlitten hatten! Der kurz geschorene, untersetzte Ferdl, der seinen grauen Fünftagebart genauso zelebrierte wie seine ärmellose hellbraune Jacke mit den tausend Taschen und der mich schon zigmal aus den dicksten Fettnäpfchen gerettet hatte. Trotzdem Pilsen in seiner Geburtsurkunde stand, war Ferdl Urwiener. Er war als kleines Kind in die Stadt gekommen und im Arbeiterbezirk Brigittenau aufgewachsen.
Ich fand ihn, wie nach Dienstschluss nicht anders zu erwarten, im Schanigarten seines Lieblingslokals, einer Weinstube in der Josefstadt, vor einem Glas Gelbem Muskateller und einem Schwarzwurzelsalat. Es war für die Innenstadtlage unvermutet grün hier und wie immer überfüllt, doch Ferdl kannte die Besitzer und bekam jedes Mal einen Platz.
»Na, Mädel, wo drückt denn der Schuh?«, kam er unverblümt zur Sache, nachdem ich bei der netten Bedienung ebenfalls Weißwein bestellt hatte.
Auf dem Weg hierher hatte ich mir zwar eine Strategie überlegt, aber diese schnell wieder verworfen. Ferdl kannte mich genau und durchschaute mich meist schon nach drei Sekunden. Daher entschloss ich mich dazu, halbwegs ehrlich zu bleiben.
»Ich möchte mehr über eine bestimmte Person aus Tschechien herausfinden und weiß nicht, wie.«
»Privat?«
Wenn es nicht sein musste, war Ferdl auch kein Freund vieler Worte.
»Hmmm!«
»Na, dann lass hören!«
»Es geht um ein Mädchen. Sie selber ist schon verstorben, und mich würde interessieren, ob sie noch Verwandte hat. Wie soll ich das denn am besten angehen? Über die Suchmaschinen oder die Sozialen Medien habe ich nichts gefunden und bei seznam.cz komme ich mit meinem Tschechisch sowieso nicht weiter.«
Ferdls hellgraue Radaraugen musterten mich durchdringend. »Dein Tschechisch existiert ned, dívka!«
Weil er den Begriff öfters verwendete, kannte ich seine Bedeutung: Mädchen.
»Um wen dreht sich’s denn genau?«
»Ähm …«
»Lilly! Raus mit der G’schicht!«
Eine kleine Atempause hatte ich noch, denn soeben stellte die Bedienung mein Vierterl Grünen Veltliner auf den Tisch. Bedächtig nahm ich einen Schluck, unverwandt beobachtet von meinem Gegenüber.
Also gut.
»Na ja, es geht um die Prostituierte, die damals in Georgs Hotelzimmer war und danach die Treppen hinuntergestürzt und gestorben ist. Jana hieß sie. Jana Jelinek.«
Genauere Details hatte außer mir nur einer gekannt: Georg. Nach seinem Tod hatte ich nie wieder darüber gesprochen. Was ich Ferdl hier also präsentierte, war die allgemeingültige Version der Ereignisse.
Der seufzte. Und bewies einmal mehr: Wenn er wollte, gab es ihn auch in fast perfektem Hochdeutsch. »Das war alles doch schlimm genug für dich, Mentscherl! Warum zerkaust denn jetzt so ein altes Zuckerl?«
Ich legte die Karten auf den Tisch. »Stell dir vor, ihr Führerschein war in meiner Tasche! Ist doch völlig schräg, oder? Wo ich die nur einmal getroffen habe, ganz kurz, und das ist Jahre her!«
Ferdl schwieg. Wusste, dass ich gleich weitermachen würde.
»Das wirklich Merkwürdige ist aber, dass ich die Tasche erst viel später gekauft habe und damals in Prag noch gar nicht hatte!«
Ich biss mir auf die Unterlippe und ließ meinen Blick über den voll besetzten Gastgarten schweifen, der an einer hässlichen Brandmauer endete. Was allerdings dem Charme des Heurigen keinen Abbruch tat, im Gegenteil. In einem Reiseführer würde dazu wohl stehen: »typisches Wiener Flair«.
Ferdl sagte immer noch nichts, hatte aber inzwischen sein Glas geleert. Unauffällig winkte ich der Bedienung, die sofort verstand und uns zwei bis an den Rand gefüllte neue brachte. Dankbar lächelte ich ihr zu. Für dieses Gespräch brauchte ich den Wein ganz dringend. Oder einen Schnaps. Oder beides.
»Was ich weiß, ist, wann ich sie zuletzt dabeihatte«, fuhr ich fort. »Es war bei dem Event neulich im Rathaus. Irgendjemand muss mir den Führerschein also an diesem Abend untergeschoben haben. Aber das ergibt doch keinen Sinn!«
Es dauerte, bis Ferdl sich zu einer Antwort hinreißen ließ. »Für deinen Irgendjemand schon. Der hat ohne Zweifel einen sehr guten Grund. Und jetzt hast du Zores!«
Oh, ja, Schwierigkeiten hatte ich in der Tat. »Was soll ich denn jetzt tun? Hast du eine Idee?«
Statt mir zu antworten, winkte Ferdl der Kellnerin. »Mirli, bring mir bitte an Bröselfetzen mit Hongkongschotter! Ich hab noch Hunger!«
Trotz der angespannten Lage musste ich lächeln. So stilecht konnte nur er ein Wiener Schnitzel mit Reis bestellen.
Ferdl lächelte. »Ich nicht. Aber du, sonst wärst doch nicht hier!«
Ich gab auf. »Stimmt. Sag mir doch bitte zuerst, was du denkst!«
Mein Lieblingskameramann mochte auf Außenstehende manchmal ein wenig grobschlächtig wirken, aber er war ein hochsensibler Kerl mit feinen Antennen. Und er enttäuschte mich nicht. »Von mir aus«, sagte er. »Also für mich klingt das nicht nach einem Profi.«
Da hatte er den Finger auf einen wichtigen Punkt gelegt. »Du meinst, dass es jemand ist, der Jana kannte und ihr vielleicht nahestand?«
Er nickte. »Schon! Und der nicht recht weiß, was er machen soll, aber auch nicht kuschen will. Jetzt lässt er es drauf ankommen.«
»Worauf ankommen?«
»Na, wie du reagierst. Der glaubt vielleicht, du weißt viel mehr, als du zugibst, und schickt dir eine Botschaft!«
»Meinst du jemanden aus ihrer Familie? Freunde? Ein Lebensgefährte?«
Ferdl verzog die Mundwinkel. »Was weiß ich?« Dann beugte er sich nah zu mir. »Ich lehn’ mich jetzt weit aus dem Fenster, aber, ehrlich g’sagt, ich als Mann würde so eine Aktion nicht schieben!«
Ich hielt kurz den Atem an. Musterte sein liebenswertes breites Gesicht mit der Knollennase. Soeben hatte er meine Vermutung bestätigt. Gab es tatsächlich eine Jana nahestehende Frau, die Bescheid wusste und es mich auf diese Art und Weise wissen ließ?
»Kannst du mir dabei helfen herauszufinden, ob sie noch lebende Verwandte hat? Vielleicht eine Schwester, Mutter oder Tante? Eine Tochter wäre für eine solche Aktion ja wohl noch zu jung.«
Er nickte.
Lächelte.
Hob fröhlich die buschigen Augenbrauen.
Seine Verwandtschaft war zahlreich und notorisch neugierig.
Zufrieden schluckte er den ersten Bissen seines Schnitzels.
Wir waren auf der Jagd.
4
LILLY
Salzburg, eine Woche später
»Die Salzburger Festspiele, der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres, wurden heute Vormittag mit einem großen Festakt in der Felsenreitschule eröffnet. Beherrschendes Thema neben der Kunst: der Klimaschutz!«
Kunst und Klimaschutz. Die moderne Version von k. und k., dachte ich, während ich dem ZIB-Live-Einstieg meines Kollegen lauschte, der in meiner Nähe stand und wie alle anderen gespannt der großen Premiere entgegenfieberte, die in 15 Minuten beginnen würde. Mein Blick glitt über die versammelte Menge aufgedonnerter Menschen, während meine Gedanken zu ebendiesem Festakt ein paar Stunden zuvor abschweiften.
Ich hatte seitlich im Saal gesessen, hatte während der Reden in die wohlwollend lächelnden, undurchdringlichen oder schläfrigen Gesichter des Publikums geschaut und mich gefragt, wie viele von ihnen wirklich dazu bereit wären, auf ihre fette Karosse zu verzichten und stattdessen freudestrahlend einen Baum zu umarmen.
Wie immer fand ich das ganze Brimborium amüsant, mehr aber auch nicht. Für meinen Geschmack waren hier zu viel imperiale Macht, dicke Bankkonten und Botox versammelt. Das Wetteifern ums Gesehenwerden ergab allerdings immer gute Fernsehbilder, genauso wie all die Bussi-Bussis in ihren teuren Roben, die raffiniert so vieles verbargen: Wohlstandsfett, Anorexie und Gesinnungen aller Art.
Das Durchschnittsalter des Publikums gab auch Anlass zur Sorge. Von der heute viel zitierten Jugend war hier kaum etwas zu sehen. Ihr waren wohl eigener Aktionismus und die Straße als Bühne lieber als zur Schau gestellte Künstlichkeit.
Mein langes rotes Kleid schnürte mich ein und nahm mir die Luft zum Atmen, aber dank meiner bequemen Tanzschuhe war wenigstens an den Füßen Ruhe. Heute würde es noch lange kein Entkommen in bequeme Jeans und Sneakers geben. Denn während mein kunstsinniger Kollege Elias für die kulturellen Belange zuständig war, durfte ich mich um den »gesellschaftlichen« Teil kümmern, sprich diverse Empfänge der Hauptsponsoren abklappern und natürlich von dem Davor und Danach dieser Premiere, einmal mehr eine Mozart-Oper, berichten.
Nach dem vormittäglichen Festakt war ich am Mittag zum Empfang des neuen Hauptsponsors der Festspiele ins direkt an der Salzach gelegene Hotel Sacher Salzburg marschiert, über den mit Tausenden Schlössern verzierten Makartsteg.
Der Hauptsponsor war interessant, aber man hatte mir strikt verboten, über das Tuschelthema derzeit zu sprechen: darüber, dass die Festspiele mit Freuden dessen steuerschonend in der Schweiz geparktes Geld annahmen, ohne sich weiter an seiner Geschichte zu stören: Der Milliardenkonzern hatte in der NS-Zeit jede Menge jüdisches Raubgut transportiert.
Ich schüttelte die finsteren Überlegungen ab und kehrte zu den aufgeregten Premierengästen zurück. Es waren jedes Jahr dieselben Gesichter. Gäbe es nicht die neuen Kleider, könnte ich genauso gut das Material aus dem Vorjahr nehmen. »Stell dir vor«, fragte ich meinen heutigen Kameramann Marco, der gerade sein Zeug zusammenpackte, »Mozart würde heute leben. Was, glaubst du, würde ihm zu all dem einfallen?«
Der grinste. Er war jung und interessierte sich für Gaming-Computer und Deutschrap. Sein Smoking hing an ihm herunter wie ein Zelt. »Na, der würde wahrscheinlich das Geld dieser Säcke nehmen und mit einer Klima-Symphonie auf Welttournee gehen. ›C02 fan tutte‹ oder so, per Schiff natürlich und in lauter ausverkauften Stadien!«
Jetzt grinste auch ich.
Da fiel mein Blick auf einen attraktiven Mann mit grauem Haar. Groß, schlank, gebräunt, perfekt geschnittener Smoking. »Ach, da schau her«, murmelte ich erfreut, »schon wieder du!«
Das jugendlich wirkende Gesicht, das so ansprechend mit den grauen Haaren kontrastierte, gehörte keinem Geringeren als meinem Gin-Tonic-Mann aus dem Wiener Rathaus von letzter Woche! Mit einem Mal wurde der Abend interessant. Das war aber auch ein gestanden schönes Mannsbild! Sein Alter? Schwer zu schätzen. Vielleicht Ende 40? Mr. Grey schien allein da zu sein.
Leider ertönte gerade die Glocke zum Beginn der Premiere, und da sich die Menge daraufhin geschlossen in Bewegung setzte, verlor ich ihn aus den Augen. Mit ein wenig Glück würde ich ihn nachher auf der Premierenfeier wieder treffen und mehr erfahren. Hier kam man schnell unverbindlich ins Gespräch.
Schon lange nicht mehr hatte ich jemanden auf den ersten Blick so attraktiv gefunden.
Allerdings: Auch bei Georg hatte ich nur ein paar Sekunden gebraucht, um ihm zu verfallen.
Mit schauerlichen Folgen.
5
MARLENA
Prag, zur selben Zeit
Schon am zweiten Abend hatte sie das System durchschaut, weil es im Grunde genommen weder verdeckt ablief noch jemanden sonderlich interessierte.
Außer sie, natürlich.
Marlena schlug ihre kurzen Beine übereinander, die in für sie ungewohnten schwarzen Hosen steckten. Normalerweise waren sie nur Jeans oder Cargos gewohnt und flache Schuhe an den Füßen. Doch dort quälte sie jetzt ihr einziges Paar High Heels. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie heute mit Blasen an den Fersen und gefühlsarm gequetschten Zehen nach Hause gehen.
Wenigstens passte ihr das Zeug noch, zugenommen hatte sie also nicht. Auch das ebenfalls schwarze ärmellose Oberteil mit dem enganliegenden Kragen hütete sich davor, unbequem zu sein, und streckte ihre eher stämmige Figur.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Wasser, wobei der Lippenstift unschöne Flecken am Glas hinterließ, kratzte sich am Ohr und dachte sehnsüchtig an ihre bequeme Zweitgarderobe in der eleganten Ledertasche zu ihren Füßen. Und dass sie angemalte Lippen hasste.
Ihr Cousin Jani schien nicht zu bemerken, wie unwohl Marlena sich fühlte. Er lungerte in seiner lässigen Freizeitkluft im Polstersessel neben ihr und war ganz in sein Smartphone vertieft. Wieder einmal Fortnite, mutmaßte Marlena. Seit ein paar 17-Jährige die WM gewonnen und Millionen von Dollars kassiert hatten, arbeitete er Tag und Nacht daran, deren Nachfolger zu werden.
Seine ersten paar Kronen würde er sich jedenfalls heute Abend verdienen. Nicht mit Fortnite natürlich. Es gab keine bessere Tarnung als einen desinteressierten, schlampig angezogenen 14-Jährigen, deshalb hatte sie ihn gerne für seine Anwesenheit bezahlt. »Echt jetzt?«, hatte Jani erfreut gemeint. »Es gibt bar Kralle fürs Herumlungern und Gamen? Cool! Kann ich daraus ein Businessmodell machen?«
Sie hatte ihn am Schlafittchen gepackt. »Nein. Und kein Wort zu irgendjemandem, sonst ist die Kohle futsch, verstanden?«
Und da saßen sie nun.
Gestern war sie nur hier gewesen, um das Terrain zu erkunden, aber das hatten ein paar Typen falsch verstanden und sie angequatscht. Weil sie weder Lust auf eine Wiederholung hatte noch auffallen wollte, hockte jetzt Jani neben ihr und machte sie quasi unsichtbar.
Unauffällig ließ sie den Blick schweifen.
Das war in der Tat ein nobler Schuppen. Hypermodern, mit viel grauem Glas und Holz. Der Luftraum über der Lobby zog sich bis unter die Glaskuppel in mindestens 20 Metern Höhe. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie den Abendhimmel sehen.
Die Sessel, in denen Jani und sie Platz genommen hatten, waren aus dunkelgrünem Leder und standen auf einem farblich passenden dezent gemusterten Teppich. Das Ambiente gab sich kühl, aber dennoch ansprechend. Auch viele andere Gäste schienen so zu empfinden und hatten sich – versorgt mit Bier, Wein und anderen Flüssigkeiten – ebenfalls hier niedergelassen. Ein trotz Sommertemperaturen flackernder fünf Meter breiter Kamin mit Gasflammen tat ein Übriges.
Marlenas Blick fiel auf die junge Frau, die ihr schon gestern aufgefallen war. Sie saß sehr aufrecht etwas abseits in einem Stuhl, trug ein enges schwarzes Kleid, das knapp über dem Knie endete, und hohe silberne Schuhe. Das schwarze Haar war aufgesteckt, das Make-up dick, aber unaufdringlich. Seit gut 20 Minuten hatte sie ihr Telefon nicht aus der Hand gelegt und fest umklammert gehalten, während ihr Blick sich im Nichts verlor.
Jetzt ging ein Ruck durch ihren üppigen Körper. Offensichtlich war eine Nachricht eingegangen. Kurz musterte sie das Display, dann stand sie auf und schlenderte zu den Aufzügen.
Dort wartete Marlena schon, lächelte sie unverbindlich an und stieg in den Lift, der innen mit grauem Glas versehen worden war, in dem sich ihre beiden Silhouetten schmeichelhaft spiegelten.
»Wohin?«, fragte die Frau mit leiser Stimme.
»23, bitte«, sagte Marlena und nannte das oberste Stockwerk mit der Rooftop-Bar. Die Frau würde damit jedenfalls früher aussteigen.
Sie drückte auf den Knopf mit der 17.
Ein leises Ping zeigte das richtige Stockwerk an.
Die Frau straffte sich erneut, trat aus dem Lift und wandte sich suchend nach links. Marlena folgte ihr mit etwas Abstand. Auch hier war alles in Grau und Grün gehalten, dazu Holztüren mit dezent angebrachten Nummern. Eine davon wurde eben geöffnet.
Marlena beeilte sich. Im Vorbeigehen fiel ihr Blick auf einen dünnen Mann in Anzughose und offenem Hemd, der der Schwarzhaarigen ein Glas Sekt anbot und sie gierig anlächelte. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Bestätigt fuhr Marlena zurück in die Lobby und setzte sich wieder zu Jani, der ihre kurze Abwesenheit kaum bemerkt zu haben schien. »Okay, Bro, das war’s für dich!«, sagte sie leise. »Dein Geld hast du ja schon bekommen, jetzt zisch ab!«
»Das war’s schon?«, wunderte sich ihr Cousin, trollte sich aber ohne Widerstand.
Eine Stunde später war die junge Frau wieder da. Mittlerweile zeigte die Uhr fast Mitternacht. Ohne nach links oder rechts zu schauen, ging sie zum Empfang, wo mittlerweile die Nachtschicht übernommen hatte – in Form eines dicklichen Mittvierzigers mit schütterem Haar. Ungerührt nahm er das Kuvert, das sie ihm zuschob, und ließ es verschwinden. Die ganze Aktion hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Danach wandte sich die Frau ab und machte sich auf den Weg nach draußen.
Marlena folgte ihr unauffällig. Ihre hohen Schuhe hatte sie vorhin gegen Sneakers eingetauscht und dazu George Michaels »Freedom« gesummt. Nach ein paar Metern tat die Schwarzhaarige es ihr gleich, schlüpfte in flache Gesundheitstreter. Mit dem Schuhwechsel sackte sie in sich zusammen, zog frierend eine schwarze Strickjacke über die Schultern und näherte sich einer Haltestelle. Als der Bus kam, stieg Marlena hinten ein, die Frau ganz vorne.
Zehn Minuten später verließ sie ihn wieder, mitten im ehemaligen Arbeiterbezirk Zizkov, der sich in den letzten Jahren immer mehr zum Künstlerviertel gemausert hatte und – aus der Ferne betrachtet – fast ein wenig so aussah wie Paris.
Langsam ging die junge Frau die Slavíkova-Straße entlang. Vor einer Bar stand ein Pulk junger Menschen mit Getränken. Durch die großen vergitterten Fenster fiel buntes Licht, Musik wummerte. Das »Big Lebowski« war eines von Marlenas Lieblingslokalen, wenn sie in der Stadt war.
Die Schwarzhaarige drängelte sich wortlos vorbei und bog kurz darauf in eine schmale Seitengasse ein. Mit einem Mal war die Schickeria verschwunden und hatte einem dunklen Durchgang Platz gemacht, in dem es nach Urin und Erbrochenem stank. Nach ein paar Metern begann die junge Frau in ihrer Handtasche zu kramen und blieb schließlich vor einer abgeschabten Eingangstür stehen.
»Entschuldigen Sie bitte!«, rief Marlena leise, um sie nicht zu erschrecken.
Die Frau fuhr herum, ein Klappmesser in der Hand. Hastig wich Marlena zurück.
»Hau ab, aber schnell!«, sagte die Verfolgte böse. »Lass mich in Ruhe, šlapka!«
Na, die Nutte bist ja wohl eher du, dachte Marlena, ohne beleidigt zu sein.
»Bitte, ich will Ihnen nichts tun, nur ein paar Fragen stellen! Es wird nicht lange dauern, versprochen!«
Die Augen der jungen Frau blieben misstrauisch. »Dir helfen? Wozu?«
Marlena kam näher. »Ich suche jemanden und habe schon alles probiert. Sie sind meine letzte Hoffnung!«, übertrieb sie.
»Warum ich?« Ihre Neugierde schien geweckt zu sein.
»Bitte, darf ich Sie zu einem Getränk ins ›Big Lebowski‹ einladen? Dann erzähle ich Ihnen alles!«
Die junge Frau verzog das Gesicht. »Ich bin müde. Verzieh dich!« Sie wandte sich ab, machte Anstalten, die verkratzte Tür aufzusperren.
»Ich bin gerne bereit, für Ihre Informationen zu bezahlen!« Marlena hatte mit Widerstand gerechnet und war vorbereitet. Schlagartig hatte sie die Aufmerksamkeit der Schwarzhaarigen wieder.
»Bezahlen? Wie viel?«
»500 Kronen und das Getränk!«
Jetzt kam das Verhandlungsgeschick der jungen Frau durch.
»1500!«
»Tausend. Keine Krone mehr!«
Die dunklen Augen der Frau blitzten auf. Ein netter Extrahappen nach dem langen Tag. »Also gut, gehen wir, aber nur kurz.«
15 Minuten später stand Marlena wieder auf der Straße und ließ das Gespräch Revue passieren.
Sie hatten sich an einen Ecktisch gequetscht. Tereza, so der Name der Prostituierten, hatte Marlena sofort wiedererkannt, aber nur die Schultern gezuckt und müde an ihrem Bier genippt, woraufhin Marlena mit der Tür ins Haus gefallen war. »Dir sagt doch der Name Jana Jelinek etwas, oder?«
»Jana? Aber die ist doch schon seit Jahren tot! Bist du von der Polizei?«
»Blödsinn, ich arbeite privat! Aber ihr wart sozusagen Kolleginnen im selben Hotel, und ich hoffe, du weißt, ob sie Verwandte hatte. Es geht um ein Erbe.«
Tereza hatte mit einem Schnauben reagiert. »Ich kannte sie wirklich nicht sehr gut. Sie hat, so wie ich, allein angeschafft. Keine Zuhälter. Wir bestechen die Leute am Empfang und sie lassen die Bullen außen vor. Ist sicherer als auf der Straße und die Kunden sind besser. Mittlerweile habe ich viele, die immer wiederkommen.«
Es gab unter Garantie genügend Geschäftsreisende und Touristen, die auf diesen Typ standen: klein, jung, üppig, professionell, mit großem Busen, gefärbten Haaren, aufgeklebten Fingernägeln und dichten Wimpern.
»Hattest du Zweifel, dass es ein Unfall war?«
»Nein, gar nicht. Unfall mit Todesfolge, hieß es.«
»Weißt du denn jetzt, ob Jana Familie hatte?«
»Ja, eine Schwester, ganz sicher«, war genau die Antwort gekommen, auf die Marlena gehofft hatte. »Jelena hieß sie, glaube ich. Die stammten alle aus der Gegend um Krumau. Von dort ist Jana aber weg. Keine Ahnung, wo sie hier in Prag gelebt hat und ob die Schwester noch dort ist. Du wirst wohl hinfahren müssen. Ach ja, ich glaube, sie ist Krankenschwester, wenn dir das hilft!«
Danach war Tereza aufgesprungen. »Genug jetzt, ich verschwinde. Die Nachbarin kann nicht länger auf meine kleine Tochter aufpassen und ich muss für meinen Schulabschluss lernen, damit es bald besser wird!« Die Hoffnung hinter diesen Sätzen war nicht zu überhören gewesen.
Seufzend hatte Marlena ihr das Geld in die Hand gedrückt und die Rechnung bezahlt.
Krumau, das tschechische Česky Krumlov, lag etwa 25 Kilometer nördlich der österreichischen Grenze in Südböhmen an einer Flussschleife. Wegen seiner Lage trug es den Beinamen »Venedig an der Moldau«. Die malerische Altstadt beherbergte viele Lokale und Galerien und über allem prangte das mächtige Schloss, das angeblich genau 365 Räume besaß und UNESCO Weltkulturerbe war.
Marlena kam am späten Vormittag an. Seltsamerweise war sie in ihrem Leben schon in Australien, Bolivien oder Kambodscha gewesen, aber noch nie hier. Sofort war sie bezaubert vom Charme der alten Häuser und Gassen. Sie ließ ihr Auto auf einem der großen Parkplätze stehen, denn sie wollte die Gelegenheit nutzen, die Stadt zu Fuß zu erkunden.
Soeben war sie auf den Hauptplatz, den Námestí Svornosti, eingebogen und hielt erstaunt inne. Sie stand vor einer Flut grellbunter Yogamatten, auf denen sich Dutzende Menschen verrenkten. Japanische Touristen fotografierten in hellem Entzücken jede Pose, während einige rotwangige Schirmkäppi-Träger in kurzen Hosen mit Bier auf die Show anstießen. Der Anblick war so bizarr, dass ihr ein »Das gibt’s doch nicht!« entfuhr.
»Diese Vollidioten!«, lamentierte ein verbraucht wirkender Tscheche, der vor einem Laden mit alten Blechschildern stand und fassungslos den Kopf schüttelte. »Wir verkommen immer mehr zu einem Irrenhaus. Die UNESCO schützt die Gebäude, aber wer schützt uns?«
Marlena sah sich um und musterte die bunte Ansammlung von Souvenirläden, Bierlokalen und Menschenmassen. Sie hatte sich auf der Fahrt schlaugemacht und ungläubig gelesen, dass fast zwei Millionen Touristen aus aller Welt jährlich über die knapp 13.000 Einwohner herfielen, was pro Kopf mehr war, als zum Beispiel Venedig ertragen musste.
Auf einer pinken Yogamatte streckte gerade eine grauhaarige Mittsechzigerin wenig elegant ihren Popo in die Höhe. Der Mann im Hauseingang verzog angewidert das Gesicht und wetterte weiter. »Das sind doch keine Touristen, das sind Terroristen! Wir sind noch mehr am Arsch als diese blöde Kuh da!«