Kitabı oku: «Schöner sterben in Wien», sayfa 5

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MARLENA

»Was ist denn hier passiert?«

Marlena fixierte die bleiche Frau mit den langen dunklen Haaren, die soeben herumgewirbelt war.

Ferdl hatte ihr nicht erzählt, wer ihn gebeten hatte, nach Jelena zu suchen. Es herauszufinden war jedoch ein Kinderspiel gewesen. Ihr Onkel würde die Aktion nicht gutheißen, nichtsdestotrotz hatte sie sich vor dem Palais auf die Lauer gelegt und an die Journalistin drangehängt. Gestern Abend bis fast Mitternacht, heute Morgen seit sechs Uhr früh.

Unbemerkt war sie der Frau bis zu einem Mehrparteienhaus nach Ottakring gefolgt und – angetan mit Laufsachen, Mütze und Brille – hineingeschlüpft, das Paradebeispiel einer Bewohnerin, die soeben vom Joggen kam.

Danach musste sie nur noch die richtige Tür finden.

Manchmal verstand sie selbst nicht, was sie trieb. Sie folgte ihren Instinkten, und das so erfolgreich, dass ihr Onkel sie gerne zur Gänze in der Agentur angestellt hätte, was aber kein Thema war.

Seit ihrer Kindheit hatte Marlena jeden Sommer Zeit bei ihrem anderen Onkel Vlastemil in Wien verbracht, liebte die Stadt und sprach nahezu perfektes Deutsch. Vor ein paar Jahren war sie zur Gänze hergezogen. Ursprünglich, um auf die Uni zu gehen, doch dann hatte sie die Idee für das gehabt, was sie mittlerweile neben Nachforschungen hauptberuflich betrieb: ihren Umwelt-Blog »Green Things«, in dem sie interessante Menschen und nachhaltige Ideen präsentierte. Mittlerweile konnte sie, dank sorgsamer Produktplatzierungen, Ads, Bannern und bezahlter Postings, gut davon leben.

Jetzt allerdings war sie zur Gänze in ihr Alter Ego als Ermittlerin geschlüpft.

Im sechsten Stock bemerkte sie sofort die offen stehende Wohnungstür und stand wenig später vor der zu Tode erschrockenen Lilly Speltz.

»Sie ist tot!«, stammelte die bleiche Journalistin, um Besonnenheit bemüht.

»Weshalb entschuldigen Sie sich denn bei ihr?«, fragte Marlena verwundert.

Da ging ein Ruck durch ihr Gegenüber. »Was haben Sie hier verloren?«

Marlena kam näher, reichte der Frau gerade bis zum Kinn. »Keine Angst, ich weiß von der Geschichte!«

»Na wunderbar. Und wer sind Sie?«

Marlena antwortete nicht gleich, sondern warf einen Blick auf die Leiche, versuchte einzuschätzen, womit sie es hier zu tun hatte. Erst dann wandte sie sich wieder Lilly zu.

»Ich bin Marlena Houdek, Onkel Ferdls Nichte. Ich habe Jelena für Sie gefunden. Ist sie das?«

10
LILLY

Stämmig, mit frechem blondem Bubikopf und durchdringend grünen Augen – so stand Marlena Houdek vor mir, die ganze Person ein Ausbund an Selbstsicherheit. Noch immer zitterten mir die Knie. Als ich sie vorhin in der Tür entdeckt hatte, war ich überzeugt davon gewesen, dass nun alles aus war – und hatte dabei auch einen unvermuteten Hauch von Erleichterung verspürt.

»Verdammt noch mal«, hörte ich ihre seltsam raue Stimme, die so gar nicht zu dem zu kurz geratenen Körper passen wollte. »Sie müssen die Polizei rufen. Und zwar gleich. Aber verraten Sie mir vorher noch, warum Sie Jelena unbedingt finden wollten.«

Tut mir leid, Mädchen. So schlimm die Situation auch ist, ich werde es dir nicht auf die Nase binden, dachte ich. Wer weiß, inwieweit ich dir letztlich vertrauen kann.

Es war an der Zeit, den Spieß umzudrehen. »Was tun Sie hier, Marlena? Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen den Auftrag erteilt zu haben, mich zu beschatten!«

Sie wirkte ehrlich. »Stimmt. So wie es aussieht, haben wir beide Klärungsbedarf. Doch nicht jetzt. Jelena ist möglicherweise keines natürlichen Todes gestorben und Sie sollten keine Sekunde länger warten, Alarm zu schlagen, sonst wirft das ein sehr seltsames Bild auf Sie!«

Mir graute vor den Ermittlungen und ihren Folgen. Kaum war etwas Gras über die Sache mit Georg gewachsen, steckte ich prompt in der nächsten schrägen Geschichte, die noch dazu unmittelbar mit der alten Sache zu tun hatte. Ich sah mich schon Fingernägel kauend im Gefängnis schmoren. Wahrscheinlich hatte ich aber ohnehin nichts Besseres verdient. Und dann wäre es zumindest vorbei.

Mit verkrampftem Magen wählte ich die europäische Notrufnummer 112.

Als ich mich umdrehte, war Marlena verschwunden. Zum Glück, denn wie hätte ich der Polizei erklären sollen, was sie in der Wohnung zu suchen gehabt hatte? In Kürze allerdings würde ich dafür sorgen, dass sie es mir erklärte.

Ich hatte es befürchtet.

Vor mir standen genau die beiden Kriminalbeamten, die damals auch den Tod von Georg untersucht hatten. Bruce und Colin. Der Ältere hatte eine Glatze und markante Gesichtszüge wie Bruce Willis, der Jüngere die dichten Augenbrauen mit Eigenleben und das Grinsen des Schauspielers Colin Farrell.

Vor allem Colin mochte mich nicht und ließ mich das auch sogleich spüren. »Frau Speltz, sieh einer an. Und diesmal gibt’s auch tatsächlich eine Leiche!«

Vollidiot.

Es wurmte ihn, dass Georg nach wie vor verschwunden blieb und er mir nichts nachweisen konnte, was für mich sogar ein wenig nachvollziehbar war. Dennoch hielt ich nicht viel von ihm. Er gab offenbar den Bad Cop.

Inzwischen war das Vollprogramm angelaufen. Die erste Bewertung der polizeilichen Kommission hatte ergeben, was Marlena und ich auch schon vermutet hatten: dass ein Tötungsdelikt nicht ausgeschlossen werden konnte. Kurz danach war die Tatortgruppe aufgetaucht.

Bruce übernahm. »Es ist unklar, wie sie gestorben ist, deshalb behandeln wir die Situation als Mord und wie immer legen wir die Latte hoch. Wir werden hier alles auf den Kopf stellen und keinen Quadratzentimeter auslassen. Wenn da etwas ist, werden wir es auch finden. Beim letzten Fall hat es Tage gedauert. Letztlich war es DNA auf einem Zündholz, die den Täter überführt hat.« Während er sprach, hatte er mich nicht aus den Augen gelassen und ich hatte verstanden. Seine Worte waren nichts als eine kaum verhohlene Warnung. Wenn du Dreck am Stecken hast, kriegen wir dich!

Im Schlafzimmer waren Spurensicherung und Rechtsmediziner an der Arbeit. Einer hantierte gerade mit einem Fieberthermometer. Wir drei saßen traut vereint im Wohn-Essbereich. »Sie wissen, wer das ist?«, fragte Bruce und deutete in Richtung Schlafzimmer.

Ich nickte. »Ich denke, es ist eine Frau namens Jelena Jelinek.«

Bruce nickte. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihr?«

»In gar keinem. Ich kannte sie nicht.«

Ein ungläubiger Blick traf mich. »Und wie kommt es dann, dass Sie in dieser Wohnung waren und ihre Leiche entdeckt haben?«

Nun begann das Lügen. »Eine Quelle hat mich kürzlich kontaktiert, sprach von einer heißen Story und nannte dabei Frau Jelineks Namen. Und diese Adresse hier.«

Ich hielt inne, weil jemand im Schlafzimmer fluchte. Was die beiden Ermittler vor mir ungerührt zur Kenntnis nahmen. »Und weiter?«, drängte Colin.

»Ich dachte, ich höre mir die Geschichte mal an. Weil ich keine Telefonnummer hatte, bin ich heute früh hergefahren. Es war offen, also bin ich ins Haus und dann die Treppen hoch bis zu dieser Wohnungstür.«

Erneutes Fluchen drang aus dem Schlafzimmer, doch wiederum gab es kein Wimpernzucken der Beamten. Sie ließen mich erzählen, lauerten auf eine Ungereimtheit.

Konzentriert fuhr ich fort, mimte weiterhin die neugierige Journalistin auf der Jagd. »Ich war verwundert, als ich bemerkte, dass sie offen war. Also läutete ich und wartete einige Minuten. Dann hörte ich ein Geräusch und dachte, dass vielleicht jemand Hilfe braucht, bin in bester Absicht in den Flur, fand die Tote im Schlafzimmer und rief umgehend die Polizei!«

»Woher wissen Sie denn, dass es sich bei der Leiche um Frau Jelinek handelt, wenn Sie ihr noch nie zuvor begegnet sind, wie Sie behaupten?«

»Ich behaupte es nicht. Es ist so. Ich kenne sie nicht. Ich sagte doch gerade, ich denke, dass sie es ist, spreche also lediglich eine Vermutung aus. Ist sie es denn?«

Jetzt war es Colin, der antwortete. »Wir klären das gerade. Diese Wohnung läuft jedenfalls auf eine Agnes Bednarik. Sagt Ihnen die etwas?«

Ich hob die Achseln. Sollte er das doch auslegen, wie er wollte.

In diesem Augenblick trat einer der Rechtsmediziner hinzu. Er trug, wie alle Anwesenden, einen Schutzoverall und Handschuhe. Auffordernd sah Colin ihn an. »Der ungefähre Todeszeitpunkt liegt zwischen 23 Uhr und Mitternacht. Eher früher. Mehr wissen wir nach der Leichenöffnung. Wir nehmen sie dann mit!«

Erschöpft hatte ich zugehört. Seit über vier Stunden war ich schon hier und kein Ende in Sicht.

»Wo waren Sie denn zu der Zeit, Frau Speltz?« Bruce. Er musste das fragen, schon klar. Trotzdem schluckte ich. »Auf dem Weg nach Hause. Wir hatten einen Dreh im Dritten, der bis kurz vor elf gedauert hat.«

Ich konnte seine Rädchen im Hirn rattern hören. Vom dritten in den 16. Bezirk. Mit dem Auto hätte ich es schaffen und quasi einen Mord im Schweinsgalopp begehen können. Aber selbst er schien Zweifel an dieser Theorie zu hegen.

»Von wem haben Sie den Hinweis denn erhalten?«, fragte Colin scharf.

»Tut mir leid, das fällt unter Quellenschutz!«, antwortete ich und bemühte mich, nicht allzu triumphierend zu klingen.

Er sah aus, als hätte er eine Kröte verschluckt. Wie auch immer das hier weitergehen würde, für den Augenblick mussten sich die beiden damit zufriedengeben. Journalistischer Quellenschutz war zum Glück in Österreich immer noch eine heilige Kuh, trotzdem so mancher Politiker daran sägte.

»Nun gut. Wie Sie wollen, Frau Speltz. Ihre Fingerabdrücke haben wir, damit können wir abgleichen, was Sie berührt haben. Gibt es sonst noch etwas, was Sie uns sagen möchten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich würde gerne wissen, ob die Tote tatsächlich Jelena Jelinek war und woran sie gestorben ist. Wenn es Mord war, werden wir berichten, einen Selbstmord oder natürlichen Tod lassen wir selbstverständlich außen vor.«

Jetzt griff der gute Cop ein. »Wir können Sie natürlich nicht daran hindern, Frau Speltz. Aber vielleicht einigen wir uns ja auf Folgendes: Die Frau wird jetzt in die Gerichtsmedizin gebracht, heute noch obduziert und hoffentlich auch identifiziert. Rufen Sie mich morgen gegen Mittag an, dann haben Sie ein wenig Vorsprung vor Ihren Kollegen.«

Er deutete in Richtung Wohnungstür. Ich konnte mir leicht ausrechnen, was draußen vor dem Haus mittlerweile los war. Neugierige mit Handykameras, die darauf lauerten, alles abzufilmen und umgehend ins Netz zu stellen. Einige übertrugen die Szenen vielleicht ohnehin schon auf Facebook Live. Kollegen, die über ihre Kanäle von einem möglichen Tatort erfahren und sich in Position gebracht hatten. Und das, obwohl noch nicht einmal die Todesursache geklärt war.

Colins Gesicht war bei den Worten seines Kollegen eingefroren, er hatte sich aber unter Kontrolle. Ihm behagte Bruce’ wohlkalkulierte Großzügigkeit nicht. Nur zu gerne hätte ich gewusst, was die beiden wirklich dachten. Schon wieder die Speltz. Schon wieder eine seltsame Tote. All ihre Antennen waren auf mich gerichtet. Ich würde sehr vorsichtig sein müssen, wollte ich nicht mit Haut und Haaren gefressen werden.

»Ich kann also gehen?«

Colin nickte finster. »Vorerst. Halten Sie sich aber zur Verfügung. Im Augenblick gelten Sie als wichtige Zeugin!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Beim Hinausgehen warf ich einen Blick durch die offene Schlafzimmertür. Jelenas Leichnam war inzwischen mit einem Tuch abgedeckt worden. Er wirkte winzig, ein kleiner Hügel Mensch, der kurz mein Leben gekreuzt hatte und schon wieder daraus verschwand.

Stumm schickte ich ihm eine Botschaft. Es ist noch nicht zu Ende, Jelena. Ich halte mein Versprechen.

Das Haus hatte einen Ausgang in den Hinterhof. Ich benutzte die dort aufgehängte Wäsche als Deckung, bis ich zu einer Durchfahrt gelangte. Schließlich stand ich wieder auf der Straße und ging mit gesenktem Kopf an den Neugierigen vorbei, die die Hälse reckten und sich Spekulationen zuflüsterten. Jetzt kam mir zugute, dass ich vorhin keinen Parkplatz vor der Tür bekommen hatte. So gelangte ich unbehelligt zu meinem E-Mobil und stieg ein.

Es gab nur eine Person, die mir weiterhelfen konnte. Ob sie auch heute arbeitete? An einem Samstag? Einen Versuch war es wert.

Nachdenklich kramte ich nach meinem Telefon, konnte es aber nirgends finden. Ich stülpte meine Tasche um, tastete in jeden Zwischenraum meines Autos, doch es blieb verschwunden. Verflixt noch mal! Hatte ich es in Jelenas Wohnung vergessen? Um nichts in der Welt würde ich dorthin zurückkehren und danach suchen, auch auf die Gefahr hin, dass Bruce und Colin es mitnahmen. Es war als Firmenhandy sehr gut passwortgesichert, also nicht leicht zu knacken, selbst für geschulte Polizeitechniker.

Mich ob meiner Nachlässigkeit verfluchend, öffnete ich mein Handschuhfach, um mein steinaltes Ersatztelefon auszumotten, ein billiges Ding, das seit Jahr und Tag dort vor sich hindümpelte und über genau eine Funktion verfügte: Telefonieren. Zum Glück lud ich es regelmäßig auf. Das Problem: Der Nummernspeicher war leer, der Internetzugang inexistent. Dankbar für Ferdls Umsicht kramte ich den Zettel heraus, auf den er mir Name, Adresse und Telefonnummer der Ordination aufgeschrieben hatte.

Ein paar Sekunden später hatte ich tatsächlich Agnes Bednarik am Ohr. Ohne mich zu melden, legte ich auf. Es war mir unmöglich, ihr am Telefon von Jelenas Tod zu berichten, also musste ich mich beeilen, denn es würde nicht lange dauern, bis die Polizei bei ihr aufkreuzen würde. Außerdem wollte ich verhindern, dass sie Bruce und Colin brühwarm von meiner Show in der Ordination erzählte.

20 Minuten später parkte ich mein Auto im Halteverbot und ging zu Fuß die letzten Meter in Richtung Salzgries. Zur Tarnung trug ich einen Hut samt Sonnenbrille und kam mir damit reichlich bescheuert vor. Außerdem knurrte mir der Magen. Mittlerweile war es fast zwei Uhr. Bisher hatte mir Jelenas Schicksal den Appetit verdorben, doch nun war mir flau. Der Menüvorschlag des Kandidaten gestern war auch zum Abgewöhnen gewesen. Nierchen mit Kartoffelpüree nach Uromas Art. Igitt!

Vor einem kleinen Laden mit dem Namen »Dolci Pensieri« hielt ich inne, nahm mir ein Herz und wählte erneut Agnes’ Nummer. Wieder war sie sofort dran. »Lilly Speltz hier!«, sagte ich hastig. »Ich muss Sie unbedingt sofort ganz dringend sprechen! Können Sie bitte herunterkommen ins ›Dolci Pensieri‹?«

Sollte ich sie erstaunt haben, ließ sie sich nichts anmerken. »Im Augenblick nicht. Aber wenn es Ihnen möglich wäre, etwas zu warten, dann gerne!« Offensichtlich war sie nicht allein.

Erleichtert über die kleine Gnadenfrist bestätigte ich und beschloss, mir einen Cappuccino und einige Tramezzini zu gönnen. Der Name des Lokals gefiel mir: »Süße Gedanken«. Schlimme hatte ich eh schon genug. Außerdem konnte ich mir dabei in Ruhe eine Strategie überlegen. Mein Gefühl sagte mir, dass Agnes nicht so leicht zu knacken sein würde.

Die kleine straßenseitige Terrasse war kaum besetzt. Sorgsam wählte ich den am wenigsten einsehbaren Tisch und zog den Hut noch tiefer ins Gesicht.

Agnes war die Einzige, die mir sagen konnte, warum oder vor wem Jelena sich versteckt hatte. Sobald sie von Jelenas Tod erfuhr, musste ihr klar sein, dass auch sie möglicherweise in Gefahr schwebte. Ich hatte Bruce und Colin nicht erzählt, dass wir uns kannten. Das musste unbedingt so bleiben. Also wollte ich Agnes davon überzeugen, dichtzuhalten und mir im Fall des Falles als die Quelle zur Verfügung zu stehen, die off the records mit mir gesprochen hatte. Ein hartes Stück Arbeit.

Höchstwahrscheinlich hatte die Polizei Jelena inzwischen identifiziert, wusste wahrscheinlich auch schon, dass sie Janas Schwester war: ein Riesenpfeil, der auf mich zeigte. Sie würden den Teufel tun, dabei an einen Zufall zu glauben. Sollte man mich hier erwischen, würde man mich wohl umgehend als Tatverdächtige verhaften oder zumindest aufs Revier schleppen. Bei dem Gedanken rutschte ich gleich noch ein wenig tiefer in meinen unbequemen Plastikstuhl.

Wenn es denn überhaupt Mord ist, Lilly!

Ein Sonnenstrahl fiel auf meinen inzwischen leer gegessenen Teller. Und dann ein Schatten, weil jemand an meinem Tischchen vorbeischlüpfte. Jemand in hellbraunen Shorts, einem weißen Hemd und dunkelblauen Segelschuhen.

Ich sah auf.

Es war nicht das erste Mal, dass er mit dem Rücken zu mir stand, deshalb erkannte ich ihn sofort. An seiner Art sich zu bewegen, seiner Haltung. Da brauchte ich die grauen Haare erst gar nicht zur Identifikation, oder die grauen Augen, die allerdings ohnehin hinter einer Sonnenbrille verborgen waren. Er ging zu der Vitrine voller Köstlichkeiten und bestellte mit seiner weichen Stimme diverse Tramezzini zum Mitnehmen.

Schön langsam wurde mir das unheimlich. Bis vor Kurzem hatte ich ihn nicht gekannt und jetzt lief er mir andauernd über den Weg! Vielleicht war das ein ähnliches Phänomen wie mit Kinderwägen: Sobald man schwanger war, sah man sie überall.

Sollte ich ihn ansprechen? Immerhin hatten wir uns ja in Salzburg kennengelernt! Oder mich zurückhalten, um zu sehen, wohin er verschwand?

Natürlich siegte die Neugierde. Das war die Gelegenheit, meine schlechte Stimmung in die Wüste zu schicken! Also wartete ich, bis er bezahlt hatte und auf die Straße getreten war.

Jetzt musste ich mich beeilen.

Hinter der Theke polierte die ältere Dame mit Dutt, die ihn bedient hatte, inzwischen die Arbeitsfläche. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, »der Mann, der soeben gegangen ist, hat sein Telefon am Tisch liegen lassen.« Ich zeigte ihr meines. »Ist das nicht dieser … Doktor …?« Die letzten Worte waren ein Versuchsballon, aber ich dachte mir, dass sich in der Innenstadt eher ein Akademiker eine Wohnung leisten konnte als jemand von der Müllabfuhr.

Sie lächelte zuvorkommend. »Ach, wie freundlich von Ihnen. Sie meinen sicher den Dr. Novotny. Der kommt oft!«

»Doktor Novotny?«, fragte ich völlig perplex. Ferdl hätte jetzt gesagt: »PrackZack!«

Sie nickte freundlich.

»Äh … der wohnt doch gleich in der Nähe, nicht wahr?«

Sie nickte erneut und wedelte mit ihrem Tuch. »Drüben im Palais. Wenn Sie sich beeilen, erreichen Sie ihn noch!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Rasch bedankte ich mich, warf 20 Euro auf die Theke und rannte auf den Gehsteig. Etwas weiter vorne auf der anderen Straßenseite erkannte ich tatsächlich die grauen Haare und spurtete los.

Wenn das Dr. Novotny war, wer um alles in der Welt hatte mir dann vor ein paar Tagen verdünntes Gift gespritzt, das tödlicher war als jedes andere?

11
MARLENA

Marlena grub sich durch eine Statistik.

»70 Prozent des globalen Wassers«, stand da, »werden für die Landwirtschaft genutzt. Und für ein Kilogramm Rindfleisch werden 15.000 Liter verbraucht. Egal, wo ein Steak herkommt, es verursacht 20-mal mehr Treibhausemissionen als Obst und Gemüse.«

Das schreit nach einer Tomate, feixte sie. Doch ihr Lächeln verwischte, als sie an die tote Frau im Wohnblock dachte. An das Erbrochene. Auch Jelena hatte, soweit es noch zu erkennen gewesen war, Gemüse gegessen, ehe sie gestorben, möglicherweise getötet worden war.

Warum meldete Lilly sich nicht?

Seit Stunden starrte sie nun schon auf ihr Telefon. Von Ottakring aus war sie vorhin direkt zu sich nach Hause in die Brigittenau gefahren, überzeugt davon, bald von Lilly zu hören. Doch bisher nur Funkstille und die Mailbox. Dabei musste sie unbedingt wissen, was in Jelenas Wohnung geschehen war. Hatte Lilly die Polizei überzeugen können? Oder antwortete sie deshalb nicht, weil sie in Polizeigewahrsam war?

Mittlerweile steigerten sich ihre Sorgen ins Unerträgliche. Deshalb schob sie den Rechner zur Seite und beschloss, einen neuen Unverpackt-Laden zu testen. Sie nahm ihre Tasche und machte sich auf den Weg.

Erstaunt schlängelte sie sich ein paar Minuten später durch die vielen Kunden. Waren in eigene Behältnisse abzufüllen, lag im Trend, die gruseligen Reportagen über Plastikmüll und Meerestiere, die daran verendeten, schienen zu greifen.

Durstig betrat sie nach einer halben Stunde die Straße und setzte sich in den Gastgarten des Beisls gegenüber, bestellte einen ganzen Liter Mineralwasser. Sie ignorierte den schon ziemlich angesäuselten Dicken ein paar Tische weiter, der auffordernd zuerst auf sein Weinglas und dann auf sie deutete, und checkte zum hundertsten Mal ihr Telefon. Noch immer nichts.

Irgendetwas musste geschehen sein.

Ein ungutes Gefühl schnürte ihr den Magen zu, drückte auf Marlenas Nerven. Vorstellungen, alle unerfreulich, drängten sich in ihre Gedanken. Was, wenn die Polizei Lilly tatsächlich verhaftet hatte?

Oder der Mörder noch vor Ort gewesen und sie ihm in die Quere gekommen war?

Marlena erwachte mit einem schlechten Geschmack im Mund und vollkommen angekleidet quer über ihrem Bett liegend.

Einen Augenblick lang war sie vollkommen desorientiert. Stöhnend richtete sie sich auf und fuhr sich mit beiden Händen über ihr verklebtes Gesicht. Zuerst ins Badezimmer. Dann Kaffee. Dann nachdenken.

Mit einer Tasse in der Hand landete sie schließlich auf ihrem winzigen Balkon und atmete tief durch. Heute war Sonntag. Dennoch kam es nicht allzu oft vor, dass sie erst nach zehn Uhr aus dem Bett kroch.

Schön langsam kam sie auf Betriebstemperatur und dachte über den gestrigen Abend nach. Bis weit nach Mitternacht hatte sie immer wieder bei Lilly angerufen, war sogar an ihrer Wohnung vorbeigefahren und hatte geläutet. Ohne Erfolg. Irgendwann gegen halb zwei Uhr früh musste sie dann wohl eingeschlafen sein, was erklärte, warum sie sich so erschlagen fühlte.

Erneut griff sie zum Handy. Schon wieder die beknackte Mobilbox.

Wirklich merkwürdig.

Und beängstigend.

Kurz entschlossen wählte sie Onkel Ferdls Telefonnummer. »Weißt du, wo Lilly Speltz ist?«

Ihr war egal, ob er sich wunderte. Er kannte sie und ahnte bestimmt, dass sie ein wenig mehr Nachforschung betrieben hatte, als ausgemacht gewesen war.

»Was ist los, Mädel? Du klingst besorgt!«

»Bist du zu Hause? Dann komme ich zu dir und erzähle dir alles!«

Es würde wieder ein heißer Tag werden, also zog sie ein Top und luftige Hosen an und machte sich auf den kurzen Weg in die Pasettistraße. Die Brigittenau galt als Problemgrätzel mit dem zweithöchsten Migrantenanteil der Stadt. Dennoch hätte Marlena nirgendwo anders leben wollen. Sie war ja selbst eine Zugreiste.

Zehn Minuten später stand sie an die Wand gelehnt in Ferdls Wohnzimmer. Mittlerweile hatte sie sich an seinen etwas eigenwilligen Einrichtungsgeschmack gewöhnt. Doch dass ein lebensgroßer Till Lindemann und seine Rammstein-Rocker sie jedes Mal böse anstarrten, wenn sie ihren Onkel besuchte, war immer noch nicht ihr Ding. Ferdl hatte ein Foto der Band im Format drei mal zwei Meter auf eine Kunststoffplatte aufziehen lassen und an die Wand gepappt. Damit man freie Sicht auf die ganze Pracht hatte, war der Rest des Raumes so gut wie unmöbliert. Lediglich ein echter extrabreiter Sylter Strandkorb prangte in einer Ecke. Auch das eine Spezialanfertigung, denn der Stoff bestand aus lauter kleinen Totenköpfen. Hier wurde Ferdl gern zum Mebi, halb Mensch, halb Bier.

Weil sie keine Lust auf die Turnübung hatte, die nötig gewesen wäre, um in das Ding zu gelangen, war sie einfach stehengeblieben und hatte stumm mit Till geflirtet, der im Übrigen als Person schon eher ihren Geschmack traf. Sehr sogar.

Ferdl ließ sich Zeit. Erst einige Minuten später erschien er, wie immer in Shorts und T-Shirt, nur seine berühmte ärmellose Jacke fehlte. Er bemerkte Marlenas Blickrichtung. »Der ist im Grunde ein netter Bursche! Hab ihn gerade erst getroffen. Die waren ja für zwei Konzerte in der Stadt und ich durfte für ein paar Bilder Backstage.«

»Und?«

Ferdl streckte den Daumen hoch. »Sensibel und intelligent.«

Marlena lächelte und nahm einen Schluck von ihrem ausgezeichneten Kaffee. »Lilly Speltz ist verschwunden!«

»Na serwas, der Themenwechsel verursacht mir grad ein Schleudertrauma! Komm!«

Er deutete mit dem Finger in Richtung Küche. Schon immer bedurften ernste Gespräche des Küchentisches. Hier hatten sie bereits alles Mögliche erörtert. Jungs, Schulsorgen und – wirklich nur mit Ferdl denkbar – Menstruationsprobleme. Er war vor vielen Jahren mit ihr sogar ohne Scheu zum Frauenarzt marschiert, um dort sehr anschaulich über Verhütungsmethoden zu diskutieren. Ihm war nichts peinlich. Genauso wenig wie Marlena.

»Erzähl«, sagte er, als sie Platz genommen hatten.

Und das tat sie dann auch, gestand ihm den ganzen vergangenen Morgen. »Lilly ist komplett von der Bildfläche verschwunden und ich weiß nicht, wo ich sie finden kann!«, schloss sie ihren Bericht und nippte am letzten Schluck des mittlerweile kalten Koffeins.

Ferdl hatte konzentriert gelauscht. »Dass sie sich für ein paar Tage zurückzieht, kommt vor, aber nie ohne Telefon. Wenn sie bis zum Abend ned auftaucht, müssen wir zur Polizei.«

Marlena stimmte zu. »Aber vorher mache ich noch etwas anderes!«

Sie schnappte sich ihr Smartphone, googelte kurz und wählte dann die Telefonnummer der Pressestelle der Landespolizeidirektion.

Als abgehoben wurde, nuschelte sie kaum verständlich den Namen einer echten Reporterin, den sie zufällig kannte. »Petra Stenzel vom Bezirksblatt, hallo, ich erkundige mich nach dem Ermittlungsstand im Fall der toten Frau aus der Roseggergasse im 16. gestern!«

Angespannt hörte Marlena zu.

»Oh«, sagte sie dann erstaunt. »Woran dann?«

Ferdl beobachtete sie interessiert. Sie starrte mit großen Augen zurück. Und legte auf.

»Was ist?«, fragte er alarmiert.

Marlena hob ratlos die Hände. »Halt dich fest, Onkel Ferdl. Die Beamtin hat mir gerade erklärt, dass der Fall im Augenblick kriminaltechnisch nicht weiterverfolgt wird. Jelena ist offenbar nicht ermordet worden. So lautet jedenfalls das vorläufige Obduktionsergebnis.«

»Nicht?«

»Nein, so, wie es aussieht, ist sie zwar spektakulär, aber ohne Fremdeinwirkung an einer Lebensmittelvergiftung verstorben. Es scheint entsprechende Beweise zu geben. Jelenas Tod ist für die derzeit nicht mehr als ein Unfall mit Todesfolge.«

Marlena stand auf und begann, in der kleinen Küche auf und ab zu laufen. »Aber, sag ehrlich, glaubst du das? Die versteckt sich doch nicht wochenlang und stirbt dann urplötzlich genau in dem Moment, als wir sie finden. Weil sie etwas Falsches isst! Und was soll das sein, weswegen man binnen so kurzer Zeit den Löffel abgibt? Kugelfisch?«

»Haben sie dir das nicht gesagt?«

Marlena schüttelte den Kopf. »Nein, die Diensthabende meinte, keine Details herausgeben zu dürfen, hat mich sofort an die ermittelnden Beamten verwiesen. Und das mit der Todesursache hat sie wohl auch nur deshalb so bereitwillig bestätigt, weil der Fall gestern Aufsehen erregt hat. Mit der einen Auskunft ist er aber im Grunde für die Presse erledigt.«

Ferdl nickte zustimmend. »Stimmt. Sie hätt’ schon ein Promi sein müssen, damit so was eine Meldung wert ist. Und über Selbstmorde berichten wir grundsätzlich nicht, es sei denn, es ist jemand wie Avicii oder Ludwig Hirsch.«

Es war still in der Küche. Beide dachten nach, konnten gut miteinander schweigen, ein weiterer Aspekt der besonderen Qualität ihrer Beziehung.

Dann räusperte Ferdl sich. »Na gut, dann wissen wir ja jetzt Bescheid. Auch dahingehend, dass Lilly mit Sicherheit gestern von den Kieberern nicht verhaftet worden ist. Also gemma!«

Erstaunt sah Marlena ihren Onkel an, der bereits Anstalten machte aufzustehen. »Wohin denn?«

»Na, dorthin, wo Lilly erfahren hat, an welchem Ort Jelena sich befindet. Wenn ich sie wär’, hätte ich genau dort angefangen zu suchen!«

Er tippte auf seinem Telefon herum, wählte eine Nummer und sagte dann freundlich: »Oh, falsch verbunden, tut mir leid!«

Marlena sah ihn fragend an.

»Das war die Ordination von dem Novotny. Jemand hat abgehoben.«

Sie nahmen die U-Bahn. Auf dem Weg wurde Marlena hungrig und deutete auf eine Fleischerei. »Magst eine Leberkäsesemmel?« Ihr selbst würde nie im Leben einfallen, so etwas zu essen, aber sie kannte die Vorliebe ihres Onkels für Deftiges.

Ferdl wirkte angewidert. »Prinzipiell ja, aber sicher ned von dem!«

Erstaunt fragte Marlena: »Weiß ich da etwas nicht?«

»Solltest du aber. Das ist doch der Tschusch, der sein Fleisch illegal im Kanal entsorgt. Ist kein Geheimnis, auch nicht für das Marktamt, aber es tut nichts. Der hat auch laufend die Lebensmittelbehörde da, weil er so ein Saubatl ist.«

»Pfui Teufel«, grauste Marlena sich und kaufte ein sicheres Vollkornweckerl an einem Stand direkt am Eingang zur Station.

Schweigend fuhren sie die paar Minuten in die Innenstadt und standen alsbald vor dem Palais am Salzgries. Auf der Fahrt hatte Marlena einmal mehr versucht, Lilly am Telefon zu erreichen, jedoch wieder ohne Erfolg.

»Und jetzt?« Marlena war findig und selten um eine Idee verlegen, doch im Augenblick wollte ihr partout nichts anderes in den Sinn kommen, als mit der Tür ins Haus zu fallen.

»Schlage vor, dass wir einfach mal hier abwarten und es weiterhin bei Lilly probieren. Wenn sich in den nächsten Stunden nichts ergibt, läuten wir und schauen, was passiert. Zur Polizei gehen können wir danach immer noch. Dann ist Lilly 24 Stunden verschwunden und die werden reagieren, auch wenn es sich um eine volljährige Person handelt.«

Marlena rief sich die Argumente ins Bewusstsein, die auch vor Ablauf dieser üblichen Frist für eine Fahndung sprachen. Alle trafen auf Lilly zu. Sie hielt sich nicht mehr in ihrem gewohnten Lebensumfeld auf, ihr aktueller Aufenthaltsort war unbekannt, sie war vermutlich in Gefahr und es bestand der Verdacht auf ein Verbrechen.

»Ich weiß nicht, ob ich es aushalte, stundenlang untätig hier rumzuhängen und Däumchen zu drehen. Wer weiß, was mit Lilly in der Zeit alles passiert!«

Ferdl berührte ihre Hand. »Marlena, krieg jetzt keinen Rappel. Die Jelena ist nicht ermordet worden, also ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass Lilly sich tatsächlich in der Bredouille befindet.«

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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
362 s. 5 illüstrasyon
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9783839269848
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