Kitabı oku: «Schöner sterben in Wien», sayfa 3

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Marlena hoffte grinsend, dass die Dame kein Tschechisch verstand.

Die Lust auf Sightseeing war ihr gründlich vergangen. Rasch öffnete sie eine App und suchte sich den Weg zum Krankenhaus.

Die Poliklinik lag nahe dem Stadtzentrum, ein mehrgeschossiger Zweckbau in Grau, Grün und Gelb. »Du wirst wohl nie Kulturerbe«, murmelte Marlena bei dessen Anblick und betrat das Foyer. Zu ihrem Glück war das Spital nicht besonders groß.

Sie schob einen riesigen Blumenstrauß vor sich her, den sie auf dem Weg billig an einer Tankstelle erstanden hatte, und wandte sich zur Information. Dahinter thronte ein glatzköpfiger Portier mit Schnauzbart und sah ihr freundlich entgegen.

»Guten Tag! Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Schwester Jelena finde. Ich meine Jelena Jelinek. Ich muss mich unbedingt bei ihr bedanken!«

Ein unergründlicher Blick aus wachen Augen traf sie. »Und wie kann ich Ihnen bei diesem zweifelsohne löblichen Vorhaben helfen?«

Marlena zögerte, unsicher, wie sie den Mann einschätzen sollte. Dann fuhr sie gespielt schüchtern fort. »Wissen Sie, meine Oma ist kürzlich verstorben. Aber sie war oft hier in Behandlung und hat mir immer von Schwester Jelena erzählt, wie dankbar sie ihrem ›Engel in Schwesterntracht‹ sei.«

Der Portier musterte die vielen Blumen und die traurig wirkende junge Blondine im schwarzen Kleid, sagte aber kein Wort.

»Und jetzt bin ich hier und … nun ja … Könnten Sie mir bitte sagen, auf welcher Station sie arbeitet?«

Wieder ein langer Blick, dann zog er langsam das Telefonverzeichnis zu sich her. »Dann sehen wir mal nach.« Bedächtig grub er sich durch die Zeilen. »Tut mir leid. Ich finde hier keine Krankenschwester dieses Namens.« Etwas an seinem Ton irritierte Marlena. Wollte er ihr etwas mitteilen, ohne zu viel zu sagen?

Sie gab sich naiv und machte große Augen. »Aber sie muss hier sein! Ich habe doch etwas für sie!«

Der Pförtner sah sie mitleidig an und blickte dann kurz nach links und rechts. »Hören Sie, Mädchen, ich darf das eigentlich nicht, aber … eine Schwester Jelena hat mal hier gearbeitet, allerdings tut sie das seit einigen Monaten nicht mehr. Tut mir leid!« In dem kleinen Krankenhaus schien der Mann über alles und jeden Bescheid zu wissen.

»Aber was mache ich denn jetzt?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blätterte der Mann durch das abgenützte Telefonverzeichnis ganz nach hinten, schob es zu ihr hin, tippte mit dem Zeigefinger auf einige Zahlen und wandte sich ab. »Ich muss schnell etwas von dort hinten holen. Wenn Sie mich entschuldigen?« Schnell prägte sich Marlena eine der mit der Hand gekritzelten Nummern ein und schenkte ihm einen dankbaren Blick, den er mit einem winzigen Zucken der Mundwinkel quittierte.

Samt ihren Blumen machte sie sich auf den Weg. Kein Wunder, dass Jelena bislang unauffindbar gewesen war! Doch nun war Marlena auf der richtigen Spur, die allerdings weiter wegführte als gedacht.

6
LILLY
Salzburg

Wer Salzburg besuchte, kam schon rein optisch nicht an der Festung Hohensalzburg und dem Mönchsberg vorbei. Direkt an dessen steil abfallender Klippe prangte das Museum der Moderne, ein verglaster Marmorblock, in dessen Fassade ein Computerprogramm Noten aus Mozarts Don Giovanni eingestanzt hatte. Vor dem Museum – mit spektakulärem Blick über die Stadt – gab es einen beliebten Szenetreff, das M32.

Ich setzte mich an einen der luftigen Tische und genoss die Aussicht.

Noch hatte ich nichts von Ferdl gehört. Nur zu gern hätte ich gewusst, ob seine tschechischen Quellen bereits Erfolg gehabt hatten. Er selbst war in Wien geblieben und machte andere Jobs, während ich hier in Salzburg fröhlich das Mikro schwang. Vielleicht würde ich ihn nachher anrufen. Zugegeben, ich war ungeduldig – und immer noch reichlich beunruhigt.

Doch jetzt gab es anderes zu tun. Gleich würde ich die heurige Buhlschaft treffen, die die Rolle das erste Mal gab und von den Kollegen aus der Kultur dafür hymnisch gelobt wurde. Ich war ein wenig zu früh, also googelte ich den gestrigen Abend, die ersten Kritiken und die bereits online gestellten Fotos.

Und da war er wieder! Der Fotograf eines Szeneportals hatte Mr. Grey abgelichtet. Er lächelte freundlich in die Kamera. Erstmals kam ich in den ungehinderten Genuss seiner strahlend grauen Augen, die perfekt zum akkurat geschnittenen grauen Haar und dem Dreitagebart passten. Ob er bei all der Pracht nachgeholfen hatte? Sie schien mir einfach zu makellos. Seine schlanke Gestalt steckte in einem sichtlich teuren Smoking. Wer bist du bloß, fragte ich mich einmal mehr.

Ich blickte hoch. Und auf geschätzt zwei Meter Distanz in genau dieselben grauen Augen wie auf dem Foto. Für einen Moment war ich völlig neben der Spur.

»Matej! Da bist du ja!«, hörte ich eine rauchige Stimme, ehe die Frau dazu erschien. Nein, eher ein Vamp, wie ich irgendwo gelesen hatte.

Der Mann, der mich soeben desinteressiert gemustert hatte, fuhr herum und bekam einen Kuss auf die Wange. Dann wandte sich dieser weibliche Tornado mir zu. »Sie sind Frau Speltz, nicht wahr? Ich kenne Sie noch von Georg, Gott hab ihn selig. Was für eine Tragödie! Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen!«

Ich wurde an ihre Brust gezogen und sah mit einem Mal rot. Was weniger an meinem Missfallen lag als an der Haarpracht, wilden tizianfarbenen Locken, die ihr vom Kopf abstanden und weit über die Schultern fielen.

Mr. Grey beäugte uns amüsiert und mit verschränkten Armen. Als ich wieder in Freiheit war, wurden wir einander vorgestellt. »Frau Speltz, das ist mein Freund Matej. Wir sind nachher zum Essen verabredet, aber er ist etwas zu früh. Es stört Sie doch nicht, wenn er bei dem Interview anwesend ist, nicht wahr? Wie lange werden wir denn brauchen?«

Wenn es nach mir geht, lange, dachte ich mit einem Seitenblick auf Matej. Meinte sie mein Freund oder einfach nur ein Freund?

»Es freut mich auch, Sie kennenzulernen«, versuchte ich Ordnung in die nächsten Minuten zu bringen. »Eine halbe Stunde müssten Sie uns schon geben!«

In diesem Augenblick kam mein Kamerateam. Ich deutete auf die beiden. »Wenn wir gleich loslegen, sobald alles aufgebaut ist.«

»Matej, es macht dir doch nichts aus, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf.

Ich musste es wissen.

»Es wäre natürlich schön, wenn wir Ihrem … äh … Lebensgefährten auch ein paar Fragen stellen dürften.«

Ich erntete ein tiefes Lachen. »Matej, mein Lieber, wenn wir nicht aufpassen, landen wir bald verheiratet in der Presse! Nein, nein, Werteste, das lassen wir mal schön. Er bleibt bitte außen vor. Halten wir uns doch einfach an das, was Sie mir haben zukommen lassen.«

Diese Buhlschaft war in der Tat sehr amüsant. Schnell taute sie auf und beantwortete mir am Ende auch die privateren Fragen, die nie von ihrer Agentin abgesegnet worden waren. Alle, bis auf eine: Als wir den Dreh im Kasten hatten, wusste ich immer noch nicht, ob sie und Mr. Grey ein Paar waren.

So war ich keinen Schritt weiter, als ich mich auf dem Weg zum Lift tief im Inneren des Mönchsberges machte, der mich hinunter in die Stadt bringen würde.

7
MARLENA
Am selben Nachmittag

»Ja?«

Ein Flüstern, mehr nicht.

Endlich! Marlena hatte es schon mindestens zehnmal probiert, aber nie hatte sich jemand unter der Festnetznummer gemeldet, die sie sich in der Klinik erschlichen hatte. Kurz war ihr der Gedanke gekommen, sie hätte einen Ziffernsturz produziert oder falsch abgelesen.

»Guten Tag, spreche ich mit Jelena Jelinek?«, fragte sie geradeheraus.

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dehnte sich.

»Hallo, bitte reden Sie doch mit mir! Mein Name ist Marlena. Ich bin auf der Suche nach Jelena. Können Sie mir helfen?«

Ganz deutlich hörte Marlena jemanden atmen. Dann wieder das leise Flüstern. »Sie suchen Jelena? Und fragen mich?«

Marlena spürte den Groll aus dem Hörer kriechen. »Bitte, ich muss sie unbedingt finden!«

Die nächsten schweren Atemzüge. Und dann: »Wozu? Lassen Sie mich doch mit der zufrieden! Ich weiß nichts.«

Das Freizeichen ertönte.

Aufgelegt.

Eine Stunde lang probierte Marlena es alle fünf Minuten. Nie hob jemand ab.

Hungrig setzte sie sich in ein Lokal am Fluss und bestellte Bier und Gulasch. Am Nebentisch kämpfte eine Touristin mit der Speisekarte, im Bestreben, ein Gericht zu finden, das weder Fleisch noch Zuckerberge enthielt. Viel Glück, dachte Marlena mitleidig.

Sie nahm einen Schluck von ihrem Bier. Versuchte es ein letztes Mal. Wieder ohne Erfolg. Dann hatte sie genug. Sie rief ein elektronisches Telefonbuch auf und startete die Rückwärtssuche, indem sie die Telefonnummer in das entsprechende Feld eingab.

Sekunden später leuchtete eine Adresse auf.

Zufrieden lächelnd lehnte Marlena sich zurück, musterte gierig den Teller, den die Bedienung soeben vor sie hinstellte, und schmiedete einen Plan.

0043 – die Vorwahl für Österreich – hatte sie im Krankenhaus stutzig gemacht. Das Gespräch vorhin hatte sie auf Deutsch geführt und diese Adresse bestätigte es. Sie musste über die Grenze. Wenn auch – laut Google Maps – nur ein paar Meter.

Sie schaffte die knapp 30 Kilometer mit dem Auto in genau 28 Minuten. Der Grenzort hieß Wullowitz. Genau einer der 85 Einwohner interessierte Marlena ganz besonders.

Das Navi dirigierte sie zu einer schmalen, hügeligen Straße, die nach etwa anderthalb Kilometern am Waldrand endete, direkt an einem einsam stehenden kleinen Haus mit steilem Dach, dessen Jalousien geschlossen waren. Der große, sorgsam eingezäunte Garten wucherte üppig und war sehr gepflegt. Auf den ersten Blick erkannte Marlena Tomatenstauden, einige Hochbeete, Bohnenranken, ein Feigenbäumchen und etwas weiter hinten Obstbäume. Neben dem Eingang parkte ein winziges rotes Auto von der Sorte, die man ohne Führerschein fahren durfte.

Marlena war nicht besonders ängstlich, umso mehr, da sie einige verschiedenfarbige Gürtel in Karate und eine Ausbildung zur Personenschützerin besaß. Dennoch konnte ein wenig Vorsicht nicht schaden. Zugunsten der Bewegungsfreiheit hatte sie vorhin das schwarze Trauerkleid vom Krankenhaus gegen einen blauen Trainingsanzug getauscht und sich eine Mütze aufgesetzt.

Langsam stieg sie aus. Das Grundstück wirkte verlassen.

Neben der braunen Eingangstür war eine Klingel ohne Namen angebracht. Sie drückte auf den Knopf, doch es blieb still. Ohne Scheu klopfte sie mehrmals gegen das Holz. Vorsichtshalber hatte sie eine Dose Pfefferspray eingesteckt und tastete unwillkürlich danach, als nach einer gefühlten Ewigkeit schwere Schritte ertönten. Dann wurde die Tür einen Spaltbreit aufgezogen.

Marlena sah sich einem untersetzten Mann in einem sauberen weißen Unterhemd, kurzen Hosen und Plastikhausschuhen gegenüber. Seine wässrigen Augen und die vielen geplatzten Äderchen um die Nase erzählten eine lange Geschichte von Alkoholmissbrauch.

»Was ist?«

Dass Unhöflichkeit ihr gleichgültig war, konnte er nicht wissen. Freundlich legte sie los. »Guten Tag. Mein Name ist Marlena Houdek. Darf ich mich bitte kurz mit Ihnen unterhalten, Herr Jelinek? Ich bin extra aus Wien hierhergekommen.«

Für einen kurzen Moment flackerten seine Augen. Misstrauen mischte sich mit einem Ausdruck von Unwillen. »Kommt nicht infrage. Verschwinden Sie!«

Marlena ging nicht darauf ein. »Bitte! Es ist wirklich wichtig! Sie sind der Einzige, der mir helfen kann. Lassen Sie mich doch nicht so stehen! Ich brauche nur fünf Minuten, dann bin ich weg, versprochen!«

Nach wie vor war der Mann die personifizierte Grobheit. »Sie wissen offenbar, wer ich bin. Trotzdem gibt es nichts, was ich Ihnen sagen könnte.«

Die Unsicherheit hinter den abweisenden Worten war Marlena nicht entgangen. »Es geht um Ihre Tochter. Jelena.«

Seine Miene verschattete sich. »Jelena?«

Unschlüssig zog er die Tür ein wenig weiter auf. Darauf hatte Marlena gewartet. Mit einem erleichterten »Ich danke Ihnen so sehr!« ließ sie ihm keine Chance auf weitere Gegenwehr, drängte ihn zur Seite und fand sich in einem dunklen Flur wieder. An einem Haken hing eine verschlissene Jacke mit dem Logo einer Biermarke, darunter standen zwei Paar klobige, aber saubere Schuhe.

Überrumpeltes Gebrabbel in ihrem Rücken. Zu spät, mein Lieber, dachte sie und überprüfte schnell die Umgebung. Rechts verhängte ein bunter Vorhang mit Plastikperlen den Zugang zu einer Küche. Drei geschlossene Türen gingen vom Gang ab, eine weitere stand offen.

Ihr unfreiwilliger Gastgeber hatte sie inzwischen eingeholt und musterte sie mit verschränkten Armen von oben bis unten. »Sie sind ganz schön frech, Mädchen. Eigentlich müsste ich Sie sofort wieder hinauswerfen. Aber Sie haben einen weiten Weg hinter sich, also hier entlang!«

Zwei Meter weiter fand Marlena sich in einem perfekt zusammengeräumten Wohnzimmer wieder und nahm auf einem grünen Sofa Platz, das mit einer durchsichtigen Plastikfolie abgedeckt war. Die Wohnung wirkte kahl. Der Mann schien keinen Wert auf Bilder, Pflanzen oder Dekoration zu legen. Genauso wenig wie auf Teppiche oder Vorhänge. So hatte sie ungehinderte Aussicht auf rissiges, braunes Linoleum am Boden und vergilbte Wände.

»Also, was ist Sache?« Ein weiterer indifferenter Blick traf Marlena. Ihr Gastgeber blieb stehen und bot ihr auch nichts zu trinken an.

Ohnehin besser. »Nun, wie gesagt, ich bin auf der Suche nach Ihrer Tochter Jelena, Herr Jelinek, und ich hoffe inständig, dass Sie mir weiterhelfen können.«

Der Alte stemmte die Hände in die Hüften. »Was wollen Sie denn von ihr?«

Es war Zeit, ihm die Geschichte aufzutischen, die sie sich auf der Fahrt hierher zusammengeschustert hatte. »Jelena und ich waren Kolleginnen im Krankenhaus in Krumau, hatten oft zusammen Dienst. Vor ein paar Monaten fand ich sie weinend auf der Toilette. Sie meinte: ›Es kann sein, dass ich über kurz oder lang verschwinden muss. Wenn du mich finden willst, geh zu meinem Vater!‹ Sie gab mir Ihre Adresse. Dann bin ich nach Wien gezogen. Dieses Wochenende war ich zum ersten Mal wieder in Krumau und wollte sie besuchen. Doch sie ist verschwunden, niemand weiß, wohin. Jetzt mache ich mir natürlich Gedanken, tue, was sie gesagt hat, und bin bei Ihnen gelandet!«

Ob sie damit punkten konnte? Nur der rasselnde Atem des Alten durchbrach das tiefe Schweigen. Es hörte sich nach einem gravierenden Problem mit der Lunge an. Nicht nur seine Leber war bedient.

»Jelena ist nicht hier!«

Marlena erschrak über die energische Antwort. »Aber geht es ihr gut? Ich bin wirklich besorgt.«

»Müssen Sie nicht!« Es war ihm herausgerutscht. Grantiges Luftschnappen ging in einen massiven Hustenanfall über.

»Sie wissen also, wo sie ist?«, forschte Marlena nach, als er sich wieder beruhigt hatte.

Der alte Mann schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein. Sie hat mich allein gelassen …«

Er brach ab. Bei den letzten Worten hatte seine Stimme gezittert. Vor Marlena stand ein Verzweifelter, dem offenbar vom Leben nicht mehr geblieben war als Alkohol, ein winziges Auto, ein leeres Haus und jede Menge Verbitterung.

»Das tut mir leid«, hörte sie sich sagen.

Sein Blick war verhangen. »Mit meinen Töchtern hatte ich nichts als Pech. Die eine war eine … ach Scheiß drauf. Und die andere ist ohne richtige Erklärung abgehauen. Alles, was ich bekomme, ist hin und wieder eine Postkarte mit: Hallo, Táta, es geht mir gut!«

Marlena horchte auf. »Postkarten?«

Statt einer Antwort deutete der Mann auf einen kleinen Stapel Papier, der auf einer abgenutzten Kommode lag. »Aber was soll’s. Sie hat mich verlassen. Wie ihre verschissene Mutter und ihre Schwester. Zum Teufel mit den Weibern. Haben mich immer nur ausgenutzt. Ich dachte mal, Jelena wäre anders. Alles Schmarrn. Ich bin ihr gleichgültig. Also ist es auch umgekehrt so.«

»Wirklich?«

Er nickte, doch Marlena entging das kleine Zögern nicht. Natürlich hatte er Sehnsucht nach seiner Tochter, war aber wohl zu stolz und verletzt, das zuzugeben.

»Hatte sie vielleicht Freundinnen, irgendjemanden, der mehr wissen könnte?«

Der Alte verneinte. »Der einzige Mensch, mit dem sie sich immer prächtig verstanden hat, war ihre jüngere Schwester. Doch die ist tot und begraben. Und jetzt gehen Sie bitte. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

Marlena stand auf. »Danke vielmals, Herr Jelinek. Ich werde Sie nicht weiter stören.«

Sein Unterkiefer mahlte. Eine Antwort gab er nicht mehr.

Als Marlena ging, legte sie ihm kurz die Hand auf die Schulter, froh, all der Tristesse entkommen zu können. Sie stieg in ihr Auto und rollte ein paar Hundert Meter, ehe sie rechts ranfuhr.

Nachdenklich musterte sie die zwei Postkarten, die sie beim Hinausgehen vom Stapel geklaut hatte. Sie waren offensichtlich über eine App selbst gestaltet worden. Auf der Vorderseite prangte jeweils ein nichtssagendes Landschaftsbild, einmal ein Wald, auf der zweiten ein See, hinten derselbe computergenerierte Text: »Es geht mir gut, Táta!« Keine Unterschrift. Rechts unten stand die ebenfalls über den Computer erstellte Adresse. Darüber die Briefmarke. Und …

Marlena erstarrte.

Mit einem Mal wurde ihr klar, warum Jelena bislang so schwer zu finden gewesen war. Und dass sie ihrem Vater sehr wohl mitgeteilt hatte, wo sie steckte.

8
LILLY
Wien, ein paar Tage später

Es war so weit.

Ferdl hatte sich gemeldet.

»Das Stierln hat’s gebracht, Lilly! Ich weiß was!«

Wir verabredeten uns am Würstelstand bei der Albertina, mitten im ersten Bezirk. Ferdl hatte dort einen Dreh und wie immer danach Hunger. Als ich kam, kaute er schon vergnügt eine vor Fett triefende Käsekrainer. Weil ich ihn kannte, holte ich ihm gleich noch eine.

»Und nimm bitte an Schoafn zur Eitrigen, Lilly!«, rief er dankbar und meinte damit scharfen Senf zu seiner Wurst in spe. Sollte er tatsächlich Erfolg gehabt haben, würde ich ihm eine Monatsration schenken. Ich selbst bestellte nur Mineralwasser und trug meine Schätze an Ferdls Hochtisch.

Stirnrunzelnd musterte ich die Menschenmassen auf der breiten Stiege der Albertina. Die ehemalige Habsburgerresidenz zählte zu den Besuchermagneten der Stadt. Dann wandte ich mich wieder meinem Lieblingskameramann zu. Der biss gerade genussvoll in seine Käsekrainer. Ich ließ ihm sein Vergnügen, obwohl ich vor Neugierde brannte. Doch wenn es ums Essen ging, war Ferdl kompromisslos.

Währenddessen wanderte mein Blick von den Touristen zum Würstelstand, dem vielleicht einzigen seiner Art, der je für einen Staatspreis für Design nominiert worden war. Es war ein dunkelbrauner Kasten mit einem weit überkragenden Dach, großen Fenstern und geschickter Beleuchtung.

Endlich schluckte Ferdl mit einem zufriedenen Brummen den letzten Bissen hinunter und spülte mit Bier nach. Wortlos harrte ich der Dinge, weil ich wusste, dass er erst dann loslegen würde, wenn es ihm passte.

»Also, Lilly. Ich erspar’ dir die Details. Es hat gedauert, warum, musst du nicht wissen. Aber stell dir vor, diese Jana hatte tatsächlich eine ältere Schwester. Jelena. Jelena Jelinek. Komischer Name, nicht?«

»Okay«, sagte ich eine Oktave höher als gewöhnlich.

»Wir haben sie gefunden.«

Ich verkniff mir die Frage nach dem »wir«. Irgendwann hatte Ferdl von einem Verwandten erzählt, der einmal bei der Polizei gearbeitet und sich danach selbstständig gemacht hatte.

»Und?«

»Und das war gar nicht so leicht!«

Ich lächelte. »Ferdl, du bist wirklich ein Schlingel! Jetzt hör schon auf, mich so auf die Folter zu spannen! Du weißt doch ganz genau, wie neugierig ich bin!«

Zur Strafe trank Ferdl sein Bier in einem Zug aus, ging zurück zum Cholesterinparadies und bestellte sich noch eines. Erst als er die Dose geöffnet, mir zugeprostet und einen weiteren Schluck genommen hatte, fuhr er fort. »Es war a brada Weg, ein Hin und Her, kreuz und quer durch meine schöne Ex-Heimat. Und weißt, wo wir die Jelena dann g’funden haben?«

Stirnrunzelnd lauerte ich auf die Antwort.

»Hier, in unserem schönen Wien!«

»Nein!«

»Doch! Die Marlena ist schon eine. An den Postkarten hat’s das erkannt!«

»Marlena?«

Ferdl nickte. Aber ehe er ins Detail gehen konnte, wurden wir von einer Gruppe Touristen in die Zange genommen, die nur ein Ziel zu haben schien: Würstel! Und wir blockierten die Einflugschneise.

»Öha, du Rotzmensch, pass doch auf!«, schimpfte Ferdl, als ihn ein Ellenbogen im Kreuz traf. Statt einer Entschuldigung hielt ihm eine dünne Japanerin mit weißem Schlapphut ihr Smartphone vor die Nase und deutete auf ihre drei Begleiterinnen. Sein gutes Herz schlug durch. Ergeben nickte er und machte Fotos, während ich einem Bierbauch in einem T-Shirt mit der Aufschrift »Leer gut, voll besser!« auswich. So wie der roch, hatte er es schon einige Tage lang an der Dusche vorbeigeschafft.

Ferdl war indessen entlassen. Laut schnatternd versuchten die Japanerinnen ihr künftiges Essen zu identifizieren, während der Dicke kurzerhand seine Bestellung über ihre Köpfe hinwegbrüllte. »Zwei Hotdogs und ein großes Bier, aber dalli!«

Wir ergriffen die Flucht und schlenderten in Richtung Michaelerplatz.

»So ein Ungustl. Der gehört verboten!«, schimpfte mein Lieblingskameramann.

Ich versuchte, ihn wieder auf Spur zu bringen. »Vergiss den, der spürt sich nicht. Erzähl mir lieber mehr von Marlena! Du hast sie am Rande immer wieder mal erwähnt. Wer ist das genau?«

Ferdls Gesicht wurde mit einem Mal weich. Jeglicher Unmut wich einem zärtlichen Lächeln. »Marlena ist meine sehr talentierte Nichte. Eigentlich ist das Mädel Bloggerin, aber es gibt nichts, was ihr verborgen bleibt, wenn sie auf der Jagd ist. Und sie macht die besten Buchteln der Welt. Oder die Powidltatschkerln, Lívanec und Palačinke, für die begehst ein Verbrechen, sag ich dir!«

Mit einem Seitenblick musterte ich Ferdls stattliche Wampe unter seiner ärmellosen Jacke mit den vielen Taschen. Oh ja, darin lagen neben Kilometern von Käsekrainern sicherlich auch Tausende Powidltascherl, Hefeküchlein und Palatschinken begraben. Diese Marlena klang jedenfalls interessant.

»In Oberösterreich hat sie dann schließlich Janas und Jelenas Papa gefunden. Der stammt von dort. Die Mutter war Tschechin, aus Krumau. Ist gestorben. Er hat Marlena erzählt, dass Jelena seit einiger Zeit verschwunden ist, ihm aber schreibt.«

Mittlerweile waren wir in den Kohlmarkt eingebogen, wo eine Baustelle den Weg blockierte. Auf dem passierbaren Schlurf parkte gerade ein Teenager einen der neuerdings omnipräsenten Mietroller. Ein Bauarbeiter in grelloranger Montur hob seine Faust und brüllte: »Weg damit, sonst prack i dir eine, dass du mit’m Oasch auf die Uhr schaust!«

Wien im Hochsommer.

»Verschwunden?«, echote ich.

Ferdl berichtete ungerührt weiter. »Jelena hat die Postkarten über eine App erstellt, mit der man auch die Marken selber gestalten kann. Stell dir vor, das waren lauter Wiener Wahrzeichen! Der Steffl, die Oper, die Burg, das Belvedere und sogar einmal ein Fiaker. Und der Poststempel war auch aus Wien. Da war der Marlena natürlich sofort klar, wo die Jelena sein könnte.«

Auf die Idee, Janas Schwester vor unserer Nase zu suchen, war ich natürlich nicht gekommen!

»Und das mit den Marken und dem Stempel ist ihrem Vater nicht aufgefallen?«

»Wahrscheinlich schon, aber Marlena meinte, er sei sehr verletzt und traurig über Jelenas Verhalten. Es kann natürlich auch sein, dass er einfach gelogen hat.«

»Und wo wohnt diese Jelena jetzt? Was macht sie? Wo kann ich sie finden?«

»Despacito!«, brummte Ferdl und musterte angewidert ein buntes Etwas in einer der teuren Nobelboutiquen.

»Ich bin aufgeregt, ich kann das Gas jetzt nicht rausnehmen!«

»Vom Hudeln kommen die Kinder, Lilly!«

Der Kerl konnte einen wahnsinnig machen!

Abrupt blieben wir stehen, aufgehalten von einer schier undurchdringlichen Wand an Menschen vor dem Gourmettempel Meinl am Graben. Normalerweise war es ein Vergnügen, dort herrliche Köstlichkeiten aus aller Welt zu entdecken, aber nicht, wenn es zuging wie auf einem Rockkonzert.

Ferdl verzog das Gesicht. »Lauter Depperte!«, sagte er laut und erntete den verwunderten Blick einer gepflegten älteren Dame.

»Scusi?«, fragte sie verunsichert.

»A geh, du Blunzn, dich mein ich doch ned!«, schimpfte mein wenig charmanter Begleiter, gefolgt von einem gesäuselten: »Buon giorno, Signora! Posso?«

Ich musste lachen. »Seit wann kannst du denn Italienisch?«

»Ach, das war Italienisch?«, grinste der Nachwuchscasanova neben mir und kämpfte sich schweigend in Richtung Tuchlauben weiter. Ich trabte neben ihm her und wurde immer ungeduldiger. Was hatte er vor?

Am Salzgries, kurz vor dem Rudolfsplatz, reichte es mir. »Dein Verdauungsspaziergang in Ehren, aber jetzt ist Schluss. Sagst du mir bitte endlich, wo ich Jelena finde?«

Statt einer Antwort blieb Ferdl stehen und deutete auf ein wunderschönes, neu renoviertes Jahrhundertwende-Palais direkt vor uns. Erste Lage. Unbezahlbar. Luxusresidenzen.

»Hier!«, sagte er.

Die Gegend zwischen Salzgries und Schottenring war früher das Zentrum des Wiener Textilhandels. Wir befanden uns also inmitten des ehemaligen Fetzenviertels. Schon längst waren die traditionsreichen Baumwoll- und Zwirnspinnereien noblen Wohnhäusern, Möbel- und Designgeschäften gewichen – und vielen Bars. Weil man hier problemlos abstürzen und tagelang verschwinden konnte, trug die Ecke den Namen Bermudadreieck.

»The Weaving Mill Residence«, stand in dezenten silbernen Lettern auf einem Schild, das seitlich am Eingangsportal des Palais angebracht war.

»Darf ich vorstellen: Das ist die Milli!«, sagte Ferdl und wies mit einer übertriebenen Geste in Richtung des weiß getünchten Prachtbaus mit den großen Sprossenfenstern. Über dem Mezzanin besaß er weitere vier stuckverzierte Stockwerke und eine daraufgesetzte Dachgeschoss-Beletage. Besonders auffällig waren zwei markante Erker. Außerdem entdeckte ich die Einfahrt einer Tiefgarage.

Fragend sah ich Ferdl an.

»Meine Liebe, du erblickst 20 lichtdurchflutete Wohnungen mit durchdachten Grundrissen in den Größen von 75 bis 200 Quadratmetern. Vier davon befinden sich in der Beletage – natürlich ohne störende Dachschrägen. Besonders spektakulär ist das Penthouse – samt Turmzimmer und sechs Meter hohen Räumen.«

So wie er klang, rezitierte er – übrigens in perfektem Burgtheaterdeutsch – die Website eines teuren Immobilienmaklers, war aber noch nicht fertig. »Purer Luxus findet sich natürlich auch im Innenbereich. Die Ausstattung der Wohnungen passt zum eleganten Gesamtkonzept: hochwertige Parkettböden, Stuckdecken, klassische Doppel-Flügeltüren, viel Naturstein und Designarmaturen – allesamt aus Manufakturen österreichischer Hersteller. In der hauseigenen Garage stehen den Bewohnern jeweils zwei Parkplätze zur Verfügung. Beeindruckt?«

Und wie! »Hier könnte ich mir wahrscheinlich nicht einmal die Fußmatte leisten«, ätzte ich. Was nicht ganz stimmte, denn ich hatte Georgs erkleckliches Vermögen geerbt, allerdings bislang nichts davon angerührt. Keinen Cent.

»Aber wie passt die kleine Jelena aus Krumau in diese Protzburg?«, fragte ich verwundert.

»Das ist die Frage, ned wahr? Die musst du allerdings selber beantworten. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass sie einer Stiftung gehört und Jelena hier gemeldet ist. Vermieter ist ein Dr. Novotny. Wir haben sie für dich gefunden. Jetzt übernimmst du, Lilly!«

Ferdl drückte mich kurz, wünschte mir alles Gute und war verschwunden.

Ratlos blickte ich an der Fassade empor und überlegte fieberhaft. Weil mir allerdings nichts wirklich Schlaues einfiel, überprüfte ich vorerst einmal das dezente Klingelpaneel. Dr. Novotny residierte offenbar nicht nur im Penthouse, er betrieb dort auch eine Praxis. Plastische Chirurgie. Das Schild aus gebürstetem Edelstahl erklärte mir, dass ich nur auf Voranmeldung eingelassen werden würde.

Binnen drei Sekunden warf Dr. Google mir die entsprechende Website aus. Begrüßt wurde ich dort von einer wunderschönen Nackten, die auf dem Rücken lag und mich verführerisch anlächelte. Es war ein hochprofessionell gemachtes Bild und weit weg davon, billig zu wirken. Nichts als perfekte Haut, makellose Kurven und die Anmutung von Unschuld, Schönheit und Reinheit. Das musste man erst mal hinkriegen.

Ich scrollte durch das Angebot. Fettabsaugung, Brustbereich, Botox, Gesicht. Körper. Möglich war scheinbar mittlerweile alles. Wer es sich leisten wollte, konnte sich sogar – ich sah zweimal hin – seine Schamlippen verkleinern lassen! Echt jetzt? Es gab einen Button für Terminvereinbarungen, eine Telefonnummer, die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Was nicht existierte, war ein Foto des guten Herrn Doktors. Aber das interessierte mich im Augenblick ohnehin nur am Rande, war ich doch lediglich einen Anruf davon entfernt, ihn kennenzulernen. Ich klickte auf das entsprechende Icon und landete auf einer von sanfter Musik unterlegten Telefonschleife, die mir mit sonorer Stimme ins Ohr säuselte, man freue sich und wäre gleich für mich da. Ich fragte mich, ob Jelena dort als Sprechstundenhilfe arbeitete.

»Ordination Dr. Novotny, Guten Tag! Wie kann ich Ihnen helfen?«

Die Stimme war weiblich, aber ich nahm nicht an, dass Jelena, trotz ihres österreichischen Vaters, akzentfreies Deutsch mit leichtem Wiener Einschlag sprach.

»Mein Name ist Spell, guten Tag. Ich rufe auf Empfehlung einer Freundin an und beabsichtige, eine sehr gute Kundin zu werden. Aber nur, wenn mir bei Ihnen alles zusagt und ich umgehend einen Termin bekomme. Am liebsten heute noch. Was können Sie für mich tun?« Ich hatte alle Arroganz, die ich zusammenkratzen konnte, in diese Sätze gelegt, ein in dieser Umgebung zweifelsohne gängiges Accessoire.

In der Tat schien die Sprechstundenhilfe solcherlei gewohnt zu sein. Routiniert bat sie mich, ein Momentchen zu warten. 30 Sekunden später hatte ich einen Termin für ein erstes Beratungsgespräch.

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23 aralık 2023
Hacim:
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9783839269848
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