Kitabı oku: «Und dann kam das Wasser», sayfa 2

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Die Passauer Altstadt liegt auf einer Landzunge, die nach Osten ragend in die sogenannte Ortsspitze mündet. Dort treffen Donau, Inn und Ilz zusammen. Normalerweise führt ein Weg direkt um diese Ortsspitze herum und lädt Besucher und Bewohner der Stadt zu einem interessanten Spaziergang ein. Für Kinder und Junggebliebene gibt es auf dem dortigen Spielplatz reichlich Gelegenheit zum Toben. Ein herrlicher Ort also, mit einer ganz besonderen Aussicht auf das Flusstal der Donau, die Wallfahrtskirche Maria Hilf und die Veste Oberhaus. Dass noch niemand auf die Idee gekommen war, dort ein Haus hinzubauen, lag wohl unter anderem daran, dass die Ortsspitze auch immer der erste Punkt war, der bei Hochwasser in den Fluten versank. Zumindest sah das in diesem Moment so aus. In Wirklichkeit stieg das Wasser über die gesamte Breite von Inn und Donau an, genauso, wie es in der Legende der biblischen Sintflut geschehen war.

Der Mann, der am Ende der Bräugasse stand und mit aufkeimender Verzweiflung versuchte, seine Zigarette zum Glühen zu bringen, dachte oft an diese und ähnliche Geschichten aus der Heiligen Schrift. Er liebte sie alle, weil sie schon seine Kindheit bevölkert hatten. Nach dem frühen Tod der Mutter konnte er sich mithilfe der christlichen Verse an ihre Stimme erinnern. Seine Mutter vermisste er sehr, auch wenn er wusste, dass sie inzwischen an einem besseren Ort war.

„Aber es gibt doch keinen besseren Ort als diesen“, flüsterte er dem Regen zu und sah sich vorsichtig um. Man durfte ihn weder hören noch sehen, sonst …

Er wusste nicht, was sonst geschehen würde, nur, dass ihn niemand sehen durfte. Seine Mutter hatte das immer gesagt. Und seine Mutter hatte nie gelogen. Basta. Das hatte zumindest immer seine Mutter gesagt, wenn sie keinen Widerspruch duldete.

Als er die Zigarette endlich angezündet hatte, beschattete er die Glut mit seiner freien Hand. Niemand durfte wissen, dass er hier war. Keiner ahnte, was er alles wusste, auch wenn es ihm manchmal herausrutschte. Seine Mutter hatte dann immer gesagt: Sei nicht so vorlaut! Nie hatte sie seinen Geschichten geglaubt. Hör auf mit den Lügen! Basta! Dabei musste man sich die verrücktesten Geschichten doch gar nicht ausdenken, das tat das Leben schon von ganz allein.

Als er sich sicher war, dass niemand ihn beobachtete, schlich er sich über die provisorischen Hochwasserstege, an der Nepomuk-Statue vorbei bis auf die Terrasse des griechischen Lokals und verbarg sich anschließend in dem kleinen höher gelegenen Gang, der hinter der ersten Häuserzeile verborgen lag. Er musste vorsichtig sein, denn seit das Wasser da war, nahmen die Bewohner diesen Weg, wenn sie die Häuser verlassen wollten.

Die Donau stand hier schon mehr als einen Meter hoch zwischen den Häusern und machte das Passieren unmöglich. Keiner wusste, wie lange es dauern würde, bis die Pegel wieder sanken, und jeder hoffte, dass es nicht höher stieg, als die Decken der Keller reichten.

Seit über vierzig Jahren lebte er im „Örtl“, wie die Menschen, die schon immer hier gewohnt hatten, ihre Gemeinde gern nannten. Er war auch einer von den Örtlern und wusste immer, wann das Wasser kam. Er hatte es im Gefühl. Er behielt die Flüsse, wie alles andere auch, im Auge. Angst aber hatte er nicht vor dem Wasser.

Er nahm einen letzten Zug, und weil er schon fast am Filter war, schnippte er die Kippe gleich darauf in den dunklen Gang hinein, wo sie augenblicklich in einer Pfütze verglühte. Dann wandte er die Aufmerksamkeit den beiden Männern zu, die, in wuchtige Stiefeln und dicke Jacken gekleidet, die Fenster und davor angebrachten Abdeckungen kontrollierten. Sie kamen vom Schloss Ort und mussten auf den Stegen direkt an ihm vorbei, sahen ihn aber nicht. Er war wie immer ein unsichtbarer Schatten. Wie das Gewissen vom Örtl.

Schließlich entdeckte einer der beiden Männer das offene Fenster, das zum alten Laden führte. Erst zögerte er noch, doch dann stieg er über den Steg hinein, schaltete seinen Strahler an und wartete, bis sein Kollege ihm gefolgt war.

Endlich, dachte er und lauschte auf ihre Unterhaltung. Er hatte seinen Platz verlassen und kauerte jetzt vor dem Fenster.

Der Laden stand seit einiger Zeit leer. Ein Grund dafür, warum er ihm immer wieder einen Besuch abstattete. Heute jedoch würde er nicht hineingehen, denn er hatte gehört, wie das Glas zu singen begann. Er wusste, was das hieß. Die Leute glaubten, er wäre dumm, aber da täuschten sie sich gewaltig.

Gerade spekulierten die Männer darüber, ob es in diesem Verschlag überhaupt etwas gab, was man retten sollte, und ob nicht einfach jemand vergessen hatte, das Fenster zu schließen. Das Patschen ihrer Schuhe zeigte, dass bereits Grundwasser eingedrungen war. Noch hielt der Sandsackverbau vor der Tür den steigenden Fluten stand, aber wenn der Druck auf die alten Fensterscheiben zu groß wurde, dann konnten sie leicht brechen, und dann …

Die Stimmen entfernten sich, drangen tiefer in das verlassene Haus ein, und er musste sich schon ein bisschen nach vorn beugen, um noch zuhören zu können. Doch auf einmal wusste er, dass sie am Ziel waren. Seine Finger kribbelten. Es war schön, wenn die Leute taten, wofür er sie vorgesehen hatte. Ohne das offene Fenster hätten sie nie nachgesehen, wären sie nie hineingegangen. Und hätten nie …

„O mein Gott!“, drang es urplötzlich aus den Tiefen des Hauses, und dieser Schrei kam dann doch so überraschend, dass er fast vom Steg gefallen wäre.


Unschlüssig stand Franziska im Bikini vor dem Kleiderschrank und fischte Sommerkleidchen, Shorts und Trägertops heraus, die dank des derzeitigen Passauer Schmuddelwetters und Temperaturen, die eher zum Winter passten, noch nicht zum Einsatz gekommen waren. Glücklich drehte sie sich vor dem Spiegel hin und her und sah förmlich, in welchem Ausnahmezustand sich ihr Körper befand, angeheizt von zu vielen Hormonen und der Vorfreude auf den Plan, den sie schon in den nächsten Tagen in die Tat umsetzen würde.

Irgendwann in der vergangenen Nacht, nachdem nicht nur König Marke, sondern auch Tristan und vor allem Isolde alles bekommen hatten, wonach sie verlangten, waren die beiden Laiendarsteller ins Schlafzimmer umgezogen, wo sie am Morgen gemeinsam erwacht waren. Das passierte nicht häufig, denn jeder der beiden hatte seinen Beruf und seine eigene Wohnung, und vor allem Walter liebte diese Freiheit sehr.

Franziska dagegen hatte sich in den vergangenen Monaten oft gewünscht, Walter würde zu ihr ziehen und immer da sein, wenn sie sich nach ihm sehnte. Auch wenn sie wusste, dass so eine Beziehung Walters Sache nicht war. „Liebe braucht Freiheit!“, hatte er behauptet, als sie ihn eines Tages schüchtern in ihre Überlegungen einbezog, und ihr erklärt, dass sie als Paar nur so wachsen und gedeihen und für alle Zeit aufregend füreinander bleiben würden. Und Franziska hatte genickt. Was hätte sie auch darauf antworten sollen.

An diesem Morgen hatte Walter ihr erzählt, dass er vor ein paar Tagen ein kurzfristiges Engagement in Palermo angenommen hatte. Eine tolle Chance für ihn, wie er mit breitem Lächeln zugegeben hatte.

Sie war ein wenig eingeschnappt, weil er ihr nicht früher Bescheid gegeben hatte, hütete sich aber wie immer davor, ihre Besitzansprüche, die sie an ihn stellte, laut auszusprechen. Stattdessen fragte sie: „Wann geht’s denn los?“

„Heute noch“, antwortete Walter, und er klang sehr zufrieden dabei, wie Franziska mit flauem Gefühl im Bauch bemerkte. „Was um alles in der Welt zieht dich nach Sizilien?“, bohrte sie weiter und schmiegte sich an seine Brust, als könnte sie ihn damit umstimmen. Walter lachte, küsste sie auf den Scheitel wie ein kleines Mädchen und fragte sie dann, ob sie bei diesem Wetter nicht auch lieber in der sizilianischen Sonne als im Passauer Dauerregen hocken würde.

„Du meinst, ich soll mitkommen?“

„Warum nicht? Zumindest besuchen könntest du mich.“

Wenn sie ehrlich zu sich war, klang es nicht unbedingt wie eine Einladung, aber Franziska war entschlossen, das zu ignorieren. Sie würde tun, was Walter ihr vorgeschlagen hatte – selbst wenn es nicht unbedingt ernst gemeint war. Urlaub nehmen, Koffer packen und ab nach Sizilien.

Später, als sie noch immer in seinen Armen lag und ihre Finger über seinen Bauch streichelten, flüsterte sie ihm voller Sehnsucht ins Ohr: „Was meinst du? Wollen wir dann die Geschichte von Tristan und Isolde noch ein bisschen vertiefen?“

„Du weißt schon, dass es für die beiden am Ende schlecht ausging?“

„Wir könnten ja die Geschichte umschreiben“, entgegnete sie nachdenklich, aber Walter hatte nur den Kopf geschüttelt.

„Ohne Gefahr wird Liebe schnell langweilig“, hatte er verkündet und sie an sich gezogen, um mit seinen Lippen ihren Mund zu verschließen.

„Komm ein bisschen mit nach Italien“, sang sie nun den alten Schlager und trällerte so falsch, dass sie selbst darüber lachen musste. „Komm ein bisschen mit ans blaue Meer!“

Auf dem Bett wuchsen die Stapel mit den Sommersachen, und sie überlegte, ob sie nicht doch einen größeren Koffer besorgen sollte. Während des Packens hatte sie sich im Internet die Sonneninsel Sizilien und die Temperaturen, die dort gerade herrschten, angesehen, und immer wieder eine SMS an Walter getippt. Er sei gerade angekommen, schrieb er, und es sei wunderschön. Daraufhin hatte sie Flugpreise verglichen und sich gedanklich schon in luftiger Höhe im Anflug auf Palermo befunden.

Ein Problem gab es natürlich noch. Sie musste ihren Chef informieren. Andererseits gab es keinen Fall, sondern nur ein paar alte Akten, die aufgearbeitet werden mussten. Aber er würde sie schon nicht zur Büroarbeit verdonnern. Letztlich hatte er auch gar keinen Grund, sie mit einem Nein abzustrafen, dachte Franziska, als sie wieder im Schlafzimmer stand, und grinste ihr Spiegelbild frech an.

„Soll er doch lieber mal froh sein, dass er eine so gewissenhafte und pflichtbewusste Mitarbeiterin wie mich hat“, erklärte sie sich selbst. „Und wenn diese hervorragende Kraft verliebt ist und endlich auch mal an sich denkt, was sollte der Chef dann dagegen haben?“

Trällernd und tanzend wirbelte sie durch die Wohnung, streckte dem Regen, der unaufhörlich auf die Fliesen des Balkons prasselte, die Zunge raus und legte sich schließlich im Bikini auf das große Fell, das noch immer auf dem Wohnzimmerboden lag. Von dort blickte sie in die blattlosen Zweige des künstlichen Baums, den Walter am Abend zuvor mitten im Raum aufgestellt hatte, rüber zum umgekippten Sofa, und musste lächeln. Walter war ein Hauptgewinn, so einfallsreich, leidenschaftlich und hingebungsvoll wie er war, und einen Mann wie ihn durfte frau auf keinen Fall in die Flucht treiben, da war sie sich sicher. Auch, wenn sie sich manchmal mehr Nähe wünschte. Aber seit wann war sie eigentlich so eine fürchterliche Glucke?

Ihr kam in den Sinn, dass der Liebestrank vielleicht tatsächlich echt gewesen und an ihrem Verhalten schuld war. Bei ihr hatte er allemal gewirkt, denn sie verhielt sich wie ein schwer verliebter Teenager. Und bei ihm offensichtlich auch. Immerhin hatte er sie eingeladen, ihn auf Sizilien zu besuchen. So nahe waren sie sich noch nie gekommen. Bis auf die gelegentlichen Ausflüge ans Theater und einige Besuche im italienischen Lieblingsrestaurant Franziskas um die Ecke unternahmen sie ohnehin recht wenig. Irgendwie hatte immer einer von beiden zu tun. Wenn sie aber doch Zeit füreinander fanden, landeten sie meistens im Bett oder an Orten, die sie für ihre Liebesspiele auswählten.

Und jetzt eine gemeinsame Reise als Krönung ihrer Liebe und endlich ganz viel Zeit füreinander. Klang das nicht wunderbar?

Ob es wohl wirklich an dem Getränk lag? Er hatte ihr nicht verraten, woher es stammte, wer es gemixt hatte und aus welchen Ingredienzien es letztlich bestand. Würde die Wirkung bald nachlassen? Und was würde dann sein?

Unsinn! Franziska schalt sich eine Närrin. Letztlich war es doch egal, woran es lag. Wichtig war nur, dass sie sehr, sehr glücklich war.

„Ich komm ein bisschen mit nach Italien“, trällerte sie wieder schief, als das Telefon klingelte, und sie schon dachte, Walter würde sich endlich mit einem Anruf bei ihr melden.

„Franzi?“

„Ach, Obermüller, du bist‘s!“

Und dann schwieg sie, und während sie in den Hörer lauschte, verging ihr nicht nur das Singen von alten Schlagern. Denn ihre spontane Reise nach Bella Italia fiel gerade sprichwörtlich ins Wasser.


Gerade hatte sich Josef Schneidlinger ein Bier aus dem Kühlschrank geholt und sah jetzt zu, wie der Gerstensaft goldgelb in sein Glas floss und kleine Bläschen aufstiegen, und wie sich, quasi als Gipfel der Verlockung, eine herrliche Schaumblume bildete. Bei diesem Anblick lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Genüsslich nahm er den ersten und gleich darauf den zweiten Schluck, lehnte sich an die Küchentheke, schloss die Augen und seufzte leise. Vor ein paar Minuten hatte ihm Paulina eine SMS geschickt. Sie wollte wissen, ob er heute schon etwas vorhatte, und er hatte geantwortet: Ja … leider!

Und tatsächlich hatte er dieses „leider“ auch so gemeint. An Wochenenden wie diesem spürte er nur zu deutlich, wie schwierig das Familienleben im Hause Schneidlinger inzwischen geworden war.

Seit der Kriminalhauptkommissar von München nach Passau gewechselt und die Karriereleiter eine entscheidende Stufe hinaufgeklettert war, wohnte er wieder zu Hause, auf dem Bauernhof seiner Eltern im Rottal, während seine Gemahlin mit den vier Kindern in München geblieben war. Gabi war eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die spielend Beruf und Kindererziehung unter einen Hut brachte und sich niemals von ihren Geschäften getrennt hätte, um als Hausfrau auf einem Bauernhof zu leben − und wenn er noch so herrschaftlich gewesen wäre.

Als sie am Freitag angerufen und ihm gesagt hatte, sie und die Kinder würden in zwei Stunden bei ihm sein, hatte sich Schneidlinger gefreut. Aber anscheinend hatte Gabi die Tristesse, die Land und Haus bei diesem Wetter versprühten, unterschätzt, und nun hing sie seit gestern Vormittag mit schlechter Laune auf dem Hof herum, streitsüchtig und ständig alles infrage stellend. Vermutlich wäre sie schon vor Stunden gefahren, hätte seine Mutter sie nicht alle zum Monopoly überredet. Die Kinder waren begeistert und wollten unbedingt die Runde zu Ende spielen, während die Eltern gute Miene zum nervigen Spiel machen mussten.

Zurück in der Stube versuchte sich Schneidlinger auf seine ihm entgleitenden Gesichtszüge zu konzentrieren, was ihm immer seltener gelang, wenn sich seine Gedanken, wie jetzt, an Paulina aufgehängt hatten. Sie war nicht wie andere Frauen, sie war etwas Besonderes. Je mehr die Anspannung daheim zunahm, desto mehr sehnte er sich nach ihr, auch wenn er sich und ihr das nie eingestanden hätte. Wobei so ein Geständnis ohnehin keinen Platz in ihrer Freundschaft hatte, die hauptsächlich daraus bestand, dass sie sich hin und wieder auf ein Glas Wein trafen und sich gegenseitig ihr Herz ausschütteten.

Schneidlinger war für sie ein Mann, der wusste, was er wollte, und dem sie einiges zu verdanken hatte. Mehr nicht. Paulina dagegen war eine Frau, die verdammt gut aussah und sich niemals so aufführen würde wie Gabi. Zumindest hatte Schneidlinger sie noch nie so erlebt. Aber sie waren ja auch nicht verheiratet.

Während die Würfel über den Tisch rollten, brach sein Sohn Tobias in Jubelgeschrei aus.

„Was ist?“, fragte Schneidlinger in die grinsende Runde, weil anscheinend jeder außer ihm Bescheid wusste.

„Du hast vergessen mich abzukassieren“, erklärte sein Jüngster altklug, doch bevor Schneidlinger richtig Zeit hatte, sich über dieses Versäumnis zu ärgern, klingelte in seiner Tasche das Handy.

In Gedanken ganz bei Paulina, zog er es heraus und ging in den Flur, um in Ruhe sprechen zu können.

„Ja? Ja, Obermüller, ich verstehe.“

Nachdem er aufgelegt hatte, wählte er aus seinem Speicher eine Nummer und lauschte auf das Freizeichen.

„Hollermann, sind Sie das? Tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber wir haben einen sehr eiligen Fall“, erklärte er, ganz Kriminalhauptkommissar, ohne sich lange mit einer Begrüßung aufzuhalten. „Halten Sie sich bitte bereit. Frau Steinbacher wird Sie gleich abholen. Und, ach ja: Ziehen Sie sich Gummistiefel an.“


Nur zwanzig Minuten später stieg Oberkommissarin Franziska Steinbacher an der Bräugasse auf den provisorischen Holzsteg, um zunächst vorsichtig einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis sie sich an den ungewohnten Unterbau gewöhnt hatte. Denn da, wo das Kopfsteinpflaster auf dem Platzl den Füßen sonst Halt gab, hatte sich das Wasser von Donau und Inn zu einem einzigen braunen See vereint. Einen Meter hoch stand es zwischen dem Waisenhaus und der Nepomukstatue und ließ das Stadtbild mehr denn je an das im Wasser versinkende Venedig erinnern. Nur diese Stege und der unermüdliche Einsatz der Feuerwehr ermöglichten es den Bewohnern der Ortsspitze, auch in diesem Ausnahmezustand in ihre Häuser zu gelangen und ein halbwegs normales Leben zu führen.

Franziska blickte sich nach ihrem Kollegen Hannes Hollermann um, der direkt hinter ihr lief. „Ich glaube, da vorne ist es“, rief sie und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ein Haus, das direkt am Donaukai lag.

Der Steg, auf dem sie balancierten, führte bis zu einem höher gelegenen seitlichen Fenster, lag an dieser Stelle aber schon einige Zentimeter unter Wasser, und als sie näher kamen, gaben ihnen die wartenden Feuerwehrmänner ein Zeichen vorsichtig zu sein. Doch das Team der Passauer Mordkommission hatte sich inzwischen an den feuchten Untergrund gewöhnt und schritt zügig voran.

„Franziska Steinbacher“, stellte sich die Kommissarin kurz vor und reichte den beiden Männern nacheinander die Hand. „Wo müssen wir hin?“

Die Feuerwehrmänner waren gut ausgerüstet, trugen wasserfeste Jacken und Hosen, die in schwere Stiefel mündeten, und waren so zumindest teilweise vor der durchdringenden Nässe geschützt. Auf dem Kopf trugen sie Helme mit Stirnlampen, deren Schein Franziska blendete.

„Er liegt im Laden hinter dem Tresen“, erklärte der größere der Wehrmänner, der sich als Thomas Frömml vorgestellt hatte, und sah erst das schmale Fenster und dann die Kommissarin abschätzend an.

„Da drin?“, mischte sich Hannes ein, und als die beiden nickten, warf er seiner Kollegin einen skeptischen Blick zu.

„Gibt es keinen anderen Zugang?“, wollte die wissen, doch die beiden Feuerwehrmänner verneinten mit einem kurzen Kopfschütteln.

„Der eigentliche Eingang liegt vorn zur Donau hin, steht aber völlig unter Wasser“, erklärte der Kleinere, Michael Wieser, geduldig. „Aber wenn Sie lieber nicht … ich meine, das Fenster ist ja wirklich nicht sehr groß.“

„Ach was“, wischte Frömml die Bedenken der Umstehenden beiseite. „Wir haben von innen schon eine Leiter hingestellt, das ist gar kein Problem.“

Die Kommissarin nickte, klaubte ein paar Habseligkeiten aus ihrer Tasche und hängte sie dann an den außen angebrachten Fensterladen. Auf keinen Fall wollte sie hier vor der versammelten Männlichkeit als Angsthase gelten.

„Halt!“ Frömml hielt sie am Ärmel fest. „Ich mach den Anfang, dann können Sie mit Ihrem Kollegen folgen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, schob er Franziska zur Seite und kletterte auf das Fensterbrett. Nachdem er kurz im Inneren des Hauses verschwunden war, erschien er wieder im Fenster und reichte der Kommissarin die Hand. Unwillig griff Franziska zu. Sie war sich sicher, es auch ohne ihn zu schaffen. Genau wie Hannes, der ihr gleichmütig folgte – und ohne, dass ihm jemand eine helfende Hand anbot.

Drinnen herrschte eine diffuse Dunkelheit, und nur die Stirnlampe am Helm des Feuerwehrmannes spendete ein wenig Licht. Als auch sein Kollege durch das Fenster in den Raum gestiegen war, schalteten sie die mitgeführten Strahler an, und Frömml wies die beiden Kommissare darauf hin, auf das eindringende Wasser zu achten.

Franziska blieb stehen, zog eine kleine Taschenlampe aus der Hosentasche und begann, sich in deren Lichtstrahl zu orientieren. Sie waren in einen höher gelegenen Nebenraum eingestiegen, der in früheren Zeiten als Lager gedient haben musste, was sie daraus schloss, dass überall geräumige, teilweise rostige Metallregale herumstanden. Um in den eigentlichen Laden mit dem großen Verkaufstresen und dem breiten Schaufenster zu gelangen, mussten sie ein paar wenige Stufen in den Hauptraum hinuntergehen.

Am Ende der Treppe stand bereits das Wasser. Sie würden sich also beeilen müssen, dachte Franziska und registrierte im Vorbeigehen etliche Reihen mit Sandsäcken, die von außen Schaufenster und Ladentür sicherten. Dann fielen ihr zwei Metallpfeiler auf, die mit einer dicken quer geschobenen Bohle die Decke abstützten.

Kaum war die Kommissarin jedoch bei den Männern hinter dem großen Verkaufstresen angekommen, vergaß sie alles, was sie gerade gesehen hatte. Vor ihr auf dem gefliesten Boden lag ein Mann. Zumindest war aufgrund dessen, was man überhaupt erkennen konnte, davon auszugehen, dass der Tote männlich war. Kopf und Oberkörper steckten in einem blauen Müllsack, der in Hüfthöhe mit Paketklebeband umwickelt war. Beide Hände lagen eng an den Hosenbeinen an. Der leblose Körper war mit Jeans und schwarzen Männerhalbschuhen bekleidet, die Beine an mehreren Stellen mit Paketklebeband umwickelt.

Franziska leuchtete die Gestalt mit ihrer Lampe ab, bis ihr die linke Hand der Leiche ins Auge stach. Daumen und Zeigefinger der kräftigen und mit dunklen Haaren bewachsenen Männerhand wiesen an mehreren Stellen zackige, teils bogenförmige Wunden auf. Interessiert bückte sich die Kommissarin hinunter, musste sich aber bald schon eingestehen, dass sie eine solche Verletzung noch nie gesehen hatte.

„Sieht aus, als ob er gefoltert wurde“, überlegte sie laut und sah Hannes an.

Doch der zuckte nur mit den Schultern, bevor er vorschlug: „Wir sollten die Kriminaltechnik verständigen.“

„Ja“, willigte Franziska ein, doch schon im nächsten Moment drang ein Geräusch an ihr Ohr, dass ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Die Glasscheiben von Schaufenster und Ladentür begannen laut zu knirschen, was sich wie ein schauriges Singen anhörte. So als würde jemand mit einem Diamantring wild über eine Glasscheibe ritzen. Nervös wanderte der Blick der Kommissarin von den beiden Feuerwehrmännern zur maroden Ladentür und zum Schaufenster und streifte dabei auch die provisorische Abstützung der Decke, bei deren Anblick ihr noch mulmiger wurde.

„Wie sollten schauen, dass wir schleunigst hier rauskommen“, meinte Frömml nach einem Blick zur Fensterfront, und so, wie er es sagte, klang es kein bisschen wie ein freundlicher Ratschlag. „Das Wasser steigt in einem gewaltigen Tempo.“

Wir zur Bestätigung seiner Aussage knirschten erneut die Scheiben.

„Gut, dann lass uns loslegen“, beschloss Franziska mit fester Stimme, zog die Kamera aus der Jackentasche und fotografierte die verpackte Gestalt und einzelne Ausschnitte in der Detailansicht, vor allem die Spuren an der Hand. Anschließend wandte sie sich an Hannes, der bisher untätig herumgestanden und seiner Kollegin bei der Arbeit zugesehen hatte. „Hast du ein Taschenmesser dabei?“

Hannes zuckte mit den Schultern, kramte aber in seiner Hosentasche und zog schon bald darauf einen länglichen Gegenstand hervor, den er Franziska entgegenhielt.

„Halt mal.“ Sie gab ihm die Taschenlampe, nahm das Messer und wies ihn an: „Leuchte mal hier auf den Kopf!“

Hannes tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf hatte Franziska den Müllsack an der Seite aufgeschnitten und das Gesicht des Toten freigelegt. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, Mitte vierzig, gut genährt, ohne sichtbare Gesichtsverletzungen. Seine trüben Augen blickten ins Leere. Wie bei den meisten toten Menschen sagte sein Gesichtsausdruck nichts darüber aus, was er hatte erleiden müssen, bevor ihm ein tiefer Schnitt auf der linken Halsseite zugefügt worden war.

Franziska hob die Kamera, um die Position des Kopfes und des Schnittes festzuhalten, doch noch bevor sie den Auslöser betätigen konnte, vernahm sie erneut das laute Knirschen des Glases. Sorgenvoll blickte die Kommissarin dorthin, wo die Donau vor dem Haus bereits weit oberhalb der Sandsäcke zu sehen war und auf einmal hatte sie das beunruhigende Gefühl, als stünde sie in einem übergroßen leeren Aquarium, dessen Scheiben jederzeit einbrechen konnten, um das Wasser der Donau und alles, was darin schwamm, zu ihr hereinzulassen.

„Wir müssen jetzt wirklich raus“, mahnte der größere Feuerwehrmann und durchbrach die ehrfurchtsvolle Stille im Raum. „Das hier ist alles schon ein bisschen älter, und keiner weiß, wie lange das Glas dem immensen Druck standhalten kann.“

„Gut, dann nehmen wir ihn mit“, entschied Franziska, aber das Glas der Ladentür sang inzwischen so laut, dass es ihre Stimme beinahe übertönte.

„Sie haben Ihre Anweisungen, und ich meine. Bei uns geht der Eigenschutz vor, und weil wir für ihn ohnehin nichts mehr tun können“, er zeigte zu dem Mann, dessen Körper halb im Müllsack steckte, „sage ich: Wir gehen. Jetzt!“

Frömml nickte seinem Kollegen zu, woraufhin beide um den Tresen herum in Richtung Lagerraum und Fensterausstieg stapften. Hannes wandte sich ebenfalls um, nur Franziska blieb zurück und fotografierte fluchend alles, was ihr wichtig schien.

„Wo bleiben Sie denn?“, rief Frömml vom höher gelegenen Nebenraum.

Hannes drehte sich wieder zur Kollegin um. „Komm jetzt!“, rief er und versuchte energisch, nach Franziskas Arm zu greifen. Doch so schnell wollte die nicht aufgeben.

„Lass mich wenigstens noch ein paar Fotos machen.“ Sie entzog sich seiner Hand und knipste, sobald der Blitz wieder bereit war, in den Raum hinein. Immer wieder erhellte das grelle Licht der kleinen Kamera für einen Moment den schaurigen Tatort, bevor er erneut in einer diffusen Dämmerung verschwamm. Akustisch wurde die Szene von dem technischen Sirren der Kamera, wenn sich der Blitz wieder auflud, und dem unheimlichen Knirschen des Glases beherrscht. Unermüdlich wechselte die Kommissarin die Perspektive, um auch alle anderen Teile des Raumes festzuhalten.

Während sie sich Schritt für Schritt voran arbeitete, orientierte sie sich an dem massiven Tresen, als könnte er ihr, wie ein Fels in der Brandung, Halt geben. Ohne auf die warnenden Stimmen der Feuerwehrmänner und die aufgeregten und besorgten Rufe von Hannes zu hören, machte sie weiter, bis es in einem ohrenbetäubenden Knall die Schaufensterscheiben und die Glaseinsätze der Ladentür zerriss.

Braune Wassermassen schossen herein und füllten den Raum in Sekunden aus. Alles, was sich ihnen entgegenstellte, wurde einfach umgeschmissen und dann mitgerissen, bis sich die nächste stabile Wand den Wassermassen entgegenstellte. So erging es auch Franziska. Unfähig, sich nach dem lauten Knall noch in Sicherheit zu bringen, wurde sie vom eiskalten Wasser erfasst, herumgewirbelt und schließlich gegen den Tresen geschleudert, der ihr jedoch keinen Halt bot. Ohne wirkliche Orientierung versuchte sie die Wasseroberfläche zu erreichen, und als es ihr tatsächlich gelang, wurde ihr klar, dass sie sich knapp unterhalb der Decke befand.

Ist das Wasser schon so hoch gestiegen?, dachte sie, und dann schnappte sie hastig nach Luft, denn schon wurde sie erneut hinunter in die kalte braune Donau gezogen. Ihre Kleidung hinderte sie an sinnvollen Schwimmbewegungen, und die Muskeln waren von der Kälte des Wassers innerhalb von Sekunden träge und beinahe nutzlos geworden.

Nachdem die Donau den Raum erst einmal eingenommen hatte, stieg das Wasser zunächst höher und höher, bis es sich dem Niveau draußen vor der Tür angepasst hatte und schließlich zur Ruhe kam. Für Franziska dauerte dieser Vorgang eine Ewigkeit. Bei ihrem zweiten Versuch, Luft zu schnappen, hatte sie einige Schluck Donauwasser erwischt und trieb jetzt würgend und hustend und erneut Wasser schluckend in der Brühe, die sie gefangen hielt, ohne sie wirklich festzuhalten. Immer wieder wurde sie von herumschwimmenden Gegenständen gestreift, und bei ihrem Versuch, sich an irgendetwas zu klammern, daran erinnert, wie glitschig Wasser war.

Längst hatte sie die Orientierung verloren und begann gerade, mit ihrem Leben abzuschließen, als sie in der Ferne ein ganz schwaches Licht ausmachte. Kurz dachte sie an Walter und Hannes und sogar an Obermüller und daran, ob sie sie vermissen würden. Seltsame Bilder kamen in ihr hoch. Sie glaubte sich in einem Tunnel, der sie immer tiefer in sich hinein sog, bis am Ende … War das das Ende? Sah sie gleich ihren Lebensfilm rückwärts ablaufen, und wenn sie wieder Kind war, dann war alles vorbei?

Mit letzter Kraft begann Franziska mit den Armen zu rudern und mit den Beinen wild ins Wasser zu treten, bis sie tatsächlich etwas berührte, von dem sie sich abstoßen konnte. Und dann wurde das Licht heller, und sie hörte eine Stimme, Hannes‘ Stimme, die nach ihr rief: „Franziska!“

Sie spürte eine Hand, die nach ihr griff, sie aber nicht fassen konnte. Mein Gott, Hannes war da, Hannes wollte sie retten. Mit aufgerissenen Augen versuchte sie die Stelle zu erreichen, von der das Licht und weitere Stimmen kamen, und als sie es endlich schaffte, erneut eine Hand spürte, die nach ihr griff und an ihr zog, als sie sich schon gerettet wähnte, bekam sie einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf und versank erneut in gnädiger Dunkelheit.


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