Kitabı oku: «Sternenhagel», sayfa 3
Das weiße Inferno
Freitag, 13. Dezember, 14:15 Uhr,Cappellen, Weiler Hübeli
Als Rhea heimkehrte, sprang Django ihr vor die Füße und maunzte.
»Hat Anna dich noch nicht gefüttert?«
Django wiederholte sein Maunzen dringlicher und lief zur Garderobe.
»Was willst du …?«
Der Haken ganz links, an dem Annas Parka gehangen hatte, war leer. Rheas Herz machte einen Sprung.
»Anna, Schatz, bist du da?«, rief sie.
Wenige Minuten später war klar, dass Anna sich nicht im Haus aufhielt und auch nicht an ihr Handy ging.
Rhea wählte eine Nummer.
»Hallo Marian, hör mal, ist Anna bei euch?«
Sie lauschte.
»Nein? Kannst du mir mal Melanie geben?«
Rascheln, der Ruf nach Melanie, Beine, die eine Treppe hinuntereilten. Dann Melanies Stimme.
»Ja?«
»Anna ist nicht zu Hause. Hast du eine Idee, wo sie stecken könnte?«
»Nö. Wo soll sie …?«
»Was? Was ist?«
»Hagen hat heut behauptet, die Sternschnuppe wäre eine Militärübung gewesen. Er wollte es Anna im Forst beweisen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mitgegangen ist.«
Rhea sah aus dem Fenster. Der Schnee fiel inzwischen so dicht, dass sie nicht einmal mehr die Einfahrt sehen konnte.
»Danke, Meli«, sagte sie und legte auf.
Automatisch streifte sie die Handschuhe wieder über, zog den Schal enger und ging nach draußen.
Hagens jüngerer Bruder Moritz öffnete die Türe, an der sofort der Wind riss.
»Ist Anna bei euch?« Der Kleine musterte sie von unten nach oben.
»Nein, die ist mit Hagen weggegangen«, erklärte er schließlich, »ich hab sie durchs Fenster übers Moos laufen gesehen!«
Frau Gutthorm kam an die Türe.
»Kommen Sie doch rein bei diesem Sturm, man versteht ja kaum ein Wort …«
Mit zitternden Fingern schloss Rhea die Haustüre hinter sich.
»Hagen und Anna sind in den Forst gelaufen.«
Frau Gutthorm zog die Augenbrauen zusammen.
»Warum sollten sie das tun?«
»Ich weiß es nicht, aber bitte schauen Sie nach, ob Hagen da ist«, drängte Rhea.
Mit bleichem Gesicht kam Frau Gutthorm in den Flur zurück. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich muss meinen Mann anrufen«, würgte Rhea hervor.
Der Wind zerrte sie nach links und nach rechts, als sie nach Hause stapfte, sie musste wie eine Betrunkene wirken. Aus den düsteren, über den Himmel jagenden, Wolken fuhren Blitze nieder.
»Ich komme sofort!«, versicherte ihr Heinrich. »Es wird alles gut, sicher ist ihnen nichts passiert. Anna ist ein gescheites Mädchen. Sie hat bestimmt Schutz gesucht. Hast du schon die Polizei angerufen?«
Selbst mit dem Allradauto seiner Firma konnte er kaum mehr als 30 km/h fahren. Zweimal kam er von der Straße ab. Seine Fäuste umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß wurden. »Bitte Herrgott, lass ihr nichts zugestoßen sein …«
In einer Kurve überholte er das Postauto, das stecken geblieben war. Am Ortseingang von Cappellen geriet er in einen Stau. Der Schnee stand nahezu so hoch wie die Räder seines Autos. Gut zwanzig Minuten lang ging es weder vorwärts noch rückwärts. Jedermann schien nochmals ins Dorf gefahren zu sein, um sich mit Lebensmitteln einzudecken. Durch die erleuchteten Schaufenster sah Heinrich leere Regale beim Bäcker und weiter vorne auch im Supermarkt, als er in der stockenden Kolonne langsam an den Läden vorbeifuhr.
Freitag, 13. Dezember, 14:20 Uhr,östlich von Cappellen, Großes Moos, Moosweg
Der Wind schüttelte das Strohdach des einzigen Gebäudes im Großen Moos, riss einzelne Halme und gar kleinere Bündel heraus und schoss sie wie Lanzen durch die dahinrasenden Wolken. Schrilles Wiehern drang durch die Bretterwand der Scheune. Hufe schlugen wild gegen Box und Stallwände. Das mussten Wild Cloud und sein Vater Wolkentanz sein. Besitzerin Jen Wagenmacher hatte ihr, als sie das letzte Mal mit Wolkentanz ausreiten durfte, erzählt, dass die Rösser hier provisorisch untergestellt würden. Anna verlangsamte kurz den Schritt. Aber was sollte sie tun? Die Pferde waren in der Scheune immer noch am sichersten.
Seit sie vor knapp einer Stunde aufgebrochen waren, durften beinahe zehn Zentimeter Neuschnee gefallen sein, der ihr bis über die Waden ging. Die weichen Schneeflocken hatten sich in kleine Kristallgeschosse verwandelt, die ihr Gesicht malträtierten. Trotz Handschuhen hatte sie klamme Finger. Ein Splittern ließ sie zurückblicken. Ein Pferd schlug wieder und wieder aus und zertrümmerte mit seinen Hinterläufen die Wand, bis ein übermannsgroßes Loch entstanden war. An den herabhängenden Brettern riss der Sturm wie an einem Windspiel. Wild Cloud schoss ins Freie, galoppierte durch die Ebene dem Wald entgegen und verschwand im Schneetreiben. Wolkentanz, der Schimmel, folgte. Anna wusste um den Instinkt der Tiere und ihr Verhalten schürte ihre Angst vor dem Wetter.
Sie schaute zu Hagen, der sich zwei Schritte vor ihr gegen den Wind stemmte und wie sie nur langsam vorankam. Seit sie losgelaufen waren, hatten sie kaum ein Wort gewechselt.
»Haaaagen! Haaaagen!! Haaaagen!!!«, schrie sie mehrmals durch den tosenden Wind, bevor dieser sie endlich zu hören schien, stehen blieb und sich zu ihr drehte.
»Hagen« Anna deutete auf ihr linkes Handgelenk und schrie: »Es ist schon halb drei, … die Zeit wird nicht reichen, bevor es finster wird. Wir sind kaum vorwärtsgekommen und der Sturm wird immer stärker …«
Hagens gerötetes Gesicht verzog sich zu einer Fratze und er schrie zurück:
»Hab ich mir …« Der Satz blieb ihm im Hals stecken. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er stammelte etwas Unverständliches. Anna packte ihn am Anorak:
»Verdammt, was ist?«, Ihre Stimme klang laut durch die plötzlich eingetretene Windstille. Hagen hob den Arm, deutete über ihre Schulter hinweg. Sie drehte den Kopf, kniff die Augen zusammen.
»Mein Gott …«
Eine mächtige schwarze Wand hatte sich vom Boden bis hoch in den Himmel über Cappellen aufgetürmt, verdeckte die Sonne und kam rasend schnell auf Anna und Hagen zu. Blitze zuckten in ihrem Inneren. Ein Dröhnen wie von einer Dampflok, deren Kessel explodierte, eilte ihr voraus. Die Temperatur fiel schlagartig. Schnee, fein wie Puderzucker, drang bei jedem Atemzug schmerzhaft in die Lungen ein. Eine Hand des Blizzards griff nach dem Strohdach der alten Scheune, hob es hoch und warf es wie eine leere Pappschachtel über die Köpfe von Anna und Hagen hinweg. »Laaauuuf, Hagen! Wir müssen in den Wald! Lauf!«
Anna packte den erstarrten Hagen an der Jacke und zog ihn mit sich. Schon nach wenigen Metern wurden sie von der ersten Böe eingeholt. Sie fiel ihnen in den Rücken, hob sie vom Boden auf und riss sie mehr als hundert Meter mit, um sie dann achtlos in eine Schneeverwehung fallen zu lassen. Eis- brocken, Schneeplatten und sogar Erdklumpen, groß wie Fußbälle, flogen über Anna hinweg. Sie konnte kaum noch atmen, spuckte halbgeschluckten Schnee, hustete und Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie kämpfte, keuchte, strampelte und konnte sich schließlich aus den Schneemassen befreien. Schneekristalle trafen sie, wie kleine spitze Pfeile, im Gesicht. Sehen konnte sie nichts mehr. Überall war nur wilder, dunkler und bösartiger Schnee, der das Licht zu fressen schien.
»Haaaagen … Haaaagen… Hagen!«
Der Sturm wickelte ihr den Schottenschal vom Hals und nahm ihn mit, verschluckte ihr Schreien, schnürte ihr die Kehle zu und antwortete mit einem wilden Brüllen. Hagen war verschwunden.
Anna lief gebückt los. Mit dem Sturm Richtung Wald, so hoffte sie. Ein Windstoß fuhr ihr unter den Parka und gab ihr das Gefühl, in Eiswasser getaucht zu werden. Dann schleifte sie der Blizzard erneut meterweit mit. Kaum hatte sie sich mit Mühe erhoben, hob sie die nächste Böe auf, wirbelte sie herum und warf sie nach einer kurzen Strecke in den Schnee. Nur mit außerordentlicher Anstrengung schaffte sie es, sich wieder und wieder zu erheben. Mit jedem weiteren Male wurde sie müder und müder, bis sie schließlich im Schnee liegen blieb. Sie schloss die Augen. Die tosende Hölle wurde leiser, rückte in die Ferne und etwas Tödliches in ihr flüsterte ihr zu: »Bleib liegen, gib auf. Wozu der Aufwand? Du schaffst es sowieso nicht! Komm zu mir, ich gebe dir Wärme, Ruhe und Geborgenheit …«
»Niemals«, keuchte Anna und riss die Augen auf. Sie rollte auf den Bauch, kämpfte sich auf alle Viere. Sie röchelte, spuckte Schnee und Dreck aus. Ihr Herz raste. Mit unbändigem Willen torkelte sie weiter. Der Wind trieb sie vorwärts. Der Wald musste doch in unmittelbarer Nähe sein. Ein Eissplitter bohrte sich in ihre Wange. Um ein Haar wäre sie wieder zu Boden gegangen. Das Kreischen des Sturms zerrte an ihren Nerven.
Unversehens war der Wald da. Der Ast einer Tanne traf sie mitten ins Gesicht. Anna stürzte und robbte mit letzter Kraft unter ihre tiefliegenden Äste. Am Stamm blieb sie schwer atmend auf dem Rücken liegen. Blut lief ihr aus der Nase in den Mund. Auf der zerkratzten Haut hatte sich eine Eisschicht gebildet und Eispartikel klebten ihre Wimpern zusammen. Der Sturm schlug auf die Äste ein, unter denen Anna lag. Sie rollte sich zusammen. Ihr Schluchzen ging in der tobenden Schneehölle unter.
Freitag, 13. Dezember, 14:25 Uhr,Schwarzer Forst
Der Mann im tarnfarbenen Kampfanzug lag hinter einem umgefallenen Baumstamm. Im Anschlag einen alten Karabiner mit Zielfernrohr. Der Neuschnee hatte ihn beinahe zugedeckt. Die wirbelnden Schneeflocken, die ihn zum Zwinkern brachten, ärgerten ihn.
Seine Augen funkelten, als er die Hirschkuh und ihr Kalb, die zögernd auf die Lichtung traten, entdeckte.
»Jingle Bells …«, dachte er, »für euch schlägt jetzt das letzte Stündchen.«
Die Hirschkuh bewegte ihre Ohren wie Radare hin und her. Immer wieder schaute sie zu ihrem Kitz zurück. Der Mann drückte die Wange fester an den Gewehrkolben, kniff ein Auge zusammen und nahm die Hirschmutter ins Visier. Dann hielt er die Luft an und der Zeigefinger bog sich langsam zum Blattschuss … Da rauschte es plötzlich gewaltig über ihm, der Wilderer zuckte zusammen und schoss – daneben. Rottier und Kälbchen entflohen mit einem Sprung ins Unterholz.
Die Kiefer, unter welcher der Wilderer lag, entlud mit Wucht mehr als einen Meter Schnee, der auf ihrer Krone lastete. Das Eichhörnchen, das den Schneesturz ausgelöst hatte, wäre um ein Haar mit in die Tiefe gerissen worden. Doch flink gelang es ihm, über schwingende Zweige und Äste zurück zum Stamm zu hüpfen. Der Unhold, der sich eben aufrichten wollte, wurde von der herunterfallenden Ladung zu Boden gestreckt. Er fluchte, als er sich aus dem Schnee befreite und sinnlos einige Schüsse ins Gehölz abfeuerte. Dann traf ihn die erste Sturmböe und warf ihn erneut um. Der Wilderer kam aus dem Fluchen nicht mehr heraus. Er rappelte sich hoch, stellte den Pelzkragen auf und machte sich auf den Weg zu seinem Versteck, das tiefer im Schwarzen Forst lag. Eine Hütte, auf die er vor einer Woche gestoßen war. Er hatte sie aufgebrochen und geplündert, dann aber beschlossen, sie als Winterquartier zu nutzen. So musste er nicht täglich nach Hause fahren. Dort konnte er den Schneesturm aussitzen und von seinem selbstgebrannten Kirsch bechern. Dieser Gedanke verbesserte seine Laune deutlich.
Das Eichhörnchen hingegen kletterte an der Kiefer abwärts. Seine Fellbüschel an den Ohren kippten wie kleine Pinsel im Wind hin und her.
Der Sturm erfasste das Tierchen und schleuderte es in die Äste der daneben stehenden Tanne. Rasch und wendig kroch es durch das Nadelgehölz, sprang zum Stamm und runter zu den Wurzeln des Baumes. Dort drückte es sich in eine Nische. Hurtig fuhr es mit seinen fünffingrigen Pfötchen über seinen dunkelbraunen Körper und die weiße Brust. Es war unverletzt. Dann hielt es inne und seine schwarzen, stecknadelgroßen Augen fixierten etwas, das unter den Ästen hervorkroch. Ein Menschenkind.
Freitag, 13. Dezember, 14:25 Uhr,Cappellen, Kirche
Tobias Kupfernagel stand auf der Empore im Kirchenschiff und schaute zum Fenster hinaus wie ein Zwangsvollstreckungsbeamter des Jüngsten Gerichts. Als der Sturm auf die Kirche zuraste, setzte er sich an die Orgel. Langsam und leise schlich Deep Purples »Child in Time« über die Kirchenbänke. Der Sturm erhob seine Stimme. Kupfernagel spielte kraftvoller. Je stärker der Blizzard aufkam, desto heftiger griff der Sigrist in die Tasten. Sturmböen posaunten wie die Hörner von Jericho ihr Lied der Zerstörung durch die alten Fenster und Kirchenmauern. Kupfernagels Kopf fuhr wild auf und ab, das halblange, aschblonde Haar, das am Hinterkopf noch übrig war, flog durch die Luft. Sehnen traten am Hals hervor, Arme hetzten hoch von einem Manual zum anderen und Hände schlugen und malträtierten Tastaturen. Die Windladen der Orgel klapperten wie hölzerne Fensterläden im Sturm und Luft schoss durch zitternde Pfeifen. Es dröhnte, schrillte, schallte und hallte durch das heilige Gemäuer. Kupfernagels Körper wand sich und mit strampelnden Füßen traktierte er Pedale. Schweiß lief über sein Gesicht, Schaumfetzen sammelten sich in den Mundwinkeln. Mit glasigen Augen fing er an zu singen, leise lauter werdend, hob den Kopf, sein schmächtiger Brustkorb blähte sich auf, Kupfernagel sang zornig.
Da blitzte und donnerte es gewaltig und der Höllensturm warf eine gefrorene Schneeplatte durch den berstenden Christus aus Glas ins Kircheninnere.
Freitag, 13. Dezember, 14:30 Uhr,Cappellen, Polizeiposten
Stefanie Bionda nahm Rheas Anruf entgegen. In der Leitung knackte und rauschte es, sodass die Polizistin sie erst bei der dritten Wiederholung verstand. Zwei Jugendliche, die in diesem Sturm unterwegs zum Schwarzen Forst seien? Frau Bubenberg solle sich keine Sorgen machen, sie würden sofort alle Streifenwagen aussenden. Wahrscheinlich hätten die beiden irgendwo Schutz gesucht. Ja, sie würden sich umgehend bei ihr melden, sobald es etwas Neues gäbe.
»Verdammt, erst dieser ekelhafte Sturm und nun das …«, sagte ihr Vorgesetzter, Wachtmeister Res Winterfeld, als sie ihren Bericht beendet hatte. »Wenn die beiden eine Chance haben sollen, müssen wir sie sofort finden. Geben Sie den Streifenwagen Anweisung, die Straßen rund ums Große Moos, soweit befahrbar, abzusuchen. Ich telefoniere.«
Winterfelds Telefonate brachten ihm eine Truppe Berufs-Grenadiere der Militärpolizei ein, die sich unweit von Cappellen aufhielt, sowie die Zusicherung der Polizei von Berno, weitere Polizisten und Suchhunde zu schicken, sobald die Straßen wieder befahrbar seien. Er veranlasste, dass die Bilder der Vermissten und Angaben zu ihrer Person per WhatsApp an über vierhundert denkbare Helfer versendet wurden.
Die drei Polizeistreifen der Gemeinde Cappellen fuhren, mit Blaulicht und trotz Ketten schleudernd, auf die umliegenden Bauernhöfe. Landkarten wurden in den Stuben ausgerollt und mit Filzstiften grob die Suchgebiete und Routen markiert. Obwohl mancher nicht glaubte, dass die Jugendlichen noch am Leben seien, zogen die Landwirte ihre schweren Schuhe, Faserpelze und Windjacken an und verließen ihre warmen Häuser. Der Streifenwagen mit Korporal Hostettler und Polizist Studer würde die Forststraße zum Wald hin übernehmen.
Freitag, 13. Dezember, 14:55 Uhr,Schwarzer Forst, Waldrand
Der Sturm hatte seine Taktik geändert und rüttelte und schüttelte die Tanne durch. Ihre Zapfen flogen durch die Luft, als würde ein großer Schwarm Stare aufgeschreckt davonfliegen. Ein reißendes Knarren setzte ein. Gehetzt hielt Anna nach einem Fluchtweg Ausschau.
Ein Keckern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Ast, wenige Zentimeter über ihrem Kopf. Ein Eichhörnchen klammerte sich daran fest. Anna hielt ihm ihre Hand hin. »Komm her, Kleines, keine Angst. Ich tu dir nichts.«
Die Nase des Eichhörnchens zuckte, dann sprang es auf ihre Hand, lief ihren Arm hinunter und schlüpfte in eine Tasche ihres Parkas. Anna hatte keine Zeit, sich über die Zutraulichkeit des Tieres zu wundern, denn das Knarren wurde lauter. Sie lief los. Nur weg von dem Baum! Bei jedem Schritt sank sie bis auf Hüfthöhe ein. Hinter ihr erklang ein rauschendes, dann tosendes Geräusch. Im letzten Moment folgte sie einer Eingebung und änderte ihre Fluchtrichtung. Eine Hälfte der gespaltenen Tanne schlug dumpf nur zwei Meter neben ihr auf. Anna hielt sich die Hände vors Gesicht, als Schnee, Erde, Äste und Nadeln durch die Luft schossen. Mit zittrigen Beinen kämpfte sie sich stur vorwärts. Ihre Hände waren starr vor Kälte und sie konnte sie kaum noch bewegen. Sie brauchte einen Unterschlupf. Bald würde es dunkel sein.
Das Eichhörnchen streckte den Kopf aus der Tasche. Es keckerte und ruckte an ihrer Jacke. Verwundert sah Anna nach unten. Fast schien es, als wolle es sie in eine bestimmte Richtung lenken. Sie zwang ihre tauben Beine auf einen neuen Kurs. Nach einem kurzen Stück erreichte sie ein dichtes Unterholz mit kleinen Tännchen. Sie kroch unter sie und ließ sich erschöpft fallen.
Die eisige Luft brannte beim Eintritt in ihrer Lunge. Sie hustete und rollte sich zitternd in Embryonalstellung zusammen, achtete dabei darauf, das Eichhörnchen nicht zu zerquetschen. Endlich beruhigte sich ihr schneller Atem. Die Windgeräusche traten in den Hintergrund. Mit geschlossenen Augen glitt sie in einen Halbschlaf und es schien ihr, als würde es deutlich wärmer. Viel wärmer. Am Rücken war ihr zwar noch kalt, die Beine fühlte sie nicht mehr, aber an Bauch, Brust und Armen wurde es warm. Und es schien ihr auch, als ob ihr Körper schwerer geworden sei.
Das Eichhörnchen lugte aus Annas Parka hervor und schaute sich um. Dann kletterte es behänd aus der Tasche und am nächsten größeren Stamm hinauf zum Wipfel, blickte über den Forst und pfiff. Wieder und wieder. Hielt in jede Richtung Ausschau. Nichts. Plötzlich richtete es sich auf und seine dunklen Augen fixierten etwas im Forst. Fünf Bäume weiter fiel Schnee von den Ästen einer Rottanne, dann beim vierten Baum, beim dritten, beim zweiten … ein Pfeifen und Fiepen setzte ein. Die Eichhörnchen waren da. Zuerst zehn, dann zwanzig und am Schluss dreißig. Es gluckste, schnatterte und keckerte
»Tschuk-Tschuk-Tschuk … Tjuck-tjuck-tjuck …«
Die Tiere sprangen um ihr vermisstes Mitglied herum, beschnupperten es, schnatterten zur Begrüßung und vor Erleichterung, dieses wohlauf zu sehen. Das Gegluckse nahm ab, die Eichhörnchen hockten sich um ihren Artgenossen und schienen diesem aufmerksam zuzuhören.
Freitag, 13. Dezember, 15:15 Uhr,Schwarzer Forst, im Gebiet Wohleyberg und Unghür Hubel
Hagen hatte mehr Glück als Anna. Die Böe hatte ihn in eine brusthohe Schneeverwehung fallen lassen. Schnell hatte er sich befreit, war aufgestanden und rief nun nach Anna. Seine Stimme ging im Blizzard unter. Der Wind dröhnte in seinen Ohren wie ein startender Jumbo Jet. Ihm wurde übel. Da erfasste ihn erneut ein heftiger Windstoß.
Der Ast eines Holzapfelbaums raste auf ihn zu. Er griff danach. Trotz einiger Dornen, die durch seine Handschuhe drangen, klammerte er sich fest, bis die Böe nachließ.
Vor ihm waren weitere baumartige Schemen, die ab und zu von dem Vorhang aus Weiß enthüllt wurden. Mit weit ausgestreckten Armen tastete er sich langsam zwischen ihnen hindurch. Plötzlich trat sein Fuß ins Leere und er fiel nach vorne. Im letzten Moment erwischte er einen armdicken Ast.
Das muss der Riederlen sein, schoss es Hagen durch den Kopf, als er mit klopfendem Herzen über der Böschung baumelte. Wenn ich dem folge, sollte ich zur Forststraße gelangen. Oder zumindest bis ins Pfaffenloch, zur Höhle. Nach wenigen Schritten stieß er auf verwehte Fußspuren entlang des Bachbettes und atmete auf. Er betete, sie mögen zur Straße führen.
Mit klammen Händen fummelte Hagen sein Handy aus der Tasche. Ein Blick auf das Display zeigte: Kein Empfang. Lange würde er nicht durchhalten und wenn er nicht auf die Straße stieß … Er lief ein Stück weiter und versuchte es nochmals. Ein kleiner Balken erschien. Tränen der Hoffnung schossen ihm in die Augen. Er hielt das Handy ans Ohr und hörte den Rufton.
Erst als Fleischhauer das Hünengrab vor sich auftauchen sah, wurde ihm klar, dass er nicht dem Gäbelisbach, sondern dem Riederlen gefolgt war. Fluchend kehrte er um. Dann blieb er plötzlich stehen. Er fühlte, dass jemand in der Nähe sein musste. Er nahm seinen Karabiner von der Schulter, sah sich schnell um und verschwand schattengleich hinter einem Baum.
Ein Handy ans Ohr gepresst, stapfte ein Junge an ihm vorbei. Fleischhauer holte mit dem Gewehrlauf aus und schlug ihm von hinten das Telefon aus der Hand. Der Junge schrie auf und griff sich an sein linkes Handgelenk. »Los, Hände auf den Rücken, du Idiot!«, brüllte Fleischhauer, den Karabiner auf den Jungen gerichtet. »Wird’s bald?«
»Spinnen Sie, was soll das?«, schrie der Junge zurück. Fleischhauer machte rasch einen Schritt auf Hagen zu und streckte ihn mit einer Ohrfeige zu Boden. Dann stellte er den Karabiner ab, drückte dem Jungen ein Knie in den Rücken und riss ihm die Arme auf den Rücken. Aus einer Tasche nahm er Kabelbinder und schnürte ihm die Hände zusammen.
Hagen hustete, als ihn der Angreifer hochriss, ihm einen Stoß in den Rücken versetzte und anherrschte, er solle laufen.
Zwei goldbraune Augen beobachteten aus dem Unterholz Hagens Entführung. Als die beiden im Schneetreiben verschwunden waren, kämpfte sich eine kräftige semmelfarbige Hündin mit dunkelbraunem Rückenstreifen zu der Spur. Sancha witterte, versenkte die Nase im Schnee und grub. Mit Hagens Handy im Maul tauchte sie wieder auf. Kurz zögerte sie, dann folgte sie der Fährte.
Freitag, 13. Dezember, 15:25 Uhr,Schwarzer Forst
Anna wurde mit einem Schlag wach. Sie wunderte sich, dass sie nicht erfroren war. Ihre Hände waren ihr fremd, als sie zitternd die Arme hob, um ihre vereisten Augen zu befreien. Sie fühlte nichts. Als sie sich zwang, den Kopf zu heben, krachte es in ihrem Nacken und der Schmerz durchzuckte sie bis in die Zehenspitzen. Blinzelnd und stoßweise atmend, versuchte sie zu erkennen, wo sie war. Das verschwommene Bild wurde langsam klarer. Anna riss die Augen auf. Halluzinierte sie? Auf ihrem Körper und ihren Beinen lagen längs, kreuz und quer, teils ganz, teils halb eingerollte Eichhörnchen. Die Tiere sprangen bei ihrer Bewegung auf. Es wimmelte nur so von buschigen Schwänzen und weg waren sie. Hinauf ins Unterholz und ab auf die Bäume. Nur das Dunkelbraune mit dem weißen Bauch blieb aufgerichtet auf ihr stehen und starrte sie an. Anna ließ den Kopf zurückfallen. Das gibt es nicht, das ist ein Traum! Da fiepte das Eichhörnchen und sie hob erneut den Kopf. Das Fiepen wurde schriller. Sie presste die Hände auf die Ohren, aber das half nicht.
Als sie Anstalten machte, sich mühselig zu erheben, sprang das Eichkätzchen von ihr herunter. Sie kroch aus dem Unterholz und stand schwankend auf. Das Eichhörnchen kletterte den nächsten Stamm hinauf und verschwand in den Bäumen. Anna sah ihm nach. Seltsam, dass die Eichhörnchen sie gewärmt hatten. Ohne sie wäre sie nicht mehr am Leben. Aber das würde sich schnell ändern, wenn sie nicht bald eine Unterkunft fand. – 20 Grad hatten sie im Radio gesagt. Sie schaute auf ihre Uhr und erschrak. Noch dreißig Minuten bis die Sonne unterging.
Die grimmige Kälte war bereits dabei, durch ihren Parka zurückzuschleichen. Anna blickte sich, noch immer halb benommen, um und entdeckte eine Furche im Schnee, die mitten über die Lichtung verlief. Taumelnd steuerte sie darauf zu. Ja, das waren Spuren, ein ganzes Durcheinander davon, als wäre ein Trupp an ihr vorbeigezogen. Geradeaus, einfach geradeaus, diesen Tapfen nach. Da musste doch die Pfadfinderhütte oder die Aarstraße kommen. Hoffnung, nicht Wissen, trieb sie voran. Bereits nach wenigen Metern hielt sie inne. Auf der anderen Seite der Lichtung, durch den weißen Schleier, erkannte sie schemenhafte Gestalten. Sie beschleunigte, schon hob sie den Arm, um zu winken, öffnete den Mund zu einem Ruf. Ihr Mund blieb vor Überraschung offen stehen, als die Gestalten deutlicher hervortraten.
Vor einer alten Eiche wimmelte es von wilden Tieren: Rothirsche, Wildschweine, Rehe, Biber, Feldhasen, Steinmarder, Amseln, Finken, Elstern, ein großer Schwarm Krähen, … aber auch Raubtiere wie Wölfe, Luchse, Füchse, Dachse, Greifvögel und sogar drei Braunbären. Unmöglich sie zu zählen. Hundert? Mehr?
Annas Enttäuschung machte Mitleid Platz. Tränen liefen über ihre Wangen. Die Tiere sahen schlecht aus. Viele abgemagert und schlotternd. Vögel, die kaum mehr fliegen konnten. Junge Tiere, die kaum noch stehen konnten. Die junge Frau konnte Hunger und Angst fast körperlich spüren. Aber es schien so, als ob die Raubtiere wüssten, dass, wenn sie alle anderen Tiere fressen würden, auch sie dem Tode geweiht wären. Keines machte Anstalten, sich auf die Schwächeren zu stürzen.
Mehrere Eichhörnchen waren in das Geweih eines Stierhirsches geklettert, auf der Schulter eines Bären saß ein Habicht und in das Winterfell eines Fuchses hatte sich ein Hermelin gekrallt. Es war ein Röhren, Knurren, Fiepen, Pfeifen, Grunzen und Fauchen. Und mittendrin stand wiehernd Wolkentanz in seiner schwarzen Pferdedecke und es schien, als ob ihm ein Luchs eine Antwort zurückfauchte.
Ein schwarzer Wolf entdeckte Anna, sprang auf und mit fletschenden Zähnen auf sie zu. Panik griff nach ihrer Kehle, sie stieß einen heiseren Schrei aus, torkelte rückwärts, sah sich gehetzt nach links und rechts um. Fliehen, fliehen, doch wohin? Sie drehte sich um, lief mit eingezogenem Kopf los, und spürte förmlich, wie sich das schwere Raubtier auf sie warf und sie zu Tode biss. Da hüpfte von oben das dunkelbraune Eichhörnchen mit dem weißen Bauch auf ihre Schulter, krallte sich fest und fiepte, was das Zeug hielt. Im letzten Moment. Der Wolf hatte gerade zum Sprung angesetzt. Der Schwarze blieb stehen, bellte etwas, es fiepte zurück.
Auch Wolkentanz hatte die Gefahr erkannt, setzte über einen der Braunbären hinweg und bahnte sich wiehernd seinen Weg. Als er sah, dass der Wolf stehen geblieben war, hielt er nervös tänzelnd neben ihm.
Noch geduckt, die Arme vor dem Gesicht gekreuzt, drehte Anna sich um. Es kostete sie sämtliche Willenskraft, nicht vor dem Wolf zurückzuweichen. »Ich weiß zwar nicht, was du gemacht hast, aber danke«, flüsterte sie dem Eichhörnchen zu und streichelte kurz über seinen Kopf. Respektvoll und mit schlotternden Knien machte sie einen Bogen um den großen Wolf, der sie misstrauisch musterte, und trat auf den Schimmel zu.
»Wolkentanz, ich bin so froh, dass du wohlauf bist.«
Der Schimmel senkte den Kopf und schnüffelte an ihrem Gesicht. Anna legte Hände und Wange an den Hals des Pferdes.
Plötzlich ertönte ein Röhren. Rund um sie sprangen Tiere auf und drängten dem Hirschstier entgegen, der den in den Nacken gelegten Kopf wieder senkte und sich in Bewegung setzte. Verblüfft beobachtete Anna, wie der Strom an Tieren an ihr vorbeizog. Die Größten gingen vorweg, die Kleineren, soweit sie sich nicht auf den Rücken der Großen festklammerten, nutzten deren Fußspuren. Da stupste Wolkentanz sie mehrmals an, bis sie merkte, dass sie sich dem Zug anschließen sollte.
Ständig stießen weitere Tiere dazu. Wann immer es den Anschein machte, die Kleineren würden den Anschluss verlieren, schien es ihr, dass die Größeren an der Spitze langsamer wurden. Ich träume doch, dachte Anna, während sie Wolkentanz hinterhertaumelte. Immer wieder drehte sich der Schimmel nach ihr um.
Nach einiger Zeit lüftete sich der Vorhang aus Schnee und gab den Blick auf den Teufelsstein frei. Die zahlreich eingehauenen Symbole, Sonnenräder, Runen, römischen Ziffern, die Anna schon oft fasziniert betrachtet hatte, waren vom Schnee überdeckt. Übereinander eingehauene tiefe Stufen führten treppenartig auf der schrägen Steinfläche nach oben. Neben diesen Stufen fiel der Teufelsstein senkrecht ab. Der Sage nach war dieser meterhohe Stein der Steigbügel für ein riesiges Ross gewesen.
Wolkentanz wieherte und blieb stehen.
»Was hast du?«, fragte Anna. »Hast du Schmerzen?«
Er schüttelte den Kopf, schnaubte und schob Anna auf den Felsen zu. Erst als sie vor den Stufen stand, begriff sie, was der Hengst wollte. Im dritten Anlauf kam sie die vereisten Stufen hinauf, legte die Arme auf Wolkentanz und rutschte schwer atmend auf seinen Rücken.
»Danke!«, flüsterte sie in seine Mähne.
Am Gäbelisbach kam der Zug zum Stehen. Die aus dem Bachbett aufragenden Steine trugen weiße Hüte und Eiszapfen, die bizarre Bärte formten. Dampfendes Wasser zwängte sich in einer schlängelnden Rinne durch das Eis. Während sich die Leittiere nervös umschauten, stillten andere ihren Durst.
Der Schuss kam aus dem Nichts.
Freitag, 13. Dezember, 16:00 Uhr,Cappellen, Polizeiposten, Büro des Krisenstabs
Auf dem Polizeiposten von Cappellen herrschte hektischer Betrieb. Polizisten eilten hin und her, Telefone klingelten ohne Unterlass und die Bildschirme der Straßen-Überwachungskameras zeigten ein Bild wie aus dem Schweizer Fernsehen der 60er Jahre nach Mitternacht: Es schneite. In irgendeiner Ecke lief ein Digitalradio und spielte leise den Song »Searching« der Rockband Titanic.
Winterfeld starrte auf eine Karte des Schwarzen Forstes.
Der Wald war fünfzig Quadratkilometer groß. Selbst bei optimalen Bedingungen konnte es Tage dauern, dort Personen aufzuspüren. Er schlug mit der Faust auf die Tischplatte: »Es muss gelingen!«
Dann knackte ein Funkgerät und jemand forderte jemanden auf zu antworten:
»Berna 20 an Berna 1, bitte kommen, … Berna 20 …«
Der Polizist mit der Funkstation schaute zum Polizeichef hinüber:
»Wachtmeister Winterfeld, Regionalfahndung Berno ist auf dem K-Kanal, ein Fahnder … es sei dringend.«
»Geben Sie her!« Winterfeld nahm das Mikrofon, das ihm der Beamte entgegenstreckte. »An Berna 20 von Einsatzleiter Berna 1, Winterfeld, Verbindungskontrolle, bitte antworten.«
Es knatterte und rauschte, dann ertönte eine Stimme aus dem kleinen Lautsprecher: