Kitabı oku: «Sternenhagel», sayfa 4

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»Berna 1, verstanden. Hier Fahnder Aschwanden. Hören sie, der gesuchte Wilderer befindet sich in ihrem Gebiet. Er fährt weiterhin den in Deutschland gestohlenen gelben Opel Kadett mit dem Kennzeichnen M-AN 835. Er konnte bei einer Polizeikontrolle nicht gestoppt werden. Ein Streifenwagen hat ihn bis Oberbotlingen verfolgt, ist aber bei Riesbach von der Straße abgekommen.«

Das Funkgerät rauschte und knatterte erneut, doch die Verbindung hielt und der Fahnder fuhr, zwar leiser, aber noch verständlich fort:

»Trotz intensiver Suche haben wir seine Spur verloren. Der Gesuchte wurde von einem unserer Polizisten identifiziert. Es handelt sich um Sepp Fleischhauer, Jahrgang 1961. Ehemaliger Eis- und Bademeister der Ka-We-De. Vorbestraft wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung, Diebstahl, Drogendelikten und Verstößen gegen das Waffengesetz.«

Der Fahnder hielt inne, als ob er unsicher wäre, ob man ihn verstand. Winterfeld quittierte:

»Berna 1 an Berna 20, verstanden!«

»Berna 20 an Berna 1, hören Sie, Wachtmeister Winterfeld, wie mir das Tiefbauamt der Stadt Berno eben mitgeteilt hat, ist es nicht mehr möglich, die Zufahrtsstraßen von Berno in den Schwarzen Forst offen zu halten. Wir werden die Fahndung vorläufig einstellen müssen und können ihnen keine Unterstützung anbieten. Sie sind mit dem Täter auf sich allein gestellt. Viel Glück … auch wegen dem Sturm …«

Zwischenzeitlich war ein Mann in weißer Kampfmontur eingetreten und hatte das Gespräch verfolgt. Er hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen, machte ein steifes Kreuz, salutierte vor dem Polizeiwachtmeister und sagte mit welschem Akzent: »Bonjour Monsieur l’agent, Kommandant Laurentius Brevaronne, wir stehen Ihnen mit einem Grenadiertrupp von zwölf Mann zur Verfügung. Ein Spezialist für die Ortung von mobilen Telefongeräten ist bereits an der Arbeit.«

Winterfeld erwiderte den Gruß:

»Merci, Capitaine, das ist mehr, als wir erwartet haben. Wir sind sehr froh um ihre Unterstützung.«

Der Polizeichef drehte sich zur Landkarte und kreiste mit einem Laserpointer um markierte Stellen:

»Sie haben es gehört«, sagte er mit Sorge in der Stimme, »wir sind von Berno abgeschnitten. Das Gleiche gilt für die Zubringerstraßen aus dem Westen. Den Räumungsfahrzeugen gelingt es nur noch knapp, die Umgebung des Dorfes befahrbar zu halten. Die Zugverbindung Berno–Risbach–Cappellen ist unterbrochen. Auch die Straßen im Großen Moos und dem Schwarzen Forst sind tief unter Schnee begraben. Und nun noch zwei verschwundene Kinder.«

Der Polizeichef hustete und drehte sich zu seinem Assistenten Herry Sauer um: »Wissen wir endlich, ob die beiden Handys dabeihaben?«

Sauer schüttelte den Kopf:

»Ist immer besetzt bei Bubenbergs und Gutthorm nimmt nicht ab. Vielleicht gestörtes Telefonnetz.«

»Ok, Herry, fahr den Wagen vor. Wir schauen selbst bei Ihnen vorbei.«

Er wandte sich wieder an Brevaronne:

»Korporal Bionda wird Ihnen zeigen, welches Gebiet Ihre Grenadiere absuchen sollen. Viel Erfolg!«

Freitag, 13. Dezember, 16:05 Uhr,Schwarzer Forst, Gebiet Wohleyberg

Der Wilderer befahl Hagen stehenzubleiben. Dann nahm er ein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche, stellte es an und las rasch die angekommene E-Mail der Nr. 2: »Blond, Name: Anna, 15 Jahre, mit hellblauem Parka im Forst, Code 42-564.« Das hieß terminieren. Er tippte auf den Anhang. Ein Bildausschnitt aus einem Firmungsfoto. Fleischhauer fluchte. Jetzt noch so eine Scheißgöre.

Fleischhauer stieß den Jungen mit dem Gewehrlauf in den Rücken und forcierte ihn zum schnelleren Gehen. Selbst durch seinen isolierten Anzug drang langsam die Kälte ein. Es wurde Zeit, dass sie die Hütte erreichten und er sich einen Schluck Kirsch genehmigen konnte. Um die Blonde würde er sich morgen kümmern. Gelegentlich schaute er sich um. Ein Gefühl sagte ihm, dass er verfolgt würde. »Unsinn«, dachte er, »nicht bei einem solchen Sturm.«

Auf einmal fiel sein Blick auf eine breit ausgetrampelte Spur. Sein Herz beschleunigte sich. Suchtrupps? Bei einem zweiten Blick erkannte er, dass es sich um die Fährten von Tieren handelte. Wölfe, Rehe, Marder, sogar ein Pferd schien dabei zu sein. Er riss Hagen herum und schubste ihn gegen einen jungen Baum. Hagen schrie auf, als er ihm das linke, vom Schlag mit dem Gewehr angeschwollene Handgelenk nach hinten zog.

»Schnauze, du Memme, sonst leg ich dich um!«, zischte der Wilderer dem Jungen ins Ohr und band seine Arme hinter dem Stamm zusammen. Zum Abschluss drückte er ihm ein gebrauchtes Taschentuch in den Mund.

Er hatte Glück, das Schneetreiben ließ für einen Moment nach und gewährte ihm einen guten Blick. Die Tiere hatten sich am Gäbelisbach versammelt. Der Wind kam aus der anderen Richtung und verhinderte, dass ihn eines der Tiere witterte. Seltsam, dass sie alle so friedlich beieinanderstanden, aber umso besser für ihn.

Er legte sich hin und suchte sich ein Tier aus. Das Fernrohr erfasste einen Luchs. Genau, das war es. Einen Luchs hatte er noch nie erschossen. Sein Herz pochte vor Freude in seinen Schläfen, als er seinen Karabiner auf einen tiefhängenden Ast legte. Genau in dem Moment als er abdrückte, senkte der Luchs den Kopf, als ob er Fleischhauer wahrgenommen hätte. Das Geschoss streifte den Schädel und riss die Spitze des rechten Ohres ab. Der Luchs schrie auf und flüchtete ins Dickicht. Panik kam auf. Auch der durch Büsche für Fleischhauer unsichtbare Wolkentanz stieg auf die Hinterbeine und warf Anna ab. Schnee stürzte auf sie hinab. Noch bevor sie sich aufrichten konnte, traten ihr Pfoten in den Magen. Der Gedanke, sie könne zu Tode getrampelt werden, ließ sie in die Höhe schießen.

Fleischhauer zielte auf ein Kitz, als Anna im Visier auftauchte. Er feuerte sofort. Doch auch diesmal verfehlte er um Haaresbreite.

Anna warf sich hinter einen Felsen und krabbelte auf allen Vieren den Tieren hinterher. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Ihr war, als könne sie noch immer den Luftzug der Kugel an ihrer Wange fühlen.

Fleischhauer fluchte, zielte sorgfältiger auf den blonden Schopf, da hörte er ein Heulen hinter sich und etwas Schweres stürzte sich auf ihn. Kopf voran wurde er in den tiefen Schnee gedrückt, konnte kaum noch atmen. Fleischhauer stellte sich trotzdem tot. Als er keine Regung mehr zeigte, ließ die Hündin von ihm ab.

In diesem Moment reagierte er blitzschnell. Im Umdrehen versetzte er ihr einen Schlag mit dem Ellenbogen. Er traf ihren Kopf. Benommen wich sie zurück. Fleischauer rappelte sich auf, schaute sich um, fand das Gewehr. Als er auf die Hündin ansetzen wollte, war diese im Wald verschwunden. Frustriert jagte er den Tieren ein ganzes Magazin hinterher, obwohl er wusste, dass es sinnlos war.

Freitag, 13. Dezember, 16:15 Uhr,Großes Moos

Bauer Hansruedi Streit ließ seine Scheinwerfer aufleuchten und fuhr auf der Aarstraße weiter, als Christoph Arnold ins offene Land abbog. In einer halben Stunde sollten sie sich wiedertreffen, wenn alles glattging.

Sein schwerer Traktor röhrte wie ein alter Centurion Panzer. Der Blizzard riss und schüttelte an der Fahrerkabine und der Scheibenwischer wurde mit der Masse an Schnee kaum fertig. Streit, dem die Scheune im Moos gehörte, war besorgt. Nicht wegen der alten Hütte, sondern der zwei Hengste wegen, die dort untergestellt waren. Er winkte Ulrich Merck kurz zu, als ihn dieser langsam überholte und schwenkte nach rechts ab.

Der Hürlimann ruckte mehrmals und die Fahrerkabine wackelte, als er es im dritten Anlauf schaffte, halb durch und halb über die von den Schneepflügen an den Straßenrand geräumten Hügel aufs Feld zu fahren. Der starke Wind hob die erst gerade gefallenen Schneekristalle wieder ab und peitschte sie über die Ebene. Streit kniff die Augen zu und spähte in das Schneetreiben. Es war ein gefährliches Unterfangen, das wusste er. Sollten die Jugendlichen wirklich irgendwo im Moos stecken, bestand die Gefahr, dass man sie überfahren würde, bevor man sie sah. Wie sollte man in dieser Hölle jemanden finden? Unmöglich.

Er nahm einen Schluck Kaffee aus der Thermosflasche. Eigentlich müsste er jetzt auf die Scheune treffen. Plötzlich beschlug die Frontscheibe und gefror von innen. Streit trat auf die Bremse und fühlte an der Heizung. Nichts, kein warmer Luftzug. Die Klimaanlage hatte den Geist aufgegeben. Nun musste er gleichzeitig fahren und die Scheibe mit einem Eiskratzer vom Frost befreien.

Erstaunt traf er auf die halb zugewehte Forststraße. Er hatte den Moosweg gekreuzt, ohne zu merken, dass er über ihn gefahren war. Ein Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Mein Gott, es hatte die Scheune weggerissen. Oder war er in diesem Chaos von der Spur abgekommen? Er wendete, fuhr zurück in die weiße Hölle. Er musste die Scheune finden. Christoph Arnold wartete mit laufendem Motor an der Aarstraße auf Streit. Wie oft hatten er und Anna zusammen in die Sterne geguckt und Meteore gesucht. Mit dem Teleskop, das er ihr zur Firmung geschenkt hatte. Mit dem Teleskop, das sie vielleicht nie wieder benutzen würde.

Arnold schaute auf die Uhr. Hansruedi war gut 20 Minuten über der Zeit. Nervös rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Hatte er die Jugendlichen gefunden? Oder hatte er eine Panne? Arnold konnte nicht mehr warten. Er wendete seinen Traktor, fuhr wieder ein Stück Richtung Osten und bog rechts aufs Land ab.

Freitag, 13. Dezember, 16:16 Uhr,Schwarzer Forst, Gebiet Wohleyberg

Anna hastete den Tieren nach. Bei jedem Schuss meinte sie, einen Einschlag zu spüren. Würde es wehtun? Oder wäre sie sofort tot? Ihr wurde schwindlig. Das Bild von Captain Miller aus »Der Soldat James Ryan« drängte sich in ihren Kopf. Sie schluchzte. So wollte sie nicht sterben. Nein! Lieber Gott, lass mich am Leben!

Durch den Wasserdunst des Baches tauchte verschwommen der Fuß des großen Waldhügels auf. Unerwartet bogen die Tiere ab und rollten die Bachböschung hinunter. Sie strebten auf einen quer über dem Gewässer liegenden Baum zu. Der erste Luchs zögerte nur kurz, dann lief er gewandt und schnell zum anderen Ufer. Die Hermeline setzten mit drei langen Sätzen über. Den Bibern half ihr breiter Schwanz, das Gleichgewicht auf dem Stamm zu halten.

Anna zögerte. Die Tiere schienen auf sie zu warten. Einer der Luchse wurde unruhig und fauchte. Als wieder ein Schuss knallte, machten sich die ersten davon. Das weißbäuchige Eichhörnchen löste sich aus der Menge und stellte sich an das andere Ende des Stammes. Sein buschiger Schwanz wehte wie eine Fahne im Wind. Anna verzog das Gesicht.

»Ich komm ja schon.«

Der Sturm stemmte sich gegen sie, als sie auf den toten Baum kletterte. Mit flatternden Armen suchte sie Balance. Ein Ausrutscher. Ihr Herz setzte aus. Mit Mühe konnte sie sich halten. Ihr Blick und der des Eichhörnchens trafen sich. Das Eichhörnchen beugte sich nach vorne. Anna machte es ihm nach, ließ sich wackelig auf alle Viere hinab. Mit gesenktem Kopf krabbelte sie vorwärts, die Schultern gegen den Wind hochgezogen. Es kam ihr vor, als seien Stunden vergangen, als sie auf der anderen Seite ankam.

Das Eichhörnchen sprang an ihr hoch und zog am Parka.

»Ich weiß, wir müssen weiter.«

Anna hustete und schaute die Böschung hinauf.

»Ich werde mich zusammenreißen.«

Fleischhauer war den Spuren gefolgt und sah Anna im Dickicht verschwinden. Er feuerte dem Mädchen eine Salve hinterher. Er fluchte einmal mehr und rutschte zum Bach hinunter.

Taumelnd durchbrach Anna eine Hecke, deren Dornen nach ihrer Hose griffen. Mit peitschendem Schwanz stand einer der Luchse vor den ausgreifenden Wurzeln eines mächtigen Baumes. Anna wischte sich Schneeflocken aus dem Gesicht. Das musste die Wohleyberg-Esche sein, die der Sage nach mindestens tausend Jahre alt sein sollte.

Der Blick des Luchses schweifte umher, dann sprang er auf ein Loch zwischen den Wurzeln zu und verschwand darin. Die übrigen Tiere folgten hinterher. Anna zögerte diesmal nur kurz, denn schon knallte es wieder. Rasch kroch sie hinter dem Eichhörnchen in den Tunnel, der leicht nach oben führte. Anna biss auf die Zähne. Ich darf auf keinen Fall Platzangst bekommen. Herabhängende Wurzeln streiften ihr Gesicht. Sie robbte wie eine Eidechse weiter. Sie sah nichts mehr. Ihre Hände ertasteten eine Absenkung. Das Handy. Die Taschenlampenfunktion. Sie legte sich flach auf den Bauch und mit einiger Mühe zerrte sie es aus der Parkatasche und stellte es an. Ihr Atem ging schneller. Die erdige, dumpfe Luft roch unangenehm. Endlich wurde es hell. Vor ihr weitete sich der Tunnel zu einer kleinen Kammer. Drei Gänge führten ins Dunkle. Sie musste sich in einem Dachsbau befinden. Sie meinte, ein Kratzen zu hören und lauschte. Nichts.

Anna schob sich in die Kammer. Vorsichtig setzte sie sich auf. Wenn sie den Kopf leicht einzog, berührte sie geradeso die Decke. Ein Blick zum Eingang. Das Lichtrondell war blasser geworden. Sie würde die Nacht hier verbringen müssen.

Die Platzangst, vor der sie sich gefürchtet hatte, stieg auf, ließ sie zittern. Leise sprach sie mit sich selbst:

»Ich muss runterkommen. Langsam atmen, Licht ausschalten, Augen schließen. Nichts denken … Genau, das ist es, die Ruheübung!«

Sie zog die Knie an, umschlang sie mit den Armen und stellte sich vor, wie sie in der Sonne an einem Bergsee lag und nur den Wind und das leichte Plätschern des Wassers hörte. Sofort beruhigte sich ihr Atem. Tausendmal hatte sie diese Übung im Meditationstraining angewandt, wenn ihr der Kopf vom Lernen dröhnte oder sie in einer Klausur einen Blackout bekam. Langsam konnte sie wieder klar denken. Vorerst war sie in Sicherheit. Es war wärmer als draußen, sie würde nicht erfrieren.

Da zupfte etwas von hinten an ihrer Mütze. Anna drehte sich überrascht um. Es war das Eichhörnchen, das vor ihr in den Tunnel gehuscht war. Sein weißer Bauch leuchtete im Handylicht auf, als es sich aufrichtete. Die Vorderpfoten hängend wie ein kleiner bettelnder Hund. Schnuppernd fixierte es Anna mit seinen schwarzen Augen. Dann sprang es in einen Tunnel, blieb stehen und schaute zurück. Als es feststellte, dass Anna ihm nicht folgte, lief es zu ihr, stellte sich wieder auf und sah die junge Frau unverwandt an. Dann hüpfte es erneut in die Röhre. Nein, Anna wollte nicht tiefer in den Bau. Sie würde hier in der Kammer übernachten. Wer wusste, wie verzweigt dieser Bau war. Am Ende fand sie morgen den Rückweg nicht. Sie schüttelte den Kopf, legte sich hin, rollte sich zusammen und stellte das Handylicht aus.

Das Eichhörnchen kam zurück und zupfte an ihr. Diesmal an ihrem Haar, das unter der Kappe herausschaute.

Da schoss der Lichtblitz einer starken Taschenlampe durch den Tunnel und blendete sie. Anna hielt sich die Hände vor die Augen und schaute zwischen den Fingern hindurch. Ein Gewehrlauf tauchte in der Röhre auf. Jemand zwängte sich mit dem Oberkörper hinein.

Das Eichhörnchen fiepte schrill und verschwand mit gestrecktem Schwanz blitzschnell in einem Stollen. Anna schoss das Adrenalin ins Blut, reflexartig richtete sie sich auf, schlug an der Decke an, fiel hin und krabbelte hinterher. Als der Schuss losging, verursachte er im engen Tunnelsystem einen Höllenlärm. Anna hielt sich vor Schmerzen die Ohren zu. Einmal mehr war Fleischhauer das Wild entgangen und so feuerte er aus Frust einen weiteren Schuss ab. Dann brüllte er ins Finstere:

»Du verdammtes Luder, dich erwische ich, wart nur. Selbst wenn ich die ganze Nacht bleiben muss, dich mache ich fertig. Dann hänge ich dich an diesem Scheißbaum auf!« Dann rutschte er zurück und machte sich davon. Er hatte nicht im Sinn, die ganze Nacht auszuharren. Aber er baute darauf, dass Anna es nicht wagen würde, die Höhle zu verlassen. Morgen würde er wiederkommen. Jetzt würde er seinen Gefangenen holen, bevor der noch erfror.

Er stellte sich grinsend vor, wie die Beine des Luders zucken würden, wenn der Strick ihr das Genick brach, und hastete achtlos über den Baumstamm. Das war ein Fehler. Er verlor das Gleichgewicht. Einige Sekunden sah es so aus, als ob er einen epileptischen Anfall hätte. Die Schwerkraft siegte und er stürzte kopfüber in den Bach. Das Eis brach unter ihm. Einige Meter vom Stamm entfernt tauchte er wieder auf. Das Gewehr in den Händen. Wenn Fleischhauer einmal nicht wild fluchte, dann war er wirklich böse. Klatschnass zog er sich aus dem Wasser. Der Wind griff nach ihm und ließ die Tropfen, die an ihm herunterrannen, gefrieren. Während er schlotternd zu dem gefesselten Jungen eilte, versuchte er, die Jacke auszuwringen. Dann sah er den verdammten Hund.

Das Pfeifen in Annas Ohren ließ nur langsam nach. Als es endlich verklungen war, lauschte sie angestrengt nach Geräuschen vom Eingang. Erst als sie länger nichts mehr hörte, traute sie sich, das Handylicht anzuschalten. Vor ihr verlor sich der Lichtstrahl in der Röhre, die weiter in den Berg führte. Sie beschloss, rückwärts wieder in die Kammer zu kriechen und dort seitlich ein Stück in einen anderen Tunnel, damit sie nicht im Schussfeld liegen würde, falls der Mann wieder auftauchte.

Da schnarrte etwas hinter ihr. Anna drehte sich auf den Rücken und traf mit dem Strahl den weiß-schwarz gestreiften Kopf eines Dachses, der sich geblendet zur Seite drehte und keckerte.

Anna richtete den Lichtkegel auf seine Füße. Der Dachs reckte ihr seinen Schädel entgegen und schaute sie mit seinen schwarzglänzenden Stecknadelaugen böse an. So erschien es ihr jedenfalls.

Sein ovaler Körper füllte beinahe den ganzen Stollen. Breitbeinig stand er da und seine kurzen Beine endeten in riesigen Krallen. Seine Grabwerkzeuge. Aber auch seine Waffen. Unter seiner rüsselartigen Nase legte das leicht geöffnete Maul das Gebiss frei. Reißzähne, die im Licht schimmerten. Anna erschauerte. Das musste sein Bau sein. Und er freute sich offensichtlich nicht über ihr Eindringen.

Über seinen Schultern tauchten zwei weitere Dachsgesichter auf und blickten sie streng an. Der Vordere kratzte mit einer Tatze über den festen Boden.

Vorsichtig, um die Dachse nicht weiter zu provozieren, kroch sie langsam wieder in den Gang, aus dem sie eben erst gekommen war, rollte sich auf den Bauch und wand sich wie ein gehetzter Salamander hindurch. Der Dachs folgte ihr. Vor Anna tauchte das Eichhorn auf. Als es sie herankriechen sah, wendete es und lief voran. Immer wieder blieb es stehen und schaute sich nach ihr um. Hinter sich hörte Anna den Dachs. Er hörte sich näher an. Schweiß lief ihr über das Gesicht. War das ihre Angst oder wurde es wärmer?

Der nächste Kessel, größer als der am Eingang. Jetzt würde er wohl angreifen.

Anna durchquerte die Kammer, dem Eichhörnchen nach in die nächste Röhre, ohne dass etwas geschah. Dann stellte sie fest, dass das Wetzen der Krallen nicht mehr zu hören war.

Erneut leuchtete sie mit dem Handy nach hinten. Ihre Augen wurden groß. Eine Vielzahl Mäuse, dann drei Hasen, dahinter zwei Füchse und dazwischen sah sie nur noch die Augen des Dachses und seine Nasenspitze. Das Licht erfasste weitere Augen in der Finsternis. Ein Keckern, Pfeifen und Bellen setzte ein. Einer der Hasen schlug nach dem Handy. Anna begriff, dass das Licht den Tieren Schmerzen verursachen musste. Schnell schaltete sie es aus und kroch weiter.

Nach einer Weile verzweigte sich der Tunnel. Das Eichhörnchen huschte in die dickere Röhre, die nach unten führte, vorbei an einem kurzen Gang an dessen Ende eine weitere Kammer lag, die mit Heu, Moos, Farn, Zweigen, Blättern und Tannzapfen gefüllt war.

Der Stollen führte zu einem Kessel, vom dem vier Gänge abgingen. Das Tierchen sprang in den ansteigenden Stollen. Anna folgte ihm.

Hätte sie gewusst, dass sie sich auf das Zentrum des Berges zubewegte, wäre sie wohl kaum weitergekrochen.

Je tiefer sie kam, umso wärmer wurde es. Der Boden war vom jahrtausendelangen Dachsverkehr hart wie Beton. Knie und Ellenbogen taten ihr weh. Das Haar klebte ihr im Gesicht. Schweiß biss und juckte sie. Sie hielt an, zog den Reißverschluss der Jacke auf. Sofort wurde hinter ihr lamentiert, eine Schnauze drückte gegen ihre Stiefel. Wieder weiter. Zwei Gänge aufwärts. Dann schwaches Licht am Stollenende. In Anna stieg hoffnungsvolle Erregung auf. Sie kroch schneller. Eine Art Durchbruch. Das Gestein wechselte von Nagelfluh zu Sandstein. Stöhnend richtete Anna sich auf. Tiere strömten zwischen ihren Beinen hindurch in eine große Höhle. Getaucht in dunkel-türkisblaues Licht. In magisches, funkelndes Glimmern. Irgendwie unnatürlich, doch kunstvoll und unglaublich schön.

Anna suchte nach dessen Ursprung und fand ihn an der Decke, von der vernetzte Lichtnester mit leuchtenden Fäden herabhingen. Lang wie Unterarme.

Waren das Glowworms? Aber die gab es eigentlich nur in Neuseeland.

Die Tiere interessierte das Lichtspektakel nicht. Sie verschwanden in einem elliptischen Höhlengang.

Sie schreckte auf. Geräusche. Rasch lauter werdend. Ein Stakkato klappernder Hufe. Dann war er da.

»Wolkentanz!«, rief Anna entgeistert und leiser: »Wolkentanz …«

Tränen liefen ihr übers Gesicht. Der Hengst beugte seinen Kopf zu ihr und das Mädchen lehnte sich an. Kopf an Kopf. Zärtlich streichelte sie ihn.

Wieder Geklapper. Der Hirschstier warf einen kurzen Blick auf das Paar. Dann schüttelte er das Geweih und schritt würdevoll an ihnen vorbei. Die Hirschkuh und ihr Kalb folgten ihm. Dann die Bären, Rehe, Wölfe, weitere Hirsche, Luchse, Wildschweine … Ein langer Tross der großen Waldtiere. Wintervögel umflatterten sie. Amseln, Rotkehlchen, Grünfinken, Feldsperlinge, Meisen, Sperber, Elstern, Krähen und eine Menge mehr.

Wolkentanz gab ihr einen Stoß mit der Schnauze. Sie verstand und schloss sich an. Durch an- und absteigende Gänge, gerade und sich biegende, elliptische, runde und dreieckige, an Abzweigungen vorbei.

Da teilte sich die Menge, um etwas in der Mitte einer kleinen Grotte auszuweichen. Anna stockte im Schritt. Eine Feuerstelle. Darüber ein natürlicher Höhlenschlot, der wohl den Rauch abgezogen hatte. Zunderschwämme und gleich daneben einige Feuersteine. Anna bückte sich, um sie in die Hand zu nehmen. Die Zunderschwämme waren beinahe versteinert.

Beim Aufrichten fiel ihr Blick auf die gegenüberliegende Wand. Die Linien sahen aus wie … Steinritzungen. Pferde, Eulen, Jäger mit Bögen, die auf Steinböcke schossen. Anna wurde flau im Magen bei dem Gedanken, dass sie wahrscheinlich der erste Mensch seit Jahrtausenden war, der diese Höhle betrat.

Ein Stoß von Wolkentanz trieb sie an. Anna wünschte, er könnte reden und ihr sagen, was die Tiere in der Höhle suchten. Wenn es nur Schutz vor dem Sturm wäre, warum liefen sie dann weiter ins Höhleninnere?

Die schrägen Seitenwände des nächsten Tunnels waren über und über mit Höhlenmalereien bedeckt. Handabdrücke. Abstrakte Punkte und Striche. Dann ein Stilbruch. Mit Holzkohle gezeichnete Tiere. Wohl jüngeren Datums. Wollnashörner, Höhlenlöwen, Mammuts, Höhlenbären und -hyänen, Rentiere, Riesenhirsche, Wisente und Auerochsen. Pferde mit kleinen Köpfen und dicken Bäuchen, mächtige Stiere mit langen gewundenen Hörnern. Es folgten Chimären, die in den Gängen einer Spirale tanzten. Menschenkörper mit Löwen-, Vogel-, Ziegen- und Stierköpfen. Einige mit Flöten. Mitten unter ihnen ein groß gezeichnetes Paar mit einem gemeinsamen menschlichen Unterleib, darüber der Oberkörper einer Löwin sowie der eines männlichen Bisons. Sobald Anna langsamer wurde, um die Details zu bewundern, erhielt sie einen Schubs. Seufzend ging sie weiter. Wenn sie nicht so müde gewesen wäre, so zerschlagen und ausgelaugt, sie wäre ausflippt angesichts dieser Entdeckung.

Wohin der Weg auch führte, die Glowworms besiedelten offensichtlich das ganze Höhlensystem und beleuchteten es mal stärker, mal schwächer.

Das Geklapper der Hufe vor Anna wurde lauter. Sie trat in eine riesige Halle, deren Ende sie nicht sehen konnte. Dicke, nach oben breiter werdende Säulen stützten die Decke. An den Säulen und Wänden entdeckte sie Spuren von Bearbeitung. Bei jedem Schritt wurde feiner Staub aufgewirbelt. Hier war vermutlich Sandstein abgebaut worden.

Merkwürdig, so weit in der Höhle drin. Wohin man die Blöcke wohl gebracht hatte und für was sie verwendet worden waren? Anna durchquerte die Halle auf einem ausgetretenen Pfad und ging zu einem übermannsgroßen rundlichen Loch an der gegenüberliegenden Seite.

Freitag, 13. Dezember, 16:20 Uhr,Schwarzer Forst, Forststraße

Stefano Viamugnaio war müde. Und wenn er müde war, wurde er unausstehlich. Das Wetter passte deshalb hervorragend zu seiner Laune.

Er hatte die Fracht schon um 4:30 Uhr übernehmen müssen. Unten im Porto Antico im alten Hafen von Genua im Areal des stillgelegten Kohlekraftwerkes. Viamugnaio war solche Nacht- und Nebelaktionen nicht gewöhnt. Entsprechend nervös machte ihn der Transfer. Es war gespenstisch still gewesen an diesem Morgen und misstrauisch hatte er sich umgeschaut. Doch außer den gestapelten Containern und den abgeschalteten Förderbändern, die zu den leeren Kohledepots führten, war nichts zu sehen. Die Leute der Sutech Worldwide Logistic Cooperation, ein Unternehmen der Organisation, kannte er nicht. Sie arbeiteten ruhig, schnell und schweigend. Innerhalb weniger Minuten war die Fracht in den versteckten Stauräumen des alten Drögmöller-Reisebusses untergebracht.

Als nächstes hatte er die neunundzwanzig Touristen vor dem Hotel Novotel aufgeladen. Nach Aosta hatte es zu schneien angefangen. Eine resolute, schwatzhafte und vollschlanke Neapolitanerin Mitte fünfzig war plötzlich ruhiger geworden. Viamugnaio schätzte die Ruhe. Bis die Italienerin plötzlich kotzte. Etwas Gutes hatte die Sache ja. Von da an schwieg die Dicke.

Dann die Grenzkontrolle am Ausgang des Grossen-St.Bernhard-Tunnels. Er war nur wenig nervös. Die Organisation hatte ihren Mann vor Ort. Der winkte den Bus durch. Er konnte nicht verstehen, warum die Organisation verlangt hatte, dass er, als Chef ihres Reiseunternehmens Viaggo Romantico, die Tour machen musste. Normalerweise machte das einer seiner vierzig Fahrer.

Nach dem Mittagessen im Hotelrestaurant Bivouac Napoléon merkten einige der senilen Deppen, dass sie noch keine Schweizer Franken hatten und verschwanden, anstatt im Bus Platz zu nehmen, in der Wechselstube. Das führte, nebst der verspäteten Abfahrt am Morgen – einige Senioren hatten den Wecker falsch gestellt –, dazu, dass Viamugnaio zu spät zum Treffen kommen würde. Nun gut, er hatte Partner Nr. 2 in der Schweiz informiert.

Zwei Tage musste er die Gesellschaft aushalten. Allein. Genua-Berno-Neuenburg-Basilea und retour. Und wenn denen erst einmal aufging, dass die versprochene romantische Städtereise wenig mit der Realität zu tun hatte, konnte es ungemütlich werden. Aber nicht für ihn. Unter seinem schmalen schwarzen Schnurrbart kräuselten sich seine Lippen. Er hatte auch schon seine Fahrer bei ähnlichen Ereignissen angewiesen, renitente Rentner an Parkplätzen im Nirgendwo auszusetzen.

In Berno an der Aar zogen Ausläufer des Blizzards eine dicke Decke über die Stadt. Die Führung in der mittelalterlichen Altstadt musste abgesagt werden. Die Alten begehrten auf. Viamugnaio bedauerte. Stattdessen karrte er die Truppe zum Zytglünggi, einem Glockenturm mit Figurenspiel. Das war das Highlight der Besichtigung von Berno. Auch das Einzige. Der Busfahrer forcierte die Gruppe am Ristorante Lorenzoni vorbei zum Bus zurück. Die Bruschette al pomodoro wurden gestrichen. Man müsse sich beeilen, das Hotel läge außerhalb von Berno in Mühlisberg und der hohe Schnee … Die älteren Herrschaften wurden ein weiteres Mal enttäuscht, waren sie doch davon ausgegangen, dass sich das Hotel im Zentrum der Stadt befände. Viamugnaio gab das Ziel in das Navi ein: Dorfstraße 137, Cappellen.

Schlingernd fuhr der Bus über die Moncailloubrücke zum Eigerplatz und von dort weiter entlang des Universitätsspitals Richtung Autobahnauffahrt Bremer Wald. Als er auf sie zufuhr, musste er feststellen, dass die Polizei die Auffahrt gesperrt hatte und jeden Autofahrer kontrollierte. Er dachte an die 4,6 Millionen Yaba-Pillen im Gepäckraum. Er wurde unruhig. Kurz entschlossen bog er rechts ab, drückte »Autobahn meiden« und fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit weiter. Die Scheibenwischer wurden der Schneemasse kaum Herr. Als Viamugnaio von der Eymattstraße auf die Forststraße abzweigen wollte, stellte er fest, dass ein Absperrzaun den Weg blockierte.

Er hielt an und schaute sich um. Weit und breit keine Bullen. Natürlich war es riskant, aber er wusste, wenn er nicht rechtzeitig ankäme, gäbe es ganz andere Probleme. Der Sturmwind nahm ihn beinahe mit, als er ausstieg. Vornübergebeugt stapfte er zur Absperrung und hievte, unter den erstaunten Blicken der Senioren, einen Teil zur Seite. Als er einstieg, protestierten die Alten lautstark. Viamugnaio packte den Rädelsführer am Kragen und bellte ihn an, es sei jedem selbst überlassen, jetzt und hier auszusteigen. Die Reisegruppe verstummte.

Dann fuhr Viamugnaio los. Schlitternd. Der Blizzard wurde stärker und riss den Reisebus auf der schmalen Straße hin und her. Die Alten schrien, die Dicke kotzte wieder. Viamugnaio biss sich schwitzend auf die Lippen. Hinter ihnen stürzten Bäume auf die zugeschneite Straße. Ein irrer Senior schrie jedes Mal: »Albero sta cadendo! Albero sta cadendo! Baum fällt!«

Viamugnaio fuhr schneller. Die Damen weinten. Die Männer hielten sie um die Schultern und redeten sich Mut zu. In der Mitte des Forstes ließ der Wind ein Stück nach und die Gruppe schöpfte Mut. Doch als es auf den westlichen Waldrand zuging, trieben heftige Böen den Schnee horizontal über die Straße und schüttelten den Bus.

Die Scheinwerfer erfassten die große Kiefer, bevor Viamugnaio die Gefahr erkannte. Sie fiel dumpf auf die Straße, Äste wurden weggeschleudert und der Stamm federte einen Meter zurück, bevor er zum Liegen kam.

Viamugnaio machte reflexartig eine Vollbremsung, der Bus drehte sich und rutschte schräg weiter. Dann fuhr er vorne rechts auf den Baum auf. Der fünfzehn Meter lange Drögmöller drehte sich komplett, das rechte Hinterteil kam von der Straße ab, riss Sträucher und junge Bäume um, bevor es auf einer dicken Eiche aufschlug. Das kombinierte Abspielgerät spuckte die Tonbandkassette aus, stellte automatisch auf Radiobetrieb und Black Sabbath gaben ihren Song »Paranoid« zum Besten. Es ruckte und der Dieselmotor stellte den Betrieb ein. Rauch trat aus den seitlichen Lüftungsschlitzen des Motorraums aus. Die Buslichter bohrten Lichtkegel in den Wald. Auch die Beleuchtung in der Kabine funktionierte noch.

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