Kitabı oku: «Frau Herzog und der Mann im Schatten», sayfa 2
2
Frau Herzog erinnerte sich noch gut daran, wie das Amtsgericht an der Goerdelerstraße erbaut worden war. Die 20 Jahre, die es inzwischen mit seinem zeitlosen Futurismus einen Glanzpunkt an die ansonsten recht trostlose Goerdelerstraße setzte, waren ihm nicht anzusehen. Seine dunkelblauen Glasfassaden leuchteten fast so wie am ersten Tag. Auf diese Weise, so dachte sie oft, wenn sie durch die Sicherheitsschleuse schritt, verbargen sie die Schatten dahinter, und die Abgründe, die sich jeden Tag aufs Neue in ihm auftaten.
Auch heute schien es ein solcher Schattentag zu werden, obwohl eine schwache Herbstsonne durch dünne graue Wolken auf Solingen herabschien. 9 Uhr: Prozesstag 2, Strafsache Julius Z. Öffentliche Verhandlung. Sie wusste: Wenn sie die Jugendlichen vernahmen, vor denen sich der Typ entblößt hatte, wäre niemand zugelassen, außer dem Richter, den Schöffen und den Rechtsvertretern. Jetzt aber tummelten sich zahlreiche Interessierte im Flur vor dem Sitzungssaal. Zwei Frauen unterhielten sich und wirkten dabei sehr erregt. Die Eltern der beiden Jungs, dachte sie.
Rita hatte sie einmal gefragt, warum sie sich das immer antue, diese Gerichtsberichte, selbst jetzt noch, da sie längst in Rente war, warum sie immer wieder diesen Dramen beiwohnte, die sich hinter fast jeder Strafsache verbargen. Damals, im Prozess gegen die rechtsradikalen Brandstifter, hatte sie keinen Prozesstag versäumt, ganz gleich, ob sie nun schrieb oder nicht. „Weil es jemanden geben muss, der hinschaut“, hatte sie Rita geantwortet. „Genau dahin, wo sonst alle wegschauen. Es gibt diese Menschen in unserer Stadt, und es gibt ihre Taten, sei es nun ein Diebstahl oder ein Mord. Und ich will wissen, was das für Menschen sind. Und warum sie das tun, was sie tun.“ Sie hatte vorab im Archiv des Solinger Tageblatts recherchiert. Es hatte zwei Artikel zu dem Fall gegeben und zahlreiche Leserbriefe, in welchen sich Leser erbost zeigten über irgendwelche Widerlinge, die sich an unschuldigen Jugendlichen vergriffen, und ob man denn nirgendwo mehr sicher sei, nicht mal auf der Korkenziehertrasse. Sie maß dem nichts bei, die Leute waren oft ganz groß im Vorverurteilen. Sie hielt davon nichts. Das schrieb sie auch häufig in so manchem Kommentar, in welchem sie mitunter auch während des Prozesses den oder die Angeklagten in Schutz nahm, was ihr schon häufiger Kritik eingebracht hatte. Aber letztlich, das hatte sie in all den Jahren auf ihrem Presseplatz im Amtsgericht Solingen und im Wuppertaler Landgericht gelernt, waren die meisten der Männer und Frauen, die dort auf der Anklagebank saßen, selber auch Opfer. Opfer von Eltern, die eigentlich keine waren. Opfer ihrer eigenen Lebensläufe, für die sie nicht immer selbst etwas konnten. Sie fand es viel zu einfach, jemanden als „den Bösen“ abzustempeln. Auch das war ein Grund, warum Frau Herzog ihre Gerichtstermine so wichtig nahm: weil sie es sich nicht einfach machen wollte.
Und auch den Lesern nicht.
Die Tür öffnete sich, die Zuhörer nahmen Platz, Frau Herzog setzte sich wie immer nach hinten links.
Als Julius Z. mit seinem Pflichtverteidiger, der beinahe genauso ungepflegt aussah wie er selbst, den Gerichtssaal betrat, erkannte sie ihn sofort wieder: derselbe dichte Bart, dieselben verwuschelten hellbraunen Haare, dieselbe große dunkle Brille. Er hatte damals vor dem Wuppertaler Landgericht auch im Prozess gegen den Messerstecher aus der Notunterkunft ausgesagt, aber außer einigen wirren Sätzen nicht viel Sinnvolles beitragen können. Sie erinnerte sich nur, dass der Mann eine Lichtallergie hatte und sich tagsüber immer in seinem Zimmer verschanzte, aber jeden Morgen ganz früh auf der Korkenziehertrasse walken ging. Das hatte er ungefähr siebenmal wiederholt.
Und dann, es war gar nicht lange her, hatte er auf jener Korkenziehertrasse, an der nicht weit entfernt auch eine Kindertagesstätte lag, offenbar die Hosen heruntergelassen.
Ein Raunen ging durch die Zuhörer, als Julius Z. sich setzte und die Brille auf der Nase ließ. Frau Herzog fühlte sich gleich an den seltsamen Prozess im Osten Deutschlands gegen den zurückgebliebenen Ulvy K. erinnert.
„Schwein!“, rief ein älterer Mann aus der letzten Reihe.
Frau Herzog kannte die Richterin von zahllosen Verhandlungen. Emilia Saß, Mitte fünfzig, war das, was die in den unsäglichen Gerichtssendungen im Fernsehen nicht waren: ruhig, souverän, fair. Sie ignorierte den Schreienden und befragte den Angeklagten zunächst zu einigen persönlichen Daten, die Julius Z. mit leicht zitternder Stimme beantwortete.
Name: Julius Zacharias. Geboren: 3. Juli 1977 in Solingen. Ledig, keine Kinder. Wohnort: die Notunterkunft in der Innenstadt. Beruf: Ausbildung zum Informatiker angefangen, aber abgebrochen, danach mehrere Hilfsjobs, unter anderem in einem Computergeschäft in Ohligs, seitdem arbeitslos. Mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen wegen psychischer Auffälligkeiten. Ein Selbstmordversuch vor vier Jahren. Eltern: beide verstorben.
„Was machen Sie denn den ganzen Tag mit Ihrer Zeit, Herr Zacharias?“, fragte die Richterin mit ihrer warmen, für eine Frau recht tiefen Stimme.
„Cäsar.“
„Was? Äh: Wie bitte, Herr Zacharias?“
„Cäsar. Mich nennen alle Cäsar. Auch da, wo ich wohne. Bitte … nennen Sie mich auch so.“ Als Frau Herzog seiner Stimme lauschte, kamen ihr einige Szenen aus der Gerichtsverhandlung gegen den Messerstecher wieder in den Sinn. Auch damals hatte er wie ein Junge von vielleicht acht, neun Jahren geklungen. Auch damals hatte er Cäsar genannt werden wollen.
Emilia Saß seufzte. „Also schön … Cäsar. Was machen Sie mit der vielen Z …“
„Sie sehen traurig aus, Frau Saß. Hatten Sie Streit mit jemandem?“
Der Richterin blieb der Mund offen stehen. Unbewusst, aber so, dass Cäsar es genau sah, strich sie über den goldenen Ring an ihrem linken Ringfinger. Frau Herzog bemerkte eine Veränderung in ihrem Gesicht: Die Ruhe darin war wohl auf der Flucht. Irritation zog stattdessen ein.
„Also hören Sie mal, Herr Zacharias … Cäsar … es geht hier, glaube ich, um Sie. Ich hatte Sie jetzt schon zweimal was gefragt, und eine Antwort wäre …“
Doch er unterbrach sie wieder. „Morgens um sieben walken. Halbe Stunde. Jeden Tag. Frühstücken. Dann am Computer arbeiten. Dann Computerspiele spielen. Einmal in der Woche einkaufen. Manchmal Paul helfen bei Sachen. Dann wieder in mein Zimmer. Am Computer Sachen machen. Wichtige Sachen. Bis abends. Abendessen. Schlafen. Morgens um sieben walken. Halbe Stunde. Jeden Tag. Dann …“
„Okay, ich habe das verstanden“, unterbrach sie ihn. „Und dieses Walken, das machen Sie auf der Korkenziehertrasse, richtig? Die liegt ja, wie ich das sehe, gar nicht weit weg von zu Hause …“
„Nein. Ist nicht mein Zuhause. Da bleib ich nicht für immer. Da geh ich sicher bald weg.“
Der Verteidiger schaute Cäsar irritiert an und schien gerade zu bereuen, dass er ihn überhaupt hatte antworten lassen.
Emilia Saß warf den Schöffen rechts und links neben ihr, einem Mann und einer Frau im Rentenalter, kurze Seitenblicke zu und wandte sich dann wieder an Cäsar. „Wie auch immer. Jedenfalls haben Sie dann wohl an jenem Morgen vor ein paar Monaten …“, sie zögerte kurz und schaute zu den Müttern der beiden Jugendlichen hinüber, die Cäsar mit ihren Aussagen überhaupt erst vor Gericht gebracht hatten, „Ihre Hose ausgezogen und sich vor zwei Jungs, einer dreizehn, einer vierzehn, entblößt, die auf dem Weg zur Schule waren. Was haben Sie sich denn dabei gedacht?“
„Frau Richterin, ich muss doch sehr bitten“, schaltete sich der Verteidiger ein, aber Cäsar unterbrach ihn.
„Ich habe gar nichts gedacht. Weil ich so was nicht mache. Niemals.“ Seine Stimme hatte sich verändert. Nun sprach kein kleiner Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, er sprach ganz ruhig, ganz klar. Unter den Müttern brach erbostes Gemurmel aus. Emilia Saß sorgte wieder für Ruhe und wandte sich an den Angeklagten. „So, Sie haben das nicht getan. Und wie kommt es dann, dass diese beiden Jungs so etwas erzählen? Wir haben die beiden unabhängig voneinander befragt, und ihre Aussagen decken sich exakt. Sie hielten an. Sprachen die Jugendlichen an. Zogen sich die Hose hinunter. Hielten Ihren Penis hoch. Spielten mit ihm. Lachten sich über sich selbst kaputt. Die Jungs schrien vor Angst und rannten weg. Die beiden drehten sich noch einmal um und sahen weinend, wie Sie Ihre Hose wieder hochzogen und kichernd weitergingen. Das klingt für mich sehr glaubwürdig.“
„Das haben die sich ausgedacht.“
„Also, das ist doch wohl …!“, schallte es aus dem Zuhörerbereich durch den halben Gerichtssaal.
Emilia Saß hob die Hand. „Bitte, ich weiß, dies ist ein sehr emotionaler Moment für alle hier. Aber ich darf um Ruhe bitten.“ Sie wandte sich wieder an Cäsar. „Sie sagen also, die beiden Jugendlichen hätten sich das ausgedacht.“
Cäsar drehte sich weg und schaute durch seine große dunkle Sonnenbrille gedankenverloren aus dem Fenster. Schweigend.
„Herr Zacharias?“
Er reagierte nicht.
„Cäsar, bitte. Niemand verurteilt Sie hier. Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, was die Wahrheit ist.“
Ruckartig drehte er ihr wieder den Kopf zu. „Siebenhundertzehn mal vierundsiebzig ist gleich zweiundfünfzigtausendfünfhundertvierzig. Das war leicht. Was anderes: Zweiunddreißigtausendvierhundertsiebenundfünzig geteilt durch siebenundsechzig ist gleich vierhundertvierundachtzigkommavierdrei. Noch eine: Neuntausend …“
Der Verteidiger konnte es nicht mehr mit anhören: „Sie müssen entschuldigen, Frau Richterin, aber mein Mandant ist … vielleicht sollten wir eine Pause einlegen.“
„Nein, Herr Verteidiger, ich bin mit ihm noch nicht fertig.“ Der Verteidiger atmete tief ein und schwieg.
„Herr … also, Cäsar. Schauen Sie mich bitte an.“ Die dunkle Sonnenbrille richtete sich auf sie. „Was hat Sie jetzt gerade so nervös gemacht? Womit habe ich Sie … erzählen Sie bitte, was Sie bewegt.“
Cäsar rutschte auf seinem Stuhl herum, gestikulierte hilflos wirkend umher, doch es schien eine Art Ritual zu sein, es hatte System, denn er machte es dreimal auf exakt dieselbe Weise nacheinander, bis er sich gesammelt hatte. Bis es gut war. „Es stimmt. Hab die Jungs getroffen.“ Ein Raunen unter den Zuhörern. Die Mütter fingen an zu tuscheln. „Ich habe sie …“, begann Cäsar, aber die Richterin unterbrach ihn und wandte sich an die beiden Frauen. „Entschuldigung? Ich bitte Sie jetzt eindringlich, Ruhe zu bewahren. Sonst setze ich diese Vernehmung ohne Sie fort. Dann verlassen Sie den Raum. Haben Sie das verstanden?“ Die Mütter verzogen das Gesicht und verstummten.
„Bitte, Cäsar, fahren Sie fort.“
„Ein paarmal hab ich die getroffen. Haben mich geärgert. Haben gelacht und gerufen: Da kommt der Bekloppte mit der Brille wieder! Einmal sind sie ein Stück mitgelaufen und haben gefragt, ob ich aus der Klapsmühle komme und was ich … für eine Missgeburt sei. Einmal haben sie mich geschubst, sodass ich fast hingefallen bin und …“
„So was würde mein Junge niemals …“, fuhr eine weibliche Stimme dazwischen.
„Sie halten sich bitte geschlossen“, mahnte die Richterin. Dann, an Cäsar gewandt: „Und das ist Ihnen als Kind sicher auch einige Male passiert, oder?“
„Später … wegen der Brille … und wie ich aussehe … Ihre Uhr geht übrigens siebzehn Sekunden nach, Herr Schöffe …“ Der grauhaarige Mann, der neben Emilia Saß hinter dem Richterpult saß, schaute irritiert auf seine goldene Armbanduhr. „Immer hat irgendwann irgendwer was zu mir gesagt“, fuhr Cäsar fort, „aber diese Jungs waren einfach … böse. Richtig böse.“
Emilia Saß nickte und warf den beiden Müttern einen ernsten Blick zu. Wieder an Cäsar gewandt fuhr sie fort: „Ich verstehe das durchaus, dass so etwas nicht leicht zu ertragen ist. Gerade Jugendliche können grausam sein. Und dann haben Sie eines Tages beschlossen, sich an den Jungs zu rächen.“
„Hab nie etwas getan. Hab Angst vor denen. Ich laufe jetzt auch immer woanders lang, damit ich sie nicht mehr sehe. Außerdem …“, er brach ab. Doch seine Lippen bewegten sich weiter, und Frau Herzog konnte erkennen, dass er sehr schnell zu sprechen schien. Mit sich selbst. Ob er wieder rechnete?
„Cäsar? Bleiben Sie bitte noch einen Moment bei mir, ja? Was wollten Sie gerade sagen?“
Er atmete schneller, und seine Hände begannen zu zittern. Dann die Lippen. Er versuchte es trotzdem: „Außerdem … weiß ich, was das ist, wenn sich einer vor einem so auszieht und so was macht. Wie schlimm so was ist. Mein Vater …“ Mehr schaffte Cäsar nicht. Er begann zu schluchzen, Tränen liefen ihm übers Gesicht, er vergrub seinen Kopf in seinen Armen und legte sich halb auf das Pult, jetzt wieder der kleine Junge, der die ersten Sätze gesprochen hatte.
Emilia Saß schaute zu ihren beiden Schöffen hinüber, dann zur Staatsanwältin und zum Verteidiger. „Wir machen einen Augenblick Pause.“
Doch bei einem Augenblick Pause blieb es nicht. Cäsar rechnete in den nächsten Stunden ununterbrochen die kompliziertesten Aufgaben, und niemandem gelang es, seine Gedankenschleife zu unterbrechen. Am Nachmittag, so verkündete die Richterin anschließend noch kurz, werde man mit der Vernehmung der Jugendlichen fortfahren. In nichtöffentlicher Sitzung.
Helene Herzog saß am Platz der freien Mitarbeiter in der Tageblatt-Redaktion und tippte eine Überschrift. „Vermeintlicher Exhibitionist Opfer eines bösen Streichs von Jugendlichen“. Dahinter setzte sie ein Fragezeichen. Es war kurz nach halb fünf, und sie war nicht sicher, ob sie heute noch eine Nachricht über die Vernehmung der Jugendlichen aus dem Gericht bekommen würde. Sie speicherte den Artikel ab, drehte sich zu Redakteur Karl-Peter Carstens um und sagte: „So, fertig, 87 Zeilen. Sie dürfen es zerpflücken.“
Carstens grinste sie über seinen Monitor hinweg an und öffnete den Artikel. Las ihn. Und rollte mit dem Stuhl um seinen Schreibtisch herum. „Frau Herzog, das ist nicht Ihr Ernst.“
Sie stemmte die Hände in die Hüften, was im Sitzen immer etwas seltsam aussah, aber das war ihr egal. „Natürlich ist es das. Der Mann hat nichts gemacht. Der ist vollkommen unschuldig, das garantiere ich Ihnen.“
„Ach so, sind Sie jetzt die Richterin? Also ich verstehe Ihren Einsatz für die armen Opfer der deutschen Justiz ja durchaus, und einige Male lagen Sie mit Ihren Einschätzungen sogar schon während der jeweiligen Verhandlungen ganz richtig, aber …“
„Einige Male? Ich bitte Sie! Bis auf den Fall mit dem Messerstecher damals, wo im Übrigen unser jetziger Angeklagter auch schon als Zeuge ausgesagt hatte, lag ich immer ziemlich richtig. Den haben sie verknackt, das stimmt, obwohl ich bis heute ja überzeugt bin, dass …“
„Ja, das betonen Sie bei jeder Gelegenheit, Frau Herzog.“
„Und außerdem habe ich ein Fragezeichen dahinter gesetzt.“
Carstens seufzte. Er schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf. „Kurz nach halb fünf. Also, wenn wir bis sechs nichts Neues bekommen, kann ich das so nicht bringen.“
Frau Herzog spürte wieder einmal, wie ihr heiß wurde. Das ging jedes Mal so schnell und mit solcher Wucht, dass die Wut ihr schon in den Augen stand, ehe sie überhaupt zwinkern konnte. Sie stand auf, wackelte hin und her, strich sich das graue Haar nach hinten und zog die Stirn kraus. Carstens wusste genau, was das bedeutete.
Das Schlimme daran war, dass sie, als sie noch hauptberufliche Lokalredakteurin des ST gewesen war, ihn, Carstens, als Volontär ausgebildet hatte. Er war damals ihr Azubi gewesen, und manche Redakteurskollegen nannten die Volontäre auch heute noch zum Spaß „den Stift“. Und gefühlt war Carstens, inzwischen selbst Mitte vierzig, im Verhältnis zu ihr aus dieser Rolle nie herausgewachsen. Doch jetzt, da sie längst in Rente und seitdem als freie Mitarbeiterin tätig war, oblag es ihm nun mal, ihre Artikel zu redigieren und freizugeben. Und nicht mehr umgekehrt. Was für beide nicht immer einfach war.
Carstens kannte diese Haltung, diesen Blick, dieses ganze Gehabe. Er hatte über die Jahre gelernt: Frau Herzog machte das nicht mit Absicht, so wie manch andere, die ihre scheinbare Autorität bewusst zur Schau stellten, um sich so auf plumpe Weise Respekt zu verschaffen. Sondern sie war einfach so. Sie ärgerte sich wirklich. Und wenn Carstens ehrlich war: Frau Herzog war heute, mit knapp 70, schon fast altersmilde geworden. Da hatte er ganz andere Auftritte erlebt.
Er wusste aber auch, dass er diesmal nicht nachgeben durfte. Es war so wie bei ihren Geschichten zum Fahrradphantom im Sommer: Er musste sie vor sich selbst schützen. „Wissen Sie, es geht doch hier nicht um einen Diebstahl. Wenn er es war, geht diese Nummer klar in Richtung Kindesmissbrauch. Da dürfen wir nicht falsch liegen, sonst dampft die Kacke aber so richtig.“
„Hui, Herr Carstens kommt in Fahrt.“
Er ignorierte es. „Also, Frau Herzog: Wir haben zwei Möglichkeiten: Sie schreiben eine Zweitversion, die wir in dem Falle bringen, dass wir nichts mehr hören vom Gericht. Nach dem Motto: Angeklagter brach zusammen, schiebt die Schuld auf die Jugendlichen, sieht sich als Opfer, und so weiter. Und die jetzige behalten wir für alle Fälle.“
„Nix. Ich schreib keine Zweitversion. Der war’s nicht und Ende.“
Carstens seufzte und nahm den Hörer in die Hand. „Ich rufe jetzt den Chefredakteur an.“
In diesem Moment klingelte Frau Herzogs Handy. Sie holte es aus ihrer Tasche und schaute aufs Display. „Trautmann, Sprecher des Amtsgerichts“ zeigte es an. Sie hielt es Carstens hin und schickte gleich ein Gewinnerinnenlächeln mit. „Da isser!“ Sie nahm ab. Setzte sich hin. Schrieb mit. Hakte nach. Sprach so laut, dass Carstens jedes Wort verstehen konnte. Als sie nach einigen Minuten auflegte, drehte sie sich um. Karl-Peter Carstens war hinter seinem Monitor in sich zusammengeschrumpft. „Ach, lieber Herr Carstens, geben Sie mir den Artikel noch mal frei? Ich muss da noch was ergänzen. Und ein paar Fragezeichen löschen.“
Also schrieb sie, was Herr Trautmann ihr berichtet hatte. Sie schrieb, dass einer der Jugendlichen zunächst auf seiner Aussage beharrt hatte. Ja, der komische Mann mit der Brille habe sich einfach ausgezogen. Sie schrieb, dass kurz darauf aber der andere Junge, ein zierlicher Typ mit Brille, weinend zugegeben hatte, dass sich beide nur einen bösen Scherz erlauben wollten mit dem blöden Irren. Und dass sein Kumpel die Idee gehabt hatte und er von Anfang an dagegen gewesen sei. Dass sie dafür sorgen wollten, dass er ins Gefängnis geht und ihnen nie wieder begegnet, weil sie ihn zwar immer wieder geärgert, aber schon etwas komisch gefunden hätten. Und dass vor allem ihre Eltern auch immer gesagt hätten, dass so einer eigentlich gar nicht frei rumlaufen dürfe und sicher noch irgendwann einem was antue.
Doch es war genau andersherum gewesen.
Frau Herzog beließ es nicht bei dem Artikel. Sie setzte beim Chefredakteur des Tageblatts auch einen Kommentar über die fatalen Folgen durch, die ein solcher Streich von Jugendlichen haben kann. Sie wusste: Auch wenn Cäsar nachweislich nichts getan hatte, außer jeden Morgen ganz alleine über die Korkenziehertrasse zu walken, er war nun gebrandmarkt.
Was sie schrieb, war subtiler als das, was sie dachte, es war ausgewogen und so sachlich wie nur möglich.
Die Leser würden sich ihr Urteil schon selbst bilden.
Als sie abends in ihrem Käfer aus der Innenstadt nach Gräfrath fuhr, zogen die letzten Tage an ihr vorbei. Sie war kaum von ihrer Berlinreise zurück, da hatte der Alltag sie schon wieder. Ruhe? Was war das? Zuerst das Drama um ihre Tochter, und noch immer kam sie an diesen Kerl nicht heran. Sie war noch einmal zu dessen Elternhaus gefahren, hatte ihn abpassen wollen, hatte zwei Stunden im Auto gewartet, morgens um halb acht, aber er war nicht aufgetaucht, und er hatte sich auch bei Charlotte nicht mehr gemeldet. Sie hatten zigmal telefoniert, jedes Mal hatte Frau Herzog ihr gesagt, sie solle die Polizei einschalten, aber ihre Tochter weigerte sich und verbot ihr nachdrücklich, es selbst zu tun. Also ließ sie es, auch wenn der Gedanke an ihren leidenden Enkel sie innerlich zerriss.
Dann der Gerichtstermin heute, der ihr vor Augen geführt hatte, wie schnell der vermeintliche Böse zum Opfer werden kann. Es war Donnerstagabend, und sie beschloss, am Freitag nichts zu tun, außer Rita auf dem Balkon zu helfen. Das Wetter hielt sich für Ende Oktober recht stabil, und Rita, die leidenschaftliche Blumenspezialistin, wollte ihr kleines florales Paradies schon mal winterfest machen.
Sie half auch. Aber mit den Gedanken war sie wieder ganz woanders. Mit den Gedanken war sie im Gefängnis. Mitten in der Justizvollzugsanstalt Remscheid.
Schuld war ein Brief, den sie noch am Donnerstagabend aus der Post gefischt hatte.
Ein Brief, der ihr in den kommenden Tagen einiges bescheren sollte.
Nur keine Ruhe.