Kitabı oku: «Frau Herzog und der Mann im Schatten», sayfa 3
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Liebe Frau Herzog,
ich hoffe sehr, dass es Ihnen gut geht. Vielleicht erinnern Sie sich an mich – wenn nicht, würde ich es Ihnen auch nicht übel nehmen, im Gegenteil.
Sie haben damals über mich geschrieben, ohne meinen Namen zu nennen, natürlich. Damals, im Frühjahr 2012, saßen Sie jeden Tag im Gerichtssaal, haben eifrig mitgeschrieben. So wie Sie habe ich nicht einmal meine Studenten an der Uni schreiben sehen, als ich die noch hatte … aber ich schweife ab.
Warum ich Ihnen schreibe? Weil ich nicht mehr kann, Frau Herzog. Zweieinhalb Jahre habe ich es ausgehalten, unschuldig in diesem Knast hier zu hocken, und in so mancher Nacht dachte ich, so, das war es jetzt. Ich mache Schluss. Aber ich lebe. Noch. Und ich lese viel. Auch die Tageszeitung, das Solinger Tageblatt, lasse ich mir mit der Post nach Remscheid schicken. Und als ich im Sommer Ihre Reportage zu diesem Fahrradphantom gelesen habe, fielen Sie mir wieder ein. Helene Herzog. Die damals über die Messerstecherei in einer Notunterkunft in Solingen-Mitte berichtete. Damals starb ein Mann namens Hans Conrad, erinnern Sie sich? Freundlich, nett, alle mochten ihn. Ich übrigens auch. Zunächst ein reiner Indizienprozess, wissen Sie noch? In zwei Kommentaren haben Sie damals die Justiz kritisiert, dass sie sich nur auf Indizien stütze. Und dass die Gerichte ja offenbar überlastet seien. Und ob denn ein Bewohner einer Notunterkunft keinen Anspruch auf einen fairen Prozess habe. Die Sache ist ziemlich hochgekocht damals.
Nur gebracht hat es mir nichts. Man war überzeugt, dass ich es war, und als dann Paul, ein Mitbewohner, gegen mich aussagte, war alles zu spät. Wenigstens haben sie aus dem Mord einen Totschlag gemacht, nach fünf bis sieben Jahren käme ich raus. Aber … ich dürfte gar nicht hier drin sein! Denn ich war es nicht.
Ich weiß, was ich Ihnen mit diesem Brief aufbürde, Frau Herzog, aber: Ich habe da draußen niemanden mehr, daher schreibe ich Ihnen. Der Fall muss neu aufgerollt werden. Schnell. Denn ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.
In Erwartung einer baldigen Antwort und mit freundlichen Grüßen
Ihr
Kay Kramer
Im geschmackvoll eingerichteten Aufenthaltsraum der Seniorenresidenz in Gräfrath leuchtete das schwache Licht eines Deckenfluters. Frau Herzog hatte den Brief gerade zum fünften Mal gelesen, jetzt las ihn Wilhelm, Rita kannte ihn auch schon.
Frau Herzog leerte ihr drittes Glas Wein, und sie wusste, dass mindestens noch eins folgen würde. Wenn nicht mehr.
Wilhelm legte den Brief beiseite und schaute Frau Herzog mit sorgenvollen Blicken an. Er hatte das Wort „Fahrradphantom“ gelesen, welches ihn seit dem Sommer mehr verfolgte als jeden anderen, der damit zu tun hatte. In einem Waldstück im Ittertal hatte er damals, an einem Julinachmittag, seinem eigenen Enkel in die Wade geschossen, jenem Enkel, der in den Wochen zuvor wie ein Phantom auf einem geklauten Fahrrad durch Solingen gegeistert war und einen brutalen Überfall nach dem nächsten begangen hatte. Zuerst hatte er Frau Herzog bei Zweirad Legewie an der Schützenstraße von einem HaiBike Xduro gestoßen, das sie sich eigentlich hatte kaufen wollen. Danach hatte er eine alte Frau und anschließend zwei Juweliere überfallen – dabei war er jeweils auf dem Fahrrad unterwegs gewesen. Und alles, um seine drogenkranke Freundin mit neuem Stoff zu versorgen. Und sich selbst, denn er war seit Jahren immer wieder abgeglitten.
Die Freundin war an jenem Tag in der alten Waldhütte, in der sich die beiden versteckt hatten, an einer Überdosis gestorben. Auch die alte Frau, die er in der Innenstadt überfallen hatte, lebte nicht mehr, sie hatte sich von den schweren Kopfverletzungen nicht mehr erholt. Wilhelms Enkel war kurz danach verurteilt worden. Schwerer Raub mit Todesfolge, fahrlässige Tötung, Raub und Körperverletzung in mehreren Fällen. Weil er vorbestraft war, würde er in den nächsten zehn Jahren wohl kaum etwas anderes sehen als den Gefängnisalltag in der JVA Remscheid. Dort saßen jene Straftäter, die nicht nach zwei oder drei Jahren wieder ihre Freiheit erlangten. Viele von ihnen hatten schreckliche Dinge getan. Womöglich waren sie sich schon begegnet, Wilhelms Enkel und – Kay Kramer, dessen Brief Rita jetzt noch einmal durchlas. Bevor sie sich an Frau Herzog wandte: „Du willst darauf nicht antworten, oder? Das willst du dir jetzt nicht auch noch antun, habe ich recht, Helene? Und überhaupt: Was fällt diesem Menschen ein, sich an dich zu wenden? Das ist ja wirklich eine Unverschämtheit.“
Wilhelm räusperte sich vernehmlich, seine Stimme klang dabei immer ein bisschen so wie die von Benjamin Blümchen in den Hörspielen, die Frau Herzogs Enkel oft mitbrachte, wenn er sie mal für ein Wochenende besuchte. „Also ich erinnere mich gut an den Fall, ich war damals auch einige Male im Gericht dabei. Und ich weiß, wie oft wir darüber diskutiert haben. Vor allem über den Absturz des Mannes. Der war einmal Professor für Sozialwissenschaften an der Uni Wuppertal, erinnerst du dich, Helene?“
Sie nickte. „Ja, aber er war auch ein einsamer Spieler, dem die Frau weggelaufen war, dessen Kinder irgendwann nichts mehr von ihm wissen wollten. Das haben sie damals vor Gericht alles ausgebreitet. Der hatte alles verloren, fing dann an zu trinken und landete schließlich in der Notunterkunft in der Innenstadt. Er ist auch Solinger, oder? Weißt du das noch, Wilhelm?“
„Ich meine ja. Jedenfalls weiß ich noch, dass wir damals beide der Meinung waren, dass der es nicht war.“
Rita hatte den beiden zugehört, jetzt konnte sie nicht mehr an sich halten. „Moment mal. Jetzt erinnere ich mich auch daran, du hattest damals viel über diese Geschichte geschrieben. Ist das nicht der Fall von diesem Alkoholiker, der ein halbes Jahr, bevor er umgebracht wurde, schon einmal mit einem Messer attackiert worden war?“
Frau Herzog nickte nachdenklich. „Ja. Es war aber nur eine Schnittwunde am Arm. Und der Witz ist: Damals war es wirklich Kramer. Das hat er sogar zugegeben, aber weil er zur Tatzeit volltrunken war und auch nicht geklärt werden konnte, wer damals diese Streiterei angefangen und ob er sich womöglich nur gewehrt hat, haben sie ihn freigesprochen.“
„Ja, aber … dann ist es doch eher wahrscheinlich, dass dieser Mann jetzt zu Recht im Gefängnis sitzt, oder?“
Wilhelm und Frau Herzog schauten einander an, sie mussten beide ein Grinsen verbergen. Rita merkte es. „Was glotzt ihr denn so? Ach, ist schon klar: Die schissige Rita wieder, die ist ja nur froh, wenn der Kerl weggesperrt ist und sich Helene auch ja nicht wieder irgendwo einmischt. Ja, bin ich auch. Der Richter wird damals schon genau gewusst haben, warum er den Typen in den Knast steckt. Und nach dieser Fahrradgeschichte im Sommer … du hättest damals sterben können, Helene.“
„Ach was.“ Nur gut, dachte sie, dass ich Rita nichts von diesem Schläger Tom erzählt habe, der meine Tochter verdroschen hat. Sie beschloss, das weiter für sich zu behalten. Sie wandte sich trotzdem an Rita: „Meinst du, mir ist wohl dabei, dass dieser Mann gerade mir schreibt? Ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich damit machen soll, mit diesem Brief.“
„Was, wenn er gar nicht echt ist? Wenn dich einer auf den Arm nehmen will?“
„Das kriegen wir heraus“, schaltete sich Wilhelm ein. „Du untersuchst den Brief, Rita. Den Chemiebaukasten hast du ja noch.“
Frau Herzog sah, wie Rita rot wurde. Ihr Gesicht nahm die Farbe ihrer Haare an. Frau Herzog goss sich schnell Wein nach.
„Sehr witzig, Wilhelm. Es ist kein Baukasten, es ist ein kleines Labor, weil ich diesen Spaß zufälligerweise einmal studiert habe, und wie du weißt auch heute noch gerne mal …“
Wilhelm legte seine Hand auf ihre. „Ist doch schon gut. Jedenfalls: Wenn du herausfindest, welche Fingerabdrücke da dran sind, reicht ein Anruf, vielleicht auch bei Hauptkommissar Roehler, und wir wissen es.“
„Den rufst du aber an, Wilhelm“, antwortete Frau Herzog, „auf mich ist der nicht so gut zu sprechen gerade.“ Sie bemerkte, dass Wilhelms Hand immer noch auf Ritas lag und dass beide auch keine Anstalten machten, daran etwas zu ändern.
Sie beschloss, dass sie genug hatte. Genug von diesem Tag, genug von diesem Wein, genug von diesem Brief. Genug von aufeinanderliegenden Händen.
Sie leerte das Glas in einem Zug, stand leicht schwankend auf und verabschiedete sich. „Wir mach’n das dann so. Du prüffssss … den Brief und ich … muss jetzt mal schlafen. Macht’s gut, ihr … Täubchen“, flötete sie, drehte sich zur Tür und bemerkte mit stiller Zufriedenheit aus dem Augenwinkel heraus, wie Rita ihre Hand unter Wilhelms wegzog.
Noch am Abend hatte Rita, die weit weniger Wein intus hatte als Helene, das Briefpapier untersucht. Es waren nur die Fingerabdrücke von einem unbekannten Mann daran zu finden. Selbst wenn der Brief von einem Justizvollzugsbeamten untersucht worden war, hatte dieser dabei Handschuhe getragen. Am nächsten Morgen rief Wilhelm zunächst in der JVA Remscheid an, dort kannte man ihn und bestätigte, dass Kay Kramer am Tag zuvor einen Brief verschickt hatte. Er musste es sein. So konnten sie sich wenigstens den Anruf bei Roehler sparen.
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Frau Herzog nippte am Espresso, schüttete etwas Zucker nach und amüsierte sich über das Solinger Wetter. Der August war eine völlige Katastrophe gewesen, der September hatte ihnen immerhin eine Art von bergischem Indian Summer beschert, und jetzt, Ende Oktober, war das Thermometer noch einmal auf über zwanzig Grad geklettert. Sie saß mit Rita im Café La Luna am Hofgarten, neben sich eine Tüte mit neuen Outdoorschuhen für den Herbst, der an diesem frühen Nachmittag eher einem Frühling glich. Rita löffelte ein riesiges Eis. Sie war eine absolute Eisfanatikerin und hatte immer auch eine große Packung im Gefrierschrank. Nichts ging ihr aber über einen großen Becher mit mindestens fünf Kugeln, Soße und Sahne. Wo sie das nur hinsteckte, fragte sich Frau Herzog. Sie selbst gönnte sich maximal ein Stückchen Schokolade am Tag und abends regelmäßig ihren geliebten Rotwein, alles andere ließ sie sofort auseinandergehen wie einen Hefeteig.
„Seitdem der damals mit seinem Fahrrad hier langgesaust ist, war ich nicht mehr hier, wusstest du das? Ergab sich irgendwie gar nicht“, begann sie.
„Da verpascht du aber escht wasch“, nuschelte Rita mit eisvollen Backen und schob schon den nächsten Löffel nach. Sie hatte hervorragende Tischmanieren, fand Frau Herzog, aber wenn man Rita ein Eis hinstellte, verwandelte sie sich binnen Sekunden in eine mampfende Fünfjährige. Prompt landete der nächste Löffel zur Hälfte auf ihrer Bluse. „Ach, verflikscht noch mal!“
Während Rita sich um rotes Erdbeereis auf weißem Baumwollstoff kümmerte, erlebte Frau Herzog ein Déjà-vu.
Von links knatterte etwas. Dieses Etwas kam langsam herangefahren und knatterte immer lauter, vor allem, weil dessen Fahrer trotz Leerlaufs und Schrittgeschwindigkeit ständig Gas gab. Kleine Kinder hielten sich die Ohren zu. Ein älterer Herr hob wütend den Stock und rief etwas. Der Fahrer aber grinste nur und ließ seinen schwarzen Golf, dessen Seitenschweller fast den Asphalt vor dem Hofgarten berührten, noch lauter knattern. Diesmal im ersten Gang, wodurch der Golf einen ordentlichen Satz machte und eine Gruppe von Mädchen erschreckte.
Frau Herzog sprang auf. „Da ist er! Da ist er!“
Ein älterer Mann hinter ihr sprang ebenfalls auf. „Wer denn? Und Sie sind … das ja schon wieder!“
„Ja, aber diesmal brauchen wir keine Polizei!“, rief Frau Herzog ihm zu und zog Rita am Ärmel. „Los, komm!“
Rita riss sich los und protestierte lautstark: „Wer denn? Ich hab hier noch mein halbes Eis, und …“
Sie warf einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch und nahm Rita bei der Hand. „Ich kauf dir nachher ein neues, Klein-Rita, und jetzt komm mit, wir müssen zu dem Golf da!“
„Was?“
Wortlos zog Frau Herzog ihre Freundin nach draußen, was den älteren Herrn vollkommen begeisterte: „Mensch, so eine wie Sie, Frau Herzog, das wär noch mal was für mich!“
„Sie kennen diese Frau?“, fragte die Kellnerin irritiert, als sie am Nachbartisch den Zehner einsammelte.
„Na klar, lesen Sie denn keine Zeitung?“
Frau Herzog musste kurz grinsen über den Alten, wurde aber gleich wieder sehr ernst, je näher sie dem Golf kam, der im Schritttempo durch die Bergstraße röhrte. Wieder gab der Fahrer Gas. So was kann er, dachte Frau Herzog. Gas geben und zuschlagen, das kann dieser Mistkerl. Der Mistkerl bemerkte sie nicht, denn neben dem Knattern dröhnte jetzt auch noch fürchterliche Hip-Hop-Musik durch den gesamten Innenraum.
„Wer ist denn der Typ?“, fragte Rita, als sie den Golf erreichten.
„Frag besser: Wer war er? Wenn ich mit dem fertig bin, ist er nicht mehr als eine Vergangenheitsform, das schwör ich dir. Ein Imperfekt auf zwei Beinen.“
Sie hämmerte mit der Faust gegen die Fensterscheibe der Beifahrertür und lief seitlich mit dem Golf mit. Keine Reaktion. Sie hämmerte fester, bis ihr die Fäuste schmerzten. Der Fahrer wippte nur im Takt seiner Musik, von der draußen nicht mehr als ein dumpfes Bumm-Tschick-Bumm-Bumm-Tschick-Bumm zu hören war. Frau Herzog schaute kurz auf ihre Stiefeletten. Die waren stabil, das konnte gehen. Mit voller Wucht trat sie gegen die Beifahrertür.
„Helene! Bist du wahnsinnig?“, entfuhr es Rita, die augenblicklich stehen blieb. Auch der Golf bremste abrupt ab. Und Tom, der Fahrer, der Exfreund ihrer Tochter, der Mann, der vor den Augen ihres Enkels so ausgerastet war, drehte sich mit wütendem Blick zu ihr um. Er erkannte Frau Herzog sofort. Er hupte, trat aufs Gas und hatte Glück, dass gerade niemand die Straße überquerte. Knatternd raste der Golf davon. Sie erstarrte und schaute dem davonrasenden Auto nach. Ihr Käfer stand im Hofgarten-Parkhaus. Bis sie da drin saß, war der Golf längst sonst wo. „Noch mal nicht, mein Freund!“, brüllte Frau Herzog. „Noch mal nicht!“
Sie rannte auf ein Taxi zu, das nicht weit entfernt stand. Schon wieder so ein Déjà-vu. „Aber … was machst du denn?“, rief Rita und lief ihr hilflos hinterher.
Frau Herzog riss die Beifahrertür des Taxis auf, setzte sich und rief: „Los, dem schwarzen Golf da hinter …“, doch in diesem Moment drehte sie sich zum Fahrer um und erkannte Yüksel, den Gelbphasenbremser, mit dem sie im Sommer das Fahrradphantom hatte verfolgen wollen, bis Yüksel an einer Ampel einfach angehalten hatte. Yüksel erkannte sie auch: „Nee, oder?“
„Ach du Schande, der Yüksel.“
Rita riss hinten die Tür auf und nahm Platz: „Kann mir vielleicht mal einer erklären, was das hier …“
„Da bist du ja, Rita!“, begrüßte Frau Herzog sie. „Das ist Yüksel. Taxifahrer und Angsthase.“
„Ey, was? Ich bin überhaupt kein …“
„Ihr kennt euch?“ Rita legte ihre Tasche zur Seite und verstand überhaupt nichts mehr.
„Ist jetzt auch nicht so wichtig“, wiegelte Frau Herzog ab und sah, wie der schwarze Golf langsam verschwand. „Also, Yüksel, zweite Chance: Sind Sie bereit für eine kleine Ausfahrt?“
Yüksel startete den Mercedes und trat so heftig aufs Gas, dass Frau Herzog und Rita in die Sitze gedrückt wurden. „Aber so was von, Alter.“
„Alte, wenn schon.“
Nach wenigen Sekunden hatten sie den Golf wieder in Sichtweite. Er fuhr am C&A vorbei die Bergstraße hinunter, bog nach links in die Heinestraße und von dort gleich wieder links in die Straße Am Neumarkt ab. Ein Kreisel, den Yüksel schon gefühlte tausend Mal gefahren war, aber noch nie so schnell wie jetzt. Yüksel bog hinter dem Golf scharf rechts ab in die Peter-Knecht-Straße. Die Sparkassen-Hauptgeschäftsstelle erschien, und mit quietschenden Reifen bogen beide nach rechts ab in die Kölner Straße in Richtung Post. Auf den nächsten paar hundert Metern passierte der Taxifahrer gleich drei Ampeln bei Dunkelgelb, um dranzubleiben. „Geht doch, Yüksel, geht doch!“
„Ja, Frau Herzog, ich hab das Taxi jetzt auch übernommen. Bin keine Aushilfe mehr. Sagen Sie mir, wen wir da verfolgen?“
„Den Mistkerl, der meine Tochter verdroschen hat.“
„Bitte – was tun wir?“, schrie Rita von der Rückbank aus. „Ich will hier raus. Sofort.“
„Dann fährt der uns weg, wenn ich jetzt anhalte“, rief Yüksel über die Schulter nach hinten.
„Nix anhalten, Sie fahren schön weiter, Yüksel. Ich zahl auch drauf, mir ganz egal.“ Sie drehte sich zu Rita um. „Wir waren kaum aus Berlin zurück, da ruft Charlotte an. Der Kerl hat sie grün und blau geschlagen, vor den Augen des Kleinen. Ich hab letzte Woche schon zweimal versucht, ihn zu finden und zur Rede zu stellen … oder sonst was. Keine Chance. Und sie traut sich ja nicht mal, die Polizei zu rufen. Aber jetzt ist Feierabend, Rita, jetzt lernt der mich kennen.“
Rita schüttelte fassungslos den Kopf. „Das ist … Selbstjustiz! Du kannst den doch nicht durch die halbe Stadt verfolgen!“
Inzwischen hatten sie das Zwillingswerk passiert und rasten die Grünewalder Straße entlang. „Oh doch, das kann ich, Rita. Und wenn er schlau ist, dann hält er gleich irgendwo an und stellt sich mir.“
Aber er hielt nicht an. Er preschte mit fast achtzig Sachen in seinem schwarzen Golf über die Grünewalder Straße, vorbei an anhaltenden O-Bussen und über dunkelgelbe Ampeln. Yüksel hielt mit, so gut es ging, und vergaß, dass er gerade seine Lizenz riskierte. Gelbphasenbremser würde ihn keiner mehr nennen.
„Sie machen das gut, Yüksel. Immer ein bisschen Abstand halten“, lobte Frau Herzog.
Hinten fasste sich Rita nur an den Kopf. „Gut? Also … wenn das hier vorbei ist, Helene, dann … brauchst du mir die nächsten Wochen erst mal mit nix mehr zu kommen. Mit nix mehr, hörst du, Helene?“
„Ja, geschenkt. Ich bin trotzdem froh, dass du dabei bist.“ Sie wusste nicht, warum sie jetzt so eine Floskel losließ. Ihr wäre es lieber gewesen, auf die rothaarige Nörglerin auf der Rückbank zu verzichten.
Sie erreichten die Neuenkamper Straße, die Häuser wurden kleiner, dann weniger, bald waren sie umgeben von Feld und Wald. Am Ende einer langen Geraden tauchte kurz vor einer Kurve ein Traktor auf. Er fuhr sehr langsam.
Die Nörglerin meldete sich: „Wenn er den jetzt überholt, Helene … da vorne wird es so kurvig, dann war es das. Dann ist der weg. Helene, hast du das begriffen? Yüksel, das können Sie nicht machen! Ich warne Sie! Ich … ich zeige Sie an!“
Frau Herzog rollte mit den Augen, während der Golf vor ihnen den tuckernden Traktor beinahe erreicht hatte, fast auf Höhe der Hofschaft Neuenhaus. Der Golf knatterte jetzt direkt hinter dem Traktor her. Die B 229 verlief an dieser Stelle Richtung Aufderhöhe nur einspurig, die doppelspurige Gegenfahrbahn war gleich mit zwei durchgezogenen Linien abgetrennt. Es knatterte wieder. Das Taxi hatte den Golf längst erreicht. Frau Herzog drückte die Hupe. Yüksel zuckte zusammen. „Jetzt halt doch an, Mensch, komm doch zur Vernunft!“, schrie sie die Scheibe an.
Ein Wagen nach dem anderen raste ihnen auf den beiden Gegenspuren entgegen. Wer nach Solingen rein wollte, gab hier schon einmal Gas. Erst ein alter BMW. Dann ein neuer Opel. Danach ein Kastenwagen.
Dann keiner mehr.
Ein Knattern, und plötzlich röhrte es heiser auf. Der Golf zog nach links weg und am Traktor vorbei.
„Über die durchgezogenen Linien! Der ist wahnsinnig!“, schrie Rita von hinten.
„Was machen wir?“, fragte Yüksel, ohne zur Seite zu schauen. „Soll ich auch?“
Aber Frau Herzog schüttelte nur den Kopf. „Nein. Nein, nicht hier. Wir warten. Entweder, wir erwischen ihn gleich noch, oder das war’s … schon wieder … verdammt noch mal.“
Sie hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als zuerst ein schräges Quietschen und dann ein lauter Knall ertönte.
Der Traktor tuckerte noch ein Stück weiter und blieb dann stehen.
Auch der blaue Van, in dem eine Mutter mit ihren drei Kindern saß, stand. Die Kinder darin weinten, die Mutter starrte versteinert aus dem Fenster ins Leere.
Links neben ihr, wo ein kurzer Feldweg abging, der an einer großen Tanne endete, lag etwas, das vor ein paar Sekunden noch ein Auto gewesen war.
Jetzt war es ein großer schwarzer qualmender Haufen Blech.
In dem undefinierbaren Haufen saß eingeklemmt ein Mann, der in der nächsten Zeit niemanden mehr schlagen würde. Weil er froh war, überhaupt noch am Leben zu sein.
Rita schlug die Hände vors Gesicht, als sie den völlig zerstörten Golf dort am Baum zerschellt stehen sah. „Das war’s, der kommt doch niemals da raus! Mein Gott, wir haben den Mann in den Tod getrieben!“, schluchzte sie.
Yüksel stellte das Taxi am Straßenrand ab und rannte sofort zu dem Autowrack hinüber. Gemeinsam mit dem Traktorfahrer zog er an der Tür, bekam sie aber nicht auf und rief dem Fahrer irgendetwas zu, das Frau Herzog nicht verstand. Während Yüksel Krankenwagen und Feuerwehr rief, rannte Frau Herzog auf den blauen Van zu, der Sekunden zuvor genau das eine entgegenkommende Fahrzeug zu viel gewesen war. Der Wagen hatte keinen Kratzer, offensichtlich war der schwarze Golf, in Ermangelung von Möglichkeiten, ihm ausgewichen, dabei über die Gegenspuren von der Straße geschossen und dann am Baum zerschellt.
Sie stieg zu der Frau und den Kindern ins Auto und stellte fest, dass alle unverletzt, aber völlig schockiert waren. Sie mussten hier weg. Sie brachte die Familie zu Yüksels Taxi, aus welchem Rita nur langsam ausstieg. Schweigend und kopfschüttelnd trat sie an den Straßenrand.
Während Yüksel und der Traktorfahrer versuchten, dem schwerverletzt wimmernden Tom irgendwie gut zuzureden, und Frau Herzog die Familie aus dem blauen Van halbwegs beruhigt hatte, eruierte sie Möglichkeiten.
Natürlich war sie zu weit gegangen. Das ärgerte sie: dass ihre eigene Wut das Kommando übernommen hatte. Yüksel war mitgezogen, klar, er hatte das als Herausforderung betrachtet.
Andererseits verspürte sie nur wenig Mitleid mit dem Schwerverletzten, denn immer wenn sie zu dem Autowrack sah, hatte sie auch das Bild ihrer Tochter und ihres Enkels vor Augen.
Was sie bereute, war, dass sie ihn jetzt nicht mehr zur Rede stellen konnte. Vielleicht nie mehr.
Es blieb Rita.
Während die eintreffenden Polizisten zunächst die B 229 komplett sperrten und sich dann um die Familie aus dem blauen Van kümmerten, ihre Kollegen den Unfall aufnahmen und die Feuerwehr mit schwerem Gerät den verletzten Tom aus den Resten seines schwarzen Golfs heraussägte, hockte sie sich neben Rita an den Straßenrand. Kurz zuvor hatte sie sich einer Polizistin als „Zeugin, die zufällig in einem Taxi dahinter war“ verkauft. Rita hatte es mitbekommen und nur noch heftiger mit dem Kopf geschüttelt, was der Polizistin zum Glück entgangen war.
„Keiner kann uns was“, murmelte Frau Herzog nur, und das so leise, als spreche sie mit sich selbst.
„Ach nein? Und wenn nur irgendeiner zwischen Sparkasse und hier das Kennzeichen des Taxis aufgeschrieben hat? Oder ein Polizist in Zivil uns gesehen hat und gleich hier aufläuft?“
Frau Herzog machte eine abwehrende Handbewegung. „Der wäre doch längst hier. Mal ganz ehrlich, Rita: Wie oft rasen Autos durch die Stadt? Wer wird denn erwischt? Doch nur die, die einmal in fünf Jahren einen schlechten Tag haben und ein bisschen Gas geben. Und die fahren dann gleich dreimal am selben Tag in immer andere Blitzen und geben prompt ihren Lappen ab.“
Rita schaute sie aus feindseligen Augen an: „Du machst es dir so einfach. Wenn wir dem nicht nachgejagt wären … wegen … wegen … deiner Fehde da, dann wäre dieser ganze Mist hier doch gar nicht passiert.“
„Der Kerl ist ein brutaler Schläger. Er hat mich erkannt. Er hätte ja anhalten können.“
Rita lächelte bitter. „Du begreifst es nicht, oder? Das geht mich nichts an! Warum hast du mich nicht einfach da stehen lassen?“
„Wieso? Du bist doch freiwillig eingestiegen!“
„Ach so! Ich hätte also ahnen müssen, dass du mich zu einer Verfolgungsjagd durch Solingen einlädst! Ja, danke schön!“
Frau Herzog fiel nichts mehr ein. Sie wusste, dass Rita Recht hatte. Sie zu bitten, ein paar Fingerabdrücke zu überprüfen oder auch mal an einem möglichen Tatort zu recherchieren, das war die eine Sache. Aber dies hier war eine ganz andere. Genauso wie ihr Radausflug ins Ittertal im Sommer eine ganz andere gewesen war.
Sie schloss die Augen. „Es tut mir leid, Rita. Wirklich.“
„Kannst du dir sparen.“ Rita stand auf und beobachtete, dass die Polizisten mit Yüksel offenbar fertig waren und ihm dankten. Er hatte kein Wort über die Verfolgungsjagd verloren. Rita ging langsam auf ihn zu. „Ich hasse mich dafür, dass ich das jetzt sage, Herr Yüksel, aber: Ich bräuchte ein Taxi.“ Er nickte schweigend und blickte zu Frau Herzog. Rita bemerkte es und schaute ebenfalls zu ihr hin. „Nee, Herr Yüksel. Die geht zu Fuß. Ist locker eine Dreiviertelstunde bis in die Stadt. Und bis nach Hause erst. Stimmt’s, Helene? Da bleibt viel Zeit zum Nachdenken.“
Gut, dass Rita ihr noch die Tüte mit den neuen Outdoorschuhen zugeworfen hatte. Sie zog sie an, lief den Weg zurück und dachte wirklich die ganze Zeit nach. Zum Beispiel darüber, wohin sie den schwerverletzten Tom nun wohl bringen würden. In die St. Lukas Klinik? Oder aber ins Städtische Klinikum? Dort wiederum arbeitete Charlotte seit ein paar Monaten als Krankenschwester auf der Intensivstation. Sie war extra von Wuppertal nach Solingen gewechselt, als sich die Gelegenheit ergab, um nicht mehr diese langen Wege fahren zu müssen. Was, wenn sie jetzt genau den Mann versorgen musste, der sie noch vor ein paar Tagen verprügelt hatte? Was, wenn er ihr erzählte, wie dieser Unfall zustande gekommen war? Dass sie ihn verfolgt hatte? Was, wenn er das sonst irgendwem erzählte? Sicher, sie hatten zu dritt in dem Taxi gesessen, und behaupten konnte einer immer viel. Glauben würde man ihm wohl kaum. Trotzdem: Diese Geschichte war noch nicht zu Ende. Sie beschloss, abzuwarten. Auf keinen Fall würde sie Charlotte von sich aus auch nur ein Wort erzählen.
Rita, da war Frau Herzog sicher, würde sich schon wieder beruhigen. Schneller, als sie selbst das wollte, das wusste sie. Was hatte sie sich im Sommer aufgeregt, als sie von Frau Herzogs Husarenritt im Ittertal erfahren hatte. Ein paar Tage später schien sie es schon wieder vergessen zu haben, wärmte es aber gerne bei jeder Gelegenheit so theatralisch wie nur möglich auf. Trotzdem: Rita hatte Recht. Sie hätte sie am Hofgarten zurücklassen sollen. Rita war für so eine Aktion wie die von gerade eben nicht gemacht. Was für ein Sensibelchen. Sie überlegte, ob sie künftig mehr Zeit mit Wilhelm verbringen sollte. Um ihn, wenn es darauf ankam, an ihrer Seite zu haben. Nur war Wilhelm, was ihre kleinen Recherchen und Ermittlungen zwischendurch anging, noch korrekter und strenger mit ihr als Rita. Ein Kommissar eben. Und? Als hätte er nicht mit allen Trümpfen gespielt, als er noch im Dienst war. Als sei er nicht mit allen Wassern gewaschen gewesen.
Hatte es sie gestört, wie er seine Hand auf Ritas legte? Und dass sie liegen blieb? Ja, es hatte sie gestört. Nicht, dass sie für Wilhelm in irgendeiner Weise … ach, was für blöde Gedanken. Sie schob sie weg. Sollten die beiden auf ihre alten Tage mal schön turteln.
Sie hatte genug anderes um die Ohren.
Frau Herzog hatte die Hauptpost fast erreicht, als sie ihr Handy aus der Tasche nahm.
Sie wählte die Nummer von Hauptkommissar Dieter Roehlers Büro. Sie ahnte, wer abnehmen würde.
„Büro von Hauptkommissar Dieter Roehler, mein Name ist Elvira Patmos, was kann ich für Sie tun?“
„Tach, ist er da?“
„Mit wem spreche ich denn da bitte?“
„Frau Patmos, Sie wissen, wer ich bin. Und ich habe gerade nicht genügend Luft für lange Reden, also bitte: Ist er da?“
„Dass Ihr Benehmen nicht gerade höflich, nein, im eigentlichen Sinne sogar unsäglich ist und ich mich von Ihnen wirklich langsam gedemütigt fühle, ist Ihnen klar?“ Jetzt machte die Patmos schon auf Mitleid. So weit hatte Frau Herzog es nun auch nicht kommen lassen wollen.
„Frau Patmos, es tut mir unendlich leid, wenn ich Sie nicht jedes Mal durch den Hörer hindurch beknie, aber: Ich hätte ihn gerne gesprochen. Ginge das?“ Sie stand vor dem Postgebäude.
„Natürlich, er hat gerade Zeit. Ich verbinde.“
„Und dafür musste ich jetzt … so einen Aufwand mit Ihnen betreiben? Oh Mann.“
„Jetzt werden Sie nicht gleich wieder gemein, Frau Herzog. Also: Ich lege jetzt auf.“
Es dudelte einen Moment lang, noch schlimmer als in der Redaktion, fand sie.
„Roehler.“
„Kann ich kurz vorbeikommen?“
„Sie? Sie dürfen sich gerne einen Termin geben lassen …“
„Frau Patmos sagte, Sie sind jetzt da. Ich auch gleich. In zwei Minuten, ja? Sie kann ja schon mal neuen Kaffee kochen.“
Es waren nur ein paar Schritte bis zur Polizeiinspektion an der Kölner Straße. Sie hatte Frau Patmos lange nicht gesehen, und allein die Tatsache, dass sie mit ihren halblangen grauen Haaren, dem Rüschenblüschen und ihrer blauen Strickjacke mindestens fünf Jahre älter wirkte als sie selbst, war ihr eine Genugtuung.
„Haben Sie dem Herrn Kommissar Schuhe mitgebracht?“, fragte Frau Patmos und grinste durch ihre dicke Nickelbrille ziemlich bräsig auf die Tüte in Frau Herzogs Hand.
„Ja, damit er Ihnen mal wieder ordentlich in den Hintern treten kann, wenn Sie am Telefon fast einschlafen.“
„Also, das ist doch … jetzt reicht es mir aber …!“
„Ich geh dann mal zu ihm rein.“
Frau Patmos griff bereits dienstbeflissen zum Hörer. „Nein, ich melde Sie erst an.“
„Er wartet schon. Machen Sie lieber Kaffee.“
Dieter Roehler zog die Augenbrauen hoch, als sie eintrat. Sie hatten sich seit dem Sommer nicht mehr gesprochen, geschweige denn gesehen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.