Kitabı oku: «Einfach.Nur.Tom.», sayfa 4

Yazı tipi:

„Also was?“, frage ich wachsam. Ich bin mir viel zu unsicher, über welche Teile des Chaos, das durch meinen Kopf schwirrt, ich bereit bin zu reden.

„Deine Frau …“

„Verlobte!“

„Deine Verlobte …“

„Ex-Verlobte!“

Er reißt die Arme nach oben und rollt mit den Augen. „Ernsthaft? SIE hat dich rausgeschmissen, weil sie denkt, du vögelst fremd? Richtig?“ Ich mag den Anblick, wenn er ein wenig die Kontrolle verliert, er stellt seltsame Dinge in meinem Inneren an. Mir ist völlig klar, dass das meine Probleme auch nicht gerade verkleinert.

„Auch … Wir haben schon eine ganze Weile eine Krise. Sam ist erst seit zwei Wochen meine Partnerin. Mein letzter Partner ist vor etwa zwei Monaten im Einsatz gestorben, kurz vor diesem Banküberfall. Seitdem hat sie mich als ihren Patienten behandelt … Das konnte nicht ewig gut gehen.“ Selbst das fühlt sich wie eine Halbwahrheit an, aber es kommt der Wahrheit nah genug.

Die Tatsache, dass ich anscheinend das Bedürfnis habe, meine Seele vor Tom auszubreiten, ist besorgniserregend. Viel mehr als meine unwillkommene physische Reaktion auf ihn.

Tom sieht mich eine Sekunde lang an, seinen Blick weiß ich nicht zu deuten. Als er spricht, bin ich ihm dankbar, dass er sich die Beileidsbekundungen spart, die ich schon zu oft gehört habe. „Ist sie Psychologin?“

„Wenn es mal so wäre, dann wäre sie vielleicht subtiler gewesen.“ Oder aber, sie hätte meine wahren Probleme erkannt. Bei dem Gedanken läuft mir ein Schauer über den Rücken. Mir wird klar, dass ich überhaupt nicht will, dass Kelly meine Geheimnisse kennt. Vielleicht waren wir einfach nie als Paar geschaffen.

Eigentlich bevorzuge ich eher Müsli oder Porridge zum Frühstück. Was das Essen betrifft, bin ich für gewöhnlich sehr wählerisch. Aber einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Also esse ich mein Rührei und eine Scheibe Toast, den Speck jedoch sortiere ich sorgfältig an die Seite, ich glaube nicht, dass mein Magen bereit ist, diesen momentan zu verdauen. Tom sagt nichts dazu, obwohl er es sicher registriert.

Überhaupt wundert mich Toms Freundlichkeit, nach meinem Ausflipper beim Aufwachen könnte ich es durchaus verstehen, wenn er mich direkt vor die Tür gesetzt hätte. Er beobachtet mich wachsam und schweigend eine ganze Weile. Er scheint über etwas nachzudenken. Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, schweigen wir beide. Seltsamerweise fühlt sich unser Schweigen nicht peinlich an.

„Du kannst eine Weile in einem Gästezimmer pennen, unterm Dach. Hat auch ein eigenes Bad. Also, ähm … Das soll keine Anmache sein. Ich will nur helfen.“

Ich starre ihn völlig verdattert an. „Ernsthaft?“

„Nein, war ein Scherz … ich habe nur ein Kellerverlies anzubieten.“ Er gibt den Kommentar so trocken ab, dass ich ihn nicht sofort zuzuordnen weiß. „Natürlich ist das mein Ernst! Ich denke, einen Serienmörder zu fangen ist wichtiger als Wohnungssuche.“ Seine Worte sind so pragmatisch, als wäre es völlig normal, einen Fremden in sein Haus einzuladen, nachdem dieser seinen Mageninhalt in seinem Klo entsorgt hat.

Aber wir sind keine Fremden, oder? Wir sollten es sein, Tom fühlt sich jedoch vertraut an. Das sind nur diese dummen Träume schuld, ganz sicher! Ich weiß praktisch nichts über ihn. Nur, dass er freundlich ist, viel zu freundlich … Er hat ein fotografisches Gedächtnis, talentierte, feingliedrige Hände, er nimmt seine Rolle als rechtschaffener Bürger ernst, er kümmert sich um verwirrte und verkaterte, heterosexuelle Polizisten, die seinen Oberkörper definitiv nicht so anziehend finden sollten. Nein, ich weiß nichts über ihn, offensichtlich!

Ich räuspere mich. „Also das mit dem Serienmörder, das ist mir vorhin rausgerutscht … Wir haben laufende Ermittlungen und das sollte nicht gerade an die große Glocke gehängt werden, verstehst du?“

„Ok, kein Ding!“ Er zuckt beiläufig mit den Schultern. „Also, willst du das Gästezimmer oder nicht? Noch einmal frage ich nicht.“ Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck sagt mir, dass der letzte Satz gelogen ist.

Ich nicke, noch halb fassungslos von dem Angebot. „Danke Mann! Bist schwer in Ordnung.“ Ich habe irgendwie das Gefühl, das war es nicht, was er gerne gehört hätte. Aber mein eigener gedanklicher Aufruhr hält mich genug beschäftigt, außerdem ist da eine laute Alarmglocke in meinem Kopf, die es für eine ganz blöde Idee hält, unter einem Dach mit Tom Parker zu schlafen.

„Danke Tom Thomas Tommy Parker!“, füge ich schließlich leise hinzu, ohne zu wissen, was mich das sagen lässt. Ich kenne seinen richtigen Namen längst. Thomas Parker, 30 Jahre alt, wohnhaft in Santa Monica. Selbst seine Anschrift hat sich in mein Gehirn eingebrannt, neben jedem anderen Moment unseres Gesprächs vor zwei Monaten … Ein Gespräch, das zu einer der schnellsten Festnahmen des Jahres geführt hat, weil Deeks den Mann auf dem Profilbild erkannt hat. Nicht einmal die Beute hatten sie versteckt.

Und Tom hatte nur gebeten, seinen Namen aus der Presse zu halten. Dabei war die Festnahme sein Verdienst. Bescheiden ist er also auch. Und offenbar genauso wohlhabend, wie der Name Santa Monica verspricht. Alles an diesem Haus ist riesig. Die Küche hat Buntglasfenster zu den Nebenräumen hin, und eine Durchreiche lässt mich in ein Wohn- und Esszimmer blicken, das tatsächlich eine Bar besitzt. Ich komme mir hier ein wenig fehl am Platze vor, was die Alarmglocke in meinem Kopf nicht leiser werden lässt.

Nach seinem Geständnis vorhin fällt es mir auch nicht schwer, dahinter zu kommen, was ihn bei unserer Begrüßung in der Bank so sehr aus der Fassung gebracht hat. Jedenfalls so sehr, dass er sich bei seinem Namen versprochen hat. Ach ja? Und was hat mich so aus der Fassung gebracht?

„Einfach. Nur. Tom.“ Seine Worte sind halb geknurrt, und ich finde es hinreißend … Mein Blick bleibt an seinem Gesicht kleben, das mich in meinen Träumen verfolgt. Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Morgen. Scheiße!

***

„Darf ich fragen, was dich in diese Wohngegend verschlagen hat? Was macht deine Verlobte doch gleich beruflich? Hier draußen kann sich ein ehrlicher Cop jedenfalls eigentlich keine Unterkunft leisten.“ Ihr Blick ist abschätzend und sie rümpft die Nase, als ich in ihr Auto einsteige. OK, wahrscheinlich hätte ich besser ein Uber genommen und mir erst meine Zahnbürste aus meinem Auto besorgt. Tom hatte leider keine überzählige Zahnbürste auf Lager. ‚Wie gesagt, es kommt nicht oft vor, dass jemand neben mir aufwacht‘, seine Antwort scheint mir schwer vorstellbar, es sei denn, der Rest der Welt ist blind.

Nun ja, ich habe gestern beschlossen Sam zu mögen, aber ich habe nicht das geringste Bedürfnis, ihr von meinem nächtlichen Abenteuer zu berichten. „Kelly hat mich vor die Tür gesetzt, ich habe bei einem, ähm, Bekannten übernachtet.“ Der Begriff Bekannter rollt mir quer von der Zunge, aber mir will nichts Passenderes einfallen.

„Wieso zum Geier hat sie das getan?“

„Sie denkt, ich schlafe mit dir!“

„WAS?!“ Ich bewundere sie dafür, dass sie mitten im morgendlichen Berufsverkehr keine Vollbremsung macht. „Hast du ihr einen Grund für den Verdacht gegeben?“

„Himmel nein! Ich habe keinen Schimmer. Wir hatten schon eine Weile eine Krise, ja … Aber deswegen gehe ich noch längst nicht fremd.“ Überhaupt scheinen ihre Bedürfnisse intimer Natur viel intensiver zu sein, als meine. Wenn ich darüber schon gerade einmal nachdenke. „Und ich habe mich höchstens darüber beschwert, dass ich mit Barbie arbeiten muss.“ Ich lenke schnell ein, bevor ich sie noch mehr gegen mich aufbringe. „Das war, bevor ich gemerkt habe, dass du eine gute Polizistin bist, OK?“

„Klasse!“ Es ist nicht zu erkennen, ob sie sauer ist, und wenn ja, über welchen Teil meiner Aussage. „Ist das der Grund für die Fahne?“

„Ich …“

„Schon gut, ist verständlich. Würde Frank mich mit so einem Vorwurf vor die Tür setzen, würde meine Vernunft wohl auch aussetzen.“ Sie wirft mir einen Blick zu. „Bist du fit?“

„Ja, mein Bekannter hat mich mit Kaffee, Aspirin und Rührei versorgt. Können wir eventuell am Louie‘s halten, ich brauche ein paar Sachen aus meinem Kofferraum.“ Allen voran meine Zahnbürste.

„Klar!“ Sie konzentriert sich eine Weile nur auf die Straße, bevor sie fortfährt. „Im Gegensatz zu dir habe ich gestern noch ein wenig recherchiert. Ich habe mit Logan, einem Kollegen von der Akademie, in Portland telefoniert. Wir haben anscheinend in den richtigen Ameisenhaufen gestochen.“

„Inwiefern?“ Ihren Seitenhieb ignoriere ich. Wer den Schaden hat, braucht ja bekanntlich nicht für den Spott zu sorgen. Erst recht, wenn er ihn selbst verursacht hat.

„Es ist wohl bislang nicht aufgefallen, weil es keine Zusammenhänge zwischen den anderen Taten gab, beziehungsweise, weil nicht alle Frauen eine Anzeige erstattet haben. Aber es ist jetzt definitiv kein Zufall mehr.“

„Was ist kein Zufall? Und welche anderen Taten meinst du?“ Meine Stimme ist tonlos, weil ich irgendwie ahne, dass ich lieber nicht hören würde, was als Nächstes kommt.

„Zwei der Opfer aus Portland sind zuvor Opfer einer Vergewaltigung geworden, die sie angezeigt haben. Soweit stand das auch in den Fallakten. Es ist mir eingefallen, als wir bei Nancy waren. Eine war in Behandlung bei einer Psychologin, die auf Missbrauchsopfer spezialisiert ist. Eine der anderen Frauen war Mitglied in einem Opferschutzverein und in einer Akte steht die Diagnose PTBS, die Frau war allerdings vorher bei der Army, weswegen nicht klar ist, worauf sich die Diagnose bezieht. Das haben Logan und ich heute Nacht festgestellt.“

Scheiße! Mein Kopf transportiert mich unwillkürlich zurück zu meinem Albtraum von heute Morgen. Verdammte Erinnerungstrigger!

„Bei Opfer Nummer vier ist nichts zu finden gewesen, aber das heißt nichts“, Sam redet ungerührt weiter, während meine Eingeweide beginnen, sich von Neuem umzudrehen. So ist das bei mir. Andere Opfer entwickeln Panikattacken, Agoraphobie oder werden zu Bettnässern. Ich kotze einfach. Ich schätze, ich kann mich glücklich schätzen mit dieser Macke. Nur, dass ich inzwischen ein Cop bin und dachte, dieses Problem läge mindestens dreizehn Jahre zurück.

„Halt an!“, sage ich erstickt, und sie gehorcht nach einem kurzen Blick auf mein Gesicht.

Während ich mein Frühstück am Seitenstreifen entsorge, beäugt sie mich mit einer Mischung aus Skepsis und Sorge, wenn ich ihren Blick richtig deute. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wissen will, was sie gerade denkt.

Wir schweigen auf der restlichen Fahrt und ich vermeide es sorgfältig, sie anzusehen.

Am Louie‘s angekommen krame ich umständlich in meinem Kofferraum nach meiner Zahnbürste, da ich nicht weiß, in welche Tasche Kelly sie gesteckt hat. Schließlich finde ich zusätzlich eine Flasche Wasser und meine Zahnpasta und beschließe, sofort etwas gegen den Geschmack in meinem Mundraum zu unternehmen. Sam scheint nichts dagegen einzuwenden zu haben.

Dann öffne ich die Kiste mit den Andenken und hole einen alten Zeitungsartikel hinaus. In meinem Kopf formt sich so etwas wie ein Plan. Vielleicht sollte ich mir vorher nur Tabletten gegen Übelkeit besorgen.

„Besser?“, fragt sie schließlich, als ich wieder neben ihr auf den Beifahrersitz gleite. Ich habe die Flasche Wasser vorsorglich mitgenommen.

„Ja, besser.“

Sie macht jedoch keine Anstalten zu fahren.

„Wir können los.“ Ich würde diese Episode nur zu gerne hinter mir zurücklassen und mit dem Fall weitermachen.

„Das war wohl der Alkohol von gestern, nicht wahr?“

„Was sonst?“ Ich gebe mich so gelassen wie möglich.

„Und auf der Couch von Nancy Reddigan?“ Oh Fuck, natürlich hat sie mein seltsames Verhalten und meine Atemübungen bemerkt.

„Keine Ahnung, was du meinst.“

„Bullshit!“

„Sam, ich weiß nicht …“

Sie unterbricht mich. „Wenn einer von uns dem Fall nicht gewachsen ist, müssen wir ihn doch an das FBI abgeben. Woher soll ich wissen, was in deinem komplizierten Kopf vorgeht? Bis gestern hast du kein vernünftiges Wort mit mir gewechselt. Herrgott noch eins!“

Mickey Simmons kneift nicht, und Mickey Simmons hält ein, was er sagt.

„Ich bin dem Fall gewachsen. Wer von uns kommt frisch von der Akademie, du oder ich?“

„Ich hänge aber nicht kotzend am Straßenrand, sobald jemand Vergewaltigung sagt.“ Sie blickt besorgt, so als befürchte sie, die Erwähnung des Wortes führe tatsächlich zu einer Wiederholung der gerade beendeten Episode. „Und ich bin ebenso wenig wie du als Detective von der Akademie abgegangen. Ich habe auf Streife auch meinen Anteil gesehen. Also spar dir die schlauen Sprüche!“

Mein Bauch ist so leer, dass kaum die Möglichkeit dazu besteht, weiteren Inhalt auszuspeien. Außerdem bin ich gerade mit Adrenalin vollgepumpt, das hilft.

„Ich habe schon genug andere Fälle mit einem Zusammenhang zu Sexualstraftaten bearbeitet.“ Nicht jeder Mordfall hat diesen Aspekt, aber es gab einige in den letzten fünf Jahren.

„Dann sag mir, was an diesem Fall anders ist, verdammt!“

Ich weiß es selbst nicht. Ist es, weil es ein Serientäter ist? Oder ist es der LGBTQ-Zusammenhang? Nichts davon ist für sich gesehen neu für mich.

„Nichts! Nichts an diesem gottverdammten Fall ist anders!“ Ich fahre mir durch die Haare, die heute ungebändigt bleiben, weil ich bei Tom kein Haargel hatte. Ohne, dass ich es will, driften meine Gedanken zu ihm zurück, zu unserem seltsamen Gespräch in seinem Bad, zu seinem Körper. Wie zum Teufel kann mein Gehirn mich gerade jetzt gerade daran erinnern? Fuck! Es ist wirklich keine gute Idee in seinem Gästezimmer zu übernachten. „Ich … Ich bin anders.“

Der Polizist Mickey Simmons beginnt allerdings, mein eigenes Verhalten zu analysieren, begreift allmählich, was ich mich noch weigere zu sehen. „In meinem Leben herrscht seit Monaten das völlige Chaos … dabei sind alte Geschichten aufgerissen, Dinge, von denen ich dachte, dass sie längst erledigt sind.“

Sam beäugt mich stumm, ja, so fühlt sich das wohl an auf der anderen Seite des Verhörtisches … Danke für diesen überaus unnötigen Perspektivwechsel! Schließlich atme ich lautstark aus. Ich nehme den Zeitungsartikel, den ich zuvor sorgfältig gefaltet habe, und schiebe ihn in ihre Hand, bevor ich wieder aussteige und unruhig hin- und hergehe. Momentan spüre ich zwar keine Übelkeit, aber ich kann nicht einfach stillsitzen, während sie in meiner dunkelsten Vergangenheit herumwühlt.

ELFJÄHRIGER BRINGT SEINEN VERGEWALTIGER HINTER GITTER

Die Schlagzeile bringt es auf den Punkt, aber selbst der darauffolgende Artikel verrät nicht, was wirklich passiert ist. Meine Eltern, die mich für ihren Urlaub bei meinem Onkel geparkt haben, seine täglichen Besäufnisse, seine Hände und andere Dinge … Das steht nur in meinem Kopf. Ebenso wenig wie meine Flucht aus seinem Badezimmerfenster und der nächtliche Horrortrip in die Nachbarstadt, auch davon steht dort nichts.

In Ermangelung einer anderen Möglichkeit bin ich per Anhalter mit einem Lkw-Fahrer mitgefahren, mir der möglichen Gefahr mehr als bewusst. Gleichzeitig habe ich gedacht, was soll’s, es kann kaum schlimmer werden. Außerdem war meine Wut so groß, dass sie alles andere überschattet hat. Der Trucker war jedoch sehr freundlich und besorgt. An seinem Rückspiegel hing ein Foto von einer hübschen Frau und zwei kleinen Mädchen. Aus einem rätselhaften Grund habe ich sein Gesicht vergessen, das Bild jedoch ist mir genau in Erinnerung geblieben. Hätte ich nicht selbst darauf bestanden, dann hätte er mich ohnehin bei der Polizei abgeliefert. Hauptsache nicht in Nagsville, bei einem Sheriff, der mit meinem Onkel befreundet war.

Und der Artikel sagt auch nicht, wie es danach war, in Nagsville aufzuwachsen. Aber er erwähnt seine anderen Opfer. Missbrauch und Vergewaltigung in mindestens 30 Fällen, vermutlich deutlich mehr, über einen Zeitraum von vielen Jahren. Und alle schwiegen. Aber ich war wütend, ich war so unglaublich wütend. Ich habe nicht geschwiegen. Wenn ich daran denke, bin ich noch heute wütend, auf Onkel Michael, meine Eltern, eine Stadt, die sich zu lange weigerte hinzuschauen, Opfer, die schwiegen, Nachbarn, die die Augen und Ohren verschlossen hielten, Menschen, die mich stets mit einer Mischung aus Scham, Mitleid und Misstrauen betrachteten.

Sam steigt schließlich aus dem Wagen aus. Ihr Gesicht ist blass.

„Scheiße!“, sagt sie und umarmt mich. Ich lasse es mir steif gefallen, meine Gefühle liegen gerade ziemlich blank.

Dann setzt sie sich auf ihre Motorhaube und sieht mich gedankenverloren an. Ich kopiere ihre Geste auf meinem eigenen Wagen.

„Du willst den Fall wirklich durchziehen?“

„Ich habe damals nicht vor meinem Onkel gekniffen, ich werde es nicht jetzt vor seinem Geist tun“, schaffe ich mit einem schiefen Lächeln zu sagen. „Ich schätze, ich sollte immer Vomacur dabeihaben. Oder so etwas.“

„Das ist Wahnsinn …“

„Vielleicht, bist du dabei, Partner?“

Sie grinst jetzt. „Immerhin haben wir an einem Tag mehr herausgefunden, als das FBI in sechzehn Jahren.“

„Stimmt!“ Wir hatten eine besondere Perspektive und eine gehörige Portion Glück, trotzdem stimmt es.

Und ganz am Rande weiß Sam jetzt mehr über mich, als irgendein anderer Mensch in dieser Stadt. Was ich davon halten soll, weiß ich noch nicht so recht.

„Was jetzt?“

„Die Selbsthilfegruppe, aber wir sollten das getrennt machen. Diese Leute werden zwei fremden Polizeibeamten nicht trauen, mir noch weniger als dir.“ Der Plan gefällt mir selber nicht, aber ich bin trotzdem bereit ihn durchzuziehen.

„Wie meinst du das?“

„Die Gruppe richtet sich ausdrücklich nicht nur an Frauen. Michael Simmons wird sich Hilfe suchen …“ Ich atme tief durch, es fällt mir bis heute schwer, diesen Namen zu verwenden. „Aber ich schätze, vorher besuche ich tatsächlich eine Apotheke.“

***

Leider sind wir bis zum Treffen der Selbsthilfegruppe wirklich ziemlich machtlos. Zurück auf dem Revier finden wir zumindest ein paar Antworten auf Computeranfragen. Lilly Ann Parsons Eltern leben in New Jersey. Beamte von dort werden uns das Überbringen der Nachricht abnehmen. Ich kann auch nicht behaupten, dass ich wild darauf wäre, die Aufgabe selbst zu übernehmen, noch weniger am Telefon. Wir haben außerdem eine Akte über Lilly Ann Parsons Vergewaltigungsfall, die ich beschließe, nicht zu lesen. Gerne überlasse ich Sam das Vergnügen, während sie mir einen skeptisch besorgten Blick zuwirft, aber schweigt. Es gibt keinerlei Grund zu der Annahme, dass die genauen Umstände der Vergewaltigung mit dem Fall zusammenhängen. Ich sehe also keinen Sinn darin, meinen Magen erneut herauszufordern.

Außerdem bekommen wir die Bestätigung für Nancys Alibi, die Alibis für die restliche Clique ließen sich gestern bereits absichern. Der Besuch bei der Gerichtsmedizin bestätigt Sams Vermutung bezüglich der KO-Tropfen in den Cocktailgläsern, aber auf die endgültigen Ergebnisse der Autopsie müssen wir noch warten.

Was wissen wir über die Opfer? Wir beschäftigen uns am Nachmittag mit Mindmapping, sicherheitshalber während wir ein paar Minuten vom Revier entfernt im Bistro Villeneuve sitzen. Es ist nicht notwendig, dass irgendjemand darüber stolpert, was wir tatsächlich wissen.

„Alle sind Anfang zwanzig bis Anfang dreißig, lesbisch oder bi und haben lange braune Haare.“

„Und sind irgendwann einmal vergewaltigt oder missbraucht worden“, füge ich hinzu. Mir ist völlig klar, dass meine Partnerin diese Information bewusst ausgespart hat.

Ich habe mir mittlerweile vorsorglich den Magen mit Tabletten gegen Übelkeit und Reisekrankheit vollgepumpt. Dennoch halte ich mich an dem frischen Ingwertee fest, den sie hier anbieten, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Mein Bedarf an Kloschüssel-Kuscheln und Grünstreifendüngung ist für heute reichlich gedeckt.

Ich hasse meinen Onkel ein klein wenig mehr, weil ich selbst meinen, bereits sorgfältig gewählten, Speiseplan hinterfrage. Hier gibt es unter anderem auch einen hervorragenden Chicken-Hawaiisalat, den ich eigentlich liebe.

„Aber nicht alle Taten waren angezeigt oder im System verzeichnet. Und diese Taten haben keinen Zusammenhang zueinander.“ Sam sitzt, im Gegensatz zu mir, vor Kuchen und Latte Macchiato.

„Vielleicht geht es nicht um die Tat an sich? Die Opfer haben Hilfe bei der Verarbeitung des Traumas gesucht … das scheint bei allen gleich zu sein.“ Etwas, das ich bislang niemals getan habe. „Sie hatten nicht die Kraft, das Geschehene aus sich selbst heraus zu verarbeiten.“ Etwas, von dem ich wiederum bis vor Kurzem dachte, es sei mir vor langer Zeit bereits gelungen. Anscheinend bin ich ein Meister der Verdrängung.

„Wie weiß der Täter überhaupt, dass sie zu seiner Zielgruppe gehören? Die Taten waren teilweise im System, teilweise nicht, manche erfolgten in der Kindheit der Opfer, andere wenige Monate vor dem Mord?! Das erscheint völlig wahllos, sonst hätte das FBI das doch auch schon lange erfahren.“

Wir sehen uns an, als wir beide gleichzeitig einen Zusammenhang finden. „Er muss ein Teil des Hilfenetzwerks sein.“ Vielleicht werde ich ihm oder ihr bei dem Treffen nachher begegnen.

„Du musst da nicht Undercover reingehen, Mickey. Wir können die Leute auch einfach nach dem Treffen befragen. Wir haben gerade auch so bereits etwas Wichtiges festgestellt.“ Ja, der Fall läuft überraschend gut, ungeachtet dessen, dass er sich mit meinem persönlichen Mist verwurschtelt hat. Serientäter oder nicht, kein Captain würde uns den Fall überlassen, wenn er wüsste, was Sam inzwischen über mich weiß.

Ich hole tief Luft. „Sam, niemand in L.A. weiß von meiner Vergangenheit. Ich würde das auch gerne so lassen, OK?“ Mal davon abgesehen, dass ich in zwei Stunden in eine Selbsthilfegruppe marschiere, um genau darüber zu reden. Großartiger Plan, Mann!

„Sicher!“ Sie nickt. „Denkst du, ich posaune das auf dem Revier herum? Oder noch besser, erzähle es im Louie‘s?“ Sie macht ein missmutiges Gesicht. „Bros before Hoes, schon mal gehört, hmm?“ Ob ihr klar ist, wie widersprüchlich meine Aussage ist, lässt sie nicht durchblicken.

Ob das wirklich ein Fall für den Bro-Code ist, bin ich mir dabei ebenfalls so gar nicht sicher. Sei es drum, die Antwort lasse ich gelten.

***

Richard und Sandra, so stellen sich mir die Gruppenleiter vor. Beide sind Ende zwanzig und haben schwarze Locken.

Ihrer Haarpracht nach betrachte ich die beiden vorsichtig aber neugierig. Wie von dem Flyer erwünscht, bin ich zu meinem ersten Treffen etwas zu früh eingetroffen, um mich den beiden vorzustellen. Sie sehen sich sehr ähnlich, selbst für Geschwister. Unabhängig davon fragt sich ein Teil von mir, ob es einfach schwarze Locken sind, die mich magisch anziehen. Aber obwohl beide nach objektivem Maßstab attraktiv sind, bin ich mir sicher, dass ich keinen der zwei in meinen Träumen antreffen werde.

Sandra scheint meine Blicke zu bemerken und kichert. „Wir sind Zwillinge, wenn auch zweieiig, aber das hat sich nur bei unseren X- und Y-Chromosomen bemerkbar gemacht.“ Anscheinend hat sie meine Blicke nicht so ganz richtig gedeutet, was mir nur recht ist. „Als wir das durchmachen mussten, mit unserem Stiefvater … wir konnten uns da gegenseitig rausziehen, bis wir offizielle Therapieplätze hatten. Wir wollten hier eine Plattform schaffen, die Anderen die gleiche Chance gibt.“

Das mit unserem Stiefvater … ich kann mir nur zu genau denken, was sie meint. Mein Magen will schon wieder revoltieren und ich konzentriere mich auf ihre Haare, denke bewusst an andere schwarze Locken, an unser Geplänkel beim Frühstück und eine halbgeknurrte Antwort auf meine Neckerei.

Einfach. Nur. Tom.

Mein Magen beruhigt sich sofort. Wow! Diese Erkenntnis muss ich erst einmal verarbeiten, ich höre Richard daher nur halb zu.

„Lass ihn erst einmal, Sandra!“ Richard kommt auf mich zu. „Mickey, richtig? Also, du musst nichts sagen, bei deinem ersten Treffen, wenn du nicht bereit dazu bist. Aber unter uns, Männer sind in der Unterzahl, und die meisten hier sind Opfer von Männern. Es wird jeder respektieren, wenn du schweigst, aber die Anderen werden sich dir gegenüber sehr distanziert verhalten, bis sie wissen, dass du wirklich dazugehörst. Nur, damit du das dann zuordnen kannst … Wie gesagt, es ist dein Recht erst einmal nicht darüber zu reden, was dir passiert ist.“

„Wer lässt hier wen, Ricky? Bau bloß keinen Druck auf, Bruderherz!“ Sandra knufft ihren Bruder in die Schulter. „Hilf mir lieber!“

„Was denn? Ich habe doch bloß gesagt …“

„Zuviel!“ schneidet ihm seine Schwester das Wort ab.

Ich mag die beiden. Vielleicht wird das alles ja weniger unerträglich als befürchtet. Und ich habe eine Zauberformel gefunden, um meinen Magen unter Kontrolle zu bekommen.

Einfach. Nur. Tom.

***

Es sind über zwanzig Leute, die schließlich nach und nach eintreffen. Meine Idee von Selbsthilfegruppen basiert bislang auf dem, was ich im Fernsehen gesehen habe und ich habe so etwas wie einen Stuhlkreis erwartet. Stattdessen gibt es einen runden Tisch, und auf einem weiteren Tisch an der Seite häufen sich Kaffee, Tee und Selbstgebackenes, welches die Teilnehmer nach und nach herbeitragen.

Das Zusammenleben meiner Familie war seit dieser Geschichte mit meinem Onkel alles andere als normal. Ich musste wohl oder übel lernen, für mich selbst zu sorgen. Ein Vorteil davon ist, dass ich die italienisch inspirierte Küche meiner Oma erlernt habe und ihre Art zu backen. Die Mutter meines Vaters war ein kleines Element der Normalität im Nagsville nach Onkel Michael. Zumindest stundenweise konnte ich zu ihr fliehen und dem Kreislauf aus Vorwürfen und Streit meiner Eltern entkommen. Beim nächsten Mal könnte ich ihren berühmten Versunkenen Apfelkuchen beisteuern, wenn Tom mich in seiner Küche arbeiten lässt.

Was zum Henker denke ich da? Ich bin nur wegen des Falls hier oder bei Tom. Wahrscheinlich gehört beides nächste Woche bereits der Vergangenheit an.

Wie Richard angedeutet hat, bin ich zunächst nur das Ziel skeptischer Blicke. Aber ich kann es niemandem übel nehmen, es bestätigt nur meinen Verdacht, dass mir niemand dieser Leute auch nur eine einzige Information geben würde, wenn ich als Polizist hier wäre. Was mich jedoch viel mehr stört, ist das Gefühl, diese Menschen zu hintergehen. Sie sind bereits Opfer, sie hätten Ehrlichkeit, wenn schon nichts anderes verdient. Wenn allerdings möglicherweise der Mörder von Lilly und den anderen sechs Frauen hier unter ihnen ist, wäre Ehrlichkeit ein gefährlicher Fehler. Unser einziger Vorteil ist, dass bislang niemand auch nur erahnt, wie viel wir tatsächlich wissen. Bislang bemühen wir uns darum, den Eindruck zu erhalten, wir würden in einem Einzelfall, mit augenscheinlich persönlichen Motiven, ermitteln.

Zwei der Frauen entsprechen optisch dem Profil unseres Opfers, Marcy und Linda. Marcy ist jedoch vermutlich zu alt, um in das Opferprofil zu passen, sie sieht eher aus wie Ende dreißig, aber darauf möchte ich mich zum jetzigen Zeitpunkt nicht verlassen. Zum Teufel mit den ausschließlichen Vornamen, in L.A. gibt es unzählige Marcys und Lindas, wie sollen wir da die vollständige Identität der Frauen erfahren, die möglicherweise auf der Liste des Mörders stehen, ohne mein Cover fallen zu lassen?

Die Gruppenmitglieder plaudern zum Teil locker miteinander, andere scheinen eher zurückhaltend oder isoliert zu sein. Linda gehört zu der zweiten Gruppe, und ich wage es nicht, auf sie zuzugehen. Wenn ihr Trauma frisch ist, möchte ich nicht riskieren, ihr durch meinen scheinbaren Annäherungsversuch noch mehr Probleme zu machen. Ich scanne also die Gruppe nach potenziellen Kandidaten für unseren Täter, da wir keine genaue Ahnung haben, wie er oder sie aussieht, käme die Hälfte der Gruppe infrage. Knapp gesagt alle, die alt genug sind, um vor sechzehn Jahren getötet zu haben. Großartig!

Mein Magen knurrt wenig dezent, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das Risiko eingehen will, etwas zu essen, bevor ich den offiziellen Teil des Treffens überstanden habe. Es ist also wieder nur Tee auf meinem Speiseplan vorgesehen, doch ich bin so mutig, ihn mit Sahne und Zucker zu verrühren. Er schmeckt jetzt wie Fudge und er gibt mir ein klein wenig Energie zurück.

Mir ist längst klar, dass ich sprechen muss. Dass Richard sagt, ich müsse nichts erzählen heute, ist irrelevant. Ich brauche das Vertrauen dieser Menschen so schnell wie möglich. Ja, nur keinen Druck aufbauen!

Richard eröffnet schließlich das Treffen ganz unspektakulär, indem er fragt, ob jemand etwas Neues zu erzählen hat. Wieder treffen mich skeptische Blicke, ich bin eine unbekannte Größe und somit ein Störfaktor. Spätestens damit steht fest, dass ich meine Geschichte teilen muss. Das hier soll diesen Menschen helfen, ihr Trauma zu verarbeiten, sie sollen sich frei fühlen und frei reden. Von unserem Fall ganz abgesehen.

Wenn der Mörder wirklich ein Mitglied dieser Gruppe ist, wird es allen anderen Mitgliedern einen weiteren Schock versetzen. Manchmal hasse ich meinen Job.

Eine ältere Frau bricht nach einigen Augenblicken des Schweigens letztendlich die Stille. Ihr Namensschild weist sie als Margret aus. „Ich habe endlich einen Therapieplatz bekommen, nach zwei Jahren Wartezeit. Aber ich würde gerne weiterhin herkommen.“

Einige in der Gruppe gratulieren ihr. Sandra lächelt sie an. „Natürlich Margret, wir würden deinen Käsekuchen vermissen.“ Ich bezweifle, dass es um den Kuchen geht, aber Margret errötet und wird scheinbar einen halben Kopf größer, ihrer Körperhaltung nach zu urteilen. Es war wohl genau das, was sie hören musste. Es ist seltsam, wie einfach man die meisten Menschen glücklich machen kann, wenn man nur versteht, wie. Zum Beispiel, indem man ihnen ein T-Shirt in ihrer Lieblingsfarbe leiht.

Einfach. Nur. Tom.

Diese drei Worte werden zu meiner Zauberformel, ich hole tief Luft und stehe auf. Ich bin mir jedes einzelnen Augenpaares bewusst, das auf mich gerichtet ist. Lass uns von Druck reden … Das hier ist eine Schnapsidee!

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺217,38