Kitabı oku: «Vampyr», sayfa 3
Obduktion
Mit dem Untergang der Sonne betrat Voss das Revier. Sein grauer Filzhut presste die pomadigen Haare in Form. Schumann hatte den Vorgänger noch nicht abgelöst, weshalb Voss zügig nach oben huschte. Die abschätzigen Blicke der Schupos genügten ihm. Er hatte kein Bedürfnis nach abfälligen Wortwechseln. Oben erwartete ihn die Tagschicht.
»Deine Verkohlte sorgt für Aufsehen!«
Kriminalkommissar Leopold Springer nahm die Füße vom Tisch, warf die Jacke über, was den bestückten Schulterholster bedeckte, und kam Voss entgegen. Springers Sommersprossen ähnelten Schrapnellen eines Artilleriegeschosses. Sie waren überall und unverkennbar.
»Friedrich kann den Obduktionsbericht kaum erwarten«, flachste Springer schadenfroh.
»Vorkommnisse?« Voss wollte die Übergabe schnell hinter sich bringen.
Springer legte seine Hand auf Voss’ Schulter. »Die Nachtschicht konnte nicht abgelöst werden, weil keiner da war, zum Ablösen.«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Voss. »Mir ging es nicht so gut.«
Springer grinste. »Die fette Pfeife von unten ist für dich eingesprungen.«
»Schumann?« Voss biss sich auf die Lippe. Jetzt hatte er dem gebrandmarkten Kind einen Namen gegeben. Gleichzeitig stellte er sich auf eine Stufe mit den Lästerschwestern der Kriminalabteilung, die die Patrouillenpolizei, wegen des Hangs zum Einsatz der umhängenden Trillerpfeife, als Pfeifen diskreditierten, weil er damit indirekt zu verstehen gab, dass er den Dysphemismus einzuordnen wusste.
Der abzulösende Kommissar nickte und suchte den Blickkontakt. »Die Nacht zu tief ins Glas geschaut?«
Voss blinzelte, um sich die passenden Worte zurechtzulegen. »Das Falsche gegessen.«
»Wieder der Chinese um die Ecke?« Springer schnalzte mit der Zunge. »Die Schlitzaugen vergiften uns mit ihrem Hundefraß. Diese Reisfresser sollen gefälligst in der Zirkusmanege bleiben.«
»Wie war der Tag?«, versuchte Voss den Rassisten aus dem Büro zu bekommen.
»Nichts«, winkte Springer ab. »Wie üblich. In unserem Bezirk herrscht tote Hose.« Er zeigte im Gehen auf den Nachtschichtler. »Morgen früh bist du da! Sonst muss ich dich bei Friedrich verpfeifen.« Er lachte angesichts der Anspielung auf den Ersatzmann Schumann, den er als Pfeife beschimpft hatte. »Ach, ein Kurier hat was für dich abgegeben«, verabschiedete er sich, mit hüpfenden Augenbrauen und einem schelmischen Schmunzeln.
Voss wartete noch einen Augenblick, bis Springers arrogante Brunft gegenüber den Kollegen von der Knüppelbrigade im Erdgeschoss verhallt war, bevor er sich seinen Arbeitsplatz respektive Aufenthaltsplatz herrichtete. Vor allem seine Schuhe benötigten nach der unfreiwilligen Dusche der letzten Schicht Zuneigung. Aber zuerst widmete er sich der Postsendung.
Ein kleines Schildchen benannte den Empfänger: Für Kommissar Voss. Die geschwungene Schrift schmeichelte seinem Augenlicht. Er hatte eine Vermutung zum Absender. Vielleicht interpretierte er zu viel hinein, aber die besondere Sorgfalt in der Federkielführung musste etwas bedeuten. Er lachte, genau wie sein Herz. Unter dem Geschenkpapier versteckte sich eine flache Dose mit der Salbe, die ihm Adelheid auf die Handinnenflächen geschmiert hatte, um die Wundheilung der Brandverletzungen zu beschleunigen. Sofort fühlte er sich zurückversetzt, sah sie vor seinem inneren Auge, roch ihren Kirschblütenduft und spürte ihre samtweiche Seidenhaut. Gideon schaute zur großen Uhr an der Wand. Ein paar Stunden musste er noch absitzen, aber für das aufmerksame Präsent wollte er sich unbedingt persönlich bedanken.
Gedankenversunken wendete er das Präparat an. Dabei hoffte er, dass der Telefonapparat schwieg, wie er es sonst auch immer tat. Den Hörer hätte er nicht halten können. Er wäre ihm weggeflutscht.
Da er vergessen hatte, die Schokoladentaler aufzufüllen, beeilte er sich mit der Schuhpflege. Auch weil ihm Adelheid nicht aus dem Kopf ging. Gideon konnte sich nur schwer darauf konzentrieren zu wichsen.
Es rumpelte auf der Treppe. Schumann stemmte sich Stufe um Stufe nach oben. In seiner Hand ruhte ein Dokument, gedeckt von einer Akte. Er wedelte mit dem Verbund.
»Voss!«, schnaufte er aufgeregt. »Das kam mit der letzten Fahrzeugstreife vom Tagdienst.«
Voss hatte eine miese Vorahnung. Wieso war jeder nur so schnell?
Um Luft ringend setzte Schumann sich. Das Dokument legte er zusammen mit der Akte auf den Schreibtisch. Der frisch eingetrudelte Brief lag obenauf, mit der Vorderseite zu Voss gedreht.
»Der Obduktionsbericht«, murmelte Voss, die Zeilen überfliegend, was seine Vorahnung bestätigte. Die Frau sei nicht durch die mechanische Einwirkung beim Unfall gestorben, da die Wirbelsäule an keiner Stelle gestaucht wäre. Sie sei auch nicht durch das Feuer gestorben, weil ihre Lunge noch frei von Rauchpartikeln wäre. Zudem war sie Nichtraucherin. Der Mediziner kam zu dem Schluss, dass die Frau verblutet sein musste. Ihr fehlte eine essentielle Menge an Blut. Er habe zwei Einstichstellen an der Innenseite des Oberschenkels gefunden, wo die arteria femoralis verlaufe. Vermutlich habe sie darüber den Lebenssaft verloren.
»Der Arzt hat sie zerlegt«, sagte Schumann fasziniert. »Sie soll verblutet sein, aber im Auto waren keine Blutspuren. Und sie war Nichtraucherin, hatte aber trotzdem Zigaretten dabei und sich eine angezündet.«
Nachdenklich legte Voss das Blatt beiseite, dass die zugehörige Akte zum Unfall bedeckt hatte. »Hat das noch jemand gesehen?«, deutete er auf den Bericht.
»Die Streife hat ihn auf ihrer Postroute mitgenommen. Ich habe den Stapel gerade unten sortiert. Nur wir und der Arzt«, versicherte Schumann. »Wurde sie ermordet?«, flüsterte er, denn er kannte den Inhalt, den er auf dem Weg vom Erdgeschoss in den ersten Stock gelesen hatte.
»Sie könnte auch die Luft angehalten haben«, riet Voss, selbst nicht überzeugt. Warum sollte sich die Nichtraucherin vor Schreck eine Zigarette nach einem glimpflich ausgegangenen Unfall anzünden, wenn sie dann furchtlos die Luft anhielte, als ihr die Flammen ins Gesicht schlugen? Seine Theorie wackelte gehörig. Eine Erklärung für das fehlende Blut hatte er auch nicht. Mit seiner Taschenlampe hatte er das Fahrzeug abgesucht und ebenfalls keinen einzigen Blutspritzer gefunden. Nur Benzinspritzer.
Schumann nickte zur Akte. »Der Unfallbericht und die Fotos. Ich hoffe, du kannst damit was anfangen.«
Voss blies Luft in die Wangen. Wenn herauskäme, dass er als erster am Tatort einen möglicherweise vertuschten Mord nicht als inszeniert entlarvt, sondern als unglücklichen Unfall an die Schupo abgeschoben hatte, würde ihm Friedrich die Ohren langziehen und Schlimmeres.
»Ich setze mich mit Friedrich in Verbindung«, schickte er Schumann nach unten, mit der Bewegung zum Telefonapparat.
»Ich kann dich fahren, wenn du wohin musst«, bot Schumann an, wie ein Fisch, der angebissen hatte. »Bisher gab es noch keine Vermisstenanzeige«, schob er nach, schon auf der Treppe nach unten.
Als Schumann auf der Treppe verschwunden war, nahm Voss die Hand vom Hörer des Telefonapparates. Er hatte nie vorgehabt, seinen Vorgesetzten zu informieren, der um diese Zeit mit der Gabel in der guten Hausmannskost der Ehefrau stocherte. Er musste sich lediglich Zeit verschaffen. Auch wenn er Schubi ungern vor den Kopf stoßen wollte.
Gut, dass er seine Schuhe schon geputzt hatte. Diese Nacht würde er nicht mehr dazu kommen. Er schlug die Akte auf. Hinter Schumanns Bericht waren die Fotos einsortiert. Schwarzweiß. Unscharf. Eins von der auf der Straße liegenden, halbverbrannten Frau von schräg oben. Eins vom gegen die Litfaßsäule gekrachten Fahrzeug von der Seite. Eine Übersichtsaufnahme vom Unfallort, die durch die schlechte Beleuchtung und Belichtung nur ein Potpourri aus dunkelfarbigen Akzenten war. Unbrauchbar.
Er ärgerte sich über sein schludriges Vorgehen, das ihm im Nachgang das Genick brechen könnte. Friedrich hatte sich bereits eingeschaltet und eine Obduktion angeordnet. Voss konnte ihm den Bericht nicht vorenthalten, ohne die eigene Nachlässigkeit zu offenbaren. Seine Augen glitten zum Bericht: Identität unbekannt. Derartige Fälle gab es dutzendfach im Archiv. Und dieser Doktor verfasste all seine Berichte handschriftlich. Meistens waren einzelne Wörter durchgestrichen. Der berufene Akademiker machte sich nicht die Mühe, den Bericht neu zu schreiben, wenn er Ausbesserungen vornahm. Voss kam ein abwegiger Gedanke. Er müsste nur einen Bericht über eine unbekannte, verbrannte Frauenleiche finden und das Datum anpassen.
Bevor er tiefer in den unmoralischen Morast rutschte, schaute er sich Schumanns Dokumentation an. Sachlich hatte dieser beschrieben, was am Unfallort vorgefunden wurde. Praktischerweise hatte er Voss’ Geschichte übernommen, allerdings mit dem Hinweis der ausstehenden Obduktionsergebnisse. Dummerweise stand auch der Verweis darin, dass das Fahrzeug gestohlen sein könnte, wonach wiederum vermerkt wurde, dass man auf die Bestätigung durch das zuständige Revier in der Innenstadt wartete.
Voss bekam Kopfschmerzen. Die Verflechtungen überstiegen sein zerebrales Kombinationsvermögen. Seine schwitzenden Unterarme hinterließen Flecken auf dem Schreibtisch. Zu dem Austausch des Obduktionsberichtes musste er auch noch den Diebstahl einbinden und die Tote verschwinden lassen, ehe sich die Wege von Friedrich und dem Bereitschaftsarzt kreuzten. Außerdem konnte er die vier Kollegen nicht einschätzen, die nach ihm eingetroffen waren und auf sein Kommando den Unfallort abgesichert hatten. Wenn auch nur einer von denen so viel Interesse zeigte wie Schumann, hätte er zwei Fische am Haken und sie würden ihn samt Angel ins Wasser ziehen, wo er ersaufen würde.
Mittlerweile war die Salbe komplett eingetrocknet, genauso wie sein Rachen. Er lief zum Wasserspender, einem Abzweig aus dem Rohrleitungssystem mit Wasserhahn, und gönnte sich mehrere Schlucke. Es schmeckte abgestanden, metallisch und steinig. Aber sein Durst wurde gezügelt.
Mit neuem Mut rekapitulierte er die Situation. Der Fall schrie regelrecht nach Mord. So gut wie alles deutete daraufhin. Und er würde diesen Mord auch aufklären, und erst im Nachhinein eins auf den Deckel kriegen. Aber bis dahin musste er den Mord als Unfall tarnen, damit er nicht direkt unehrenhaft vor die Tür gesetzt werden würde. Ein aufgeklärter Mord bedeutete enormes Renommee, weil die Aufklärungsrate sehr niedrig lag. Friedrich würde sich mit diesen Federn schmücken und sein Revier in den Himmel loben. Voss’ umstrittene Methoden wären dann sekundär, würden sogar vielleicht unter den Tisch gekehrt werden, wahrscheinlich von Friedrich persönlich.
»Schubi!«, holte Voss den Schutzpolizisten unten hinterm Tresen aus einem Nickerchen. »Ich muss mal ins Archiv.«
Schumann rieb sich das Gesicht. »War es nun Mord?«
Voss lehnte sich über den Tresen und wisperte, »Wenn wir es als Mord deklarieren, haben wir bei Sonnenaufgang Friedrich und die Presse am Hals. Ich kann darauf verzichten.«
»Ich auch«, erwiderte Schumann angewidert. »Aber du ermittelst?«
»Inoffiziell«, bejahte Voss. »Aber zu keinem ein Wort!«
Schumann nickte, während er den Schlüssel zum Archiv an seinem großen Schlüsselbund suchte. »Was brauchst du?«
Er wollte schon aufstehen, aber Voss drückte ihn sanft auf den Stuhl zurück. »Nur den Schlüssel. Ich will dich da nicht mit reinziehen, Schubi.«
Neugier wurde geweckt. Ein Feuer wurde entfesselt. Schumanns Augen leuchteten. »Aber du hältst mich auf dem Laufenden? Und wenn du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit auf mich zählen.«
»Das weiß ich«, äußerte sich Voss anerkennend.
Er schloss die Tür zum Archiv hinter sich ab. Der staubige Raum war gefüllt mit einigen Reihen an schulterhohen Aktenschränken, geordnet nach Jahren. Jedes Schubfach für sich war noch einmal nach Monat und Tag strukturiert. Kerben in den einzelnen Akten präzisierten die Art des Verbrechens. Ein Mord hatte zum Beispiel fünf Kerben, Brandstiftung vier. Ein Raub, egal ob eine Person oder ein Gegenstand, hatte drei Kerben, Sachbeschädigung und Körperverletzung zwei. Eine Beleidigung kam mit einer Kerbe aus. Aufruhr oder Steuerbetrug erhielten keine Kerbe.
Voss wusste nicht, wo er anfangen sollte. Die hier gelagerten Akten betrafen nur den Randbezirk des Reviers. An eine verbrannte Frauenleiche, die nicht identifiziert wurde, konnte er sich nicht erinnern. Er kramte in den Erinnerungen seiner Zeit bei der Schutzpolizei. Es gab Brandopfer, allerdings meistens im Zusammenhang mit Brandstiftung oder außer Kontrolle geratenen Nutzfeuern zum Kochen oder der Wärmegewinnung. Alle Opfer konnten durch Angehörige oder den Wohnort benannt werden. Auf gut Glück begann er mit den Aufzeichnungen der letzten Jahre und suchte dabei nach vier Kerben, für Brandstiftung. Das war die passende Einordnung für den Zwischenfall, den er für ein paar Tage als Unfall verkaufen musste. Er durchwühlte die Akten. Sein erster Blick ging nach oben links, wo die Identität geschrieben stand. Bei den Unbekannten suchte er dann nach dem Ereignis. Unfall musste irgendwo stehen, am besten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr. Da sich der Doktor auf die Opfer beschränkte, wiesen die Obduktionsberichte kaum Querverweise zum Unfallgeschehen auf. Das spielte Voss in die Karten.
Schließlich fand er eine zerschlissene Akte, die fünf Jahre alt war. Vier Kerben. Eine unbekannte Frau starb an den Folgen von Brandverletzungen. Korpus und Gesicht waren gar. Sie hatte sich aus ihrem brennenden Haus gestürzt, mutmaßlich eigenhändig gezündelt. Voss erinnerte sich. Damals war er noch Schutzpolizist und erfuhr erst später davon in der Zeitung. Er selbst schleppte sich zu diesem Zeitpunkt mit zerschossenem Rücken vom Sessel zum Klo und wieder zurück. Seine Frau war da noch bei ihm gewesen, wenn auch distanziert. Ihre liebevolle Fürsorge war wohl eine wirre Einbildung gewesen, die ihm die Schmerzmittel vorgaukelten.
Die Tote aus der Akte hatte einen Genickbruch erlitten. Er überlegte. Könnte sich jemand bei einem Autounfall einen Genickbruch zuziehen und erst ein paar Minuten später daran sterben, wenn sich dieser jemand eine Zigarette anzündet, um den Schock zu verdauen, ohne zu merken, dass überall Benzin an der Kleidung haftet? Klang für ihn plausibel, zumindest für den flüchtigen Blick von Friedrich, der medizinisch überhaupt nicht bewandert war. Die rußfreie Lungenthematik durfte allerdings nicht zur Sprache kommen, denn die Tote aus der Akte war pulmonal schwarz wie Teer.
Überflüssigerweise blickte er über die Schulter, um die verschlossene Tür in Augenschein zu nehmen. Den Obduktionsbericht nahm er heraus und steckte die Akte zurück. Sollte irgendwann irgendjemand auf die Idee kommen, hier eine Schmökerstunde abzuhalten, würde der fehlende Bericht mit schlampiger Archivierung begründet werden.
Bei Schumann händigte er den geliehenen Schlüssel aus.
»Was gefunden?«, fragte dieser vorwitzig nach.
Voss wippte mit den Schultern. »Nicht wirklich. Aber, ich denke, ich habe eine Spur.« Er musste den Kameraden an der Nase herumführen, um ihn nicht in den perfiden Plan hineinzuziehen.
Ein breites Grinsen legte sich auf das Gesicht des Wachmannes. »Ein Serientäter?«, nickte er zum Archiv. »Gibt es ein übereinstimmendes Muster in der Vergangenheit?«
Voss lachte vorsichtig. »Du wärst ein guter Kriminalist, Schubi.«
Enttäuschung machte sich breit. »Mir fehlt das Studium. Beide Seiten würden mich auslachen. Die einen, weil ich zu dumm bin. Die anderen, weil ich gewechselt habe. Schumann, bleib bei deinem Leisten.«
Voss dachte an Leopold Springer, diesen ignoranten, eingebildeten Rassisten. Schumann wäre willkommenes Kanonenfutter für dessen Spießrutenlauf. Und Voss dachte an sein eigenes fehlendes Studium und die Fügung, die ihn zum Däumchen drehenden Kommissariat gebracht hatte.
»Gib Nichts auf das, was die Leute denken oder sagen. Du bist immerhin der allnächtliche Herr dieses Polizeireviers.«
»Im Neunten Bezirk, am Stadtrand. Mit dem geringsten Aufkommen an Straftaten.« Schumann wickelte einen Schokotaler aus und verschlang ihn. »Auch einen?«, bot er an.
»Nein, danke! Hab noch viel zu tun.« Voss klopfte mit dem Fingernagel auf den Tresen. »Sag mal, wurde die Tote schon eingeäschert?«
»Nö«, antwortete Schumann mit dem Taler im Mund. Bevor er weitersprach, schluckte er die Köstlichkeit hinunter. »Die liegt jetzt ein paar Tage auf Eis. Wenn sich niemand meldet, der sie vermisst oder identifizieren kann und es weiterhin als Unfall abgestempelt ist, wird sie nächste Woche eingeäschert. Bei einer Mordermittlung darfst du dir die Leiche aber genauer anschauen, zusammen mit dem Arzt und wahrscheinlich Friedrich.«
»Ich weiß«, grummelte Voss zerknirscht. Dann wäre er am Arsch. Ihm kam eine Idee, wie er die Tote schneller in den Ofen bekam. Er schalt sich für seine Niederträchtigkeit. Doch es blieb ihm keine andere Wahl.
»Hast du die Adresse vom Doktor? Ich habe nur seine Telefonnummer.«
Schumann zog die Augen zusammen. »Willst du ihn aus dem Bett hauen?« Er blätterte nebenbei in der Kartei.
»Ich muss ihm ein paar Fragen stellen.«
»Mitten in der Nacht? Kann das nicht bis morgen früh warten?« Er hatte die Adresse gefunden und legte die Karteikarte auf den Tresen.
»Meine Schicht ist nun mal nachts. Und ich ermittle in meinem Fall. Danke, Schubi!« Voss steckte das Adresskärtchen ein.
»Die brauch ich wieder«, bläute Schumann ein.
Zurück an seinem Schreibtisch platzierte Voss die beiden Obduktionsberichte nebeneinander. Obwohl fünf Jahre zwischen beiden lagen, hatte sich die Handschrift des Doktors kaum verändert. Friedrich würde der Unterschied nicht auffallen. Voss zückte einen Füllfederhalter und testete auf einem Schmierblatt Linienstärke sowie Intensität der schwarzen Farbe. Er erkannte, dass die Schrift des alten Berichtes mit der Zeit ausgeblichen war, im Gegensatz zum aktuellen Bericht. Das würde dem Bürokraten Friedrich auffallen. Auch der Zustand des vergilbten, fleckigen Papiers machte den zeitlichen Abstand deutlich. Voss’ Plan schien zum Scheitern verurteilt zu sein.
Er massierte seine Schläfen. Grübelnd kreiste er mit den Daumen darüber. Nach einer Weile schob er ein weißes Blatt Papier unter das fünf Jahre alte Dokument und zeichnete mit dem Füllfederhalter die ersten Linien des Arztstempels nach. Er drückte stärker auf als man es müsste. Wie er die Rundungen des Stempels abgefahren war, kontrollierte er das Ergebnis. Der schwache Abdruck auf dem neuen Papier war gut sichtbar. Er müsste lediglich das Abgepauste säuberlich nachzeichnen. Viel Arbeit, aber notwendig.
Als er fertig war, streckte er sich und vor allem seinen Arm samt der beanspruchten Hand. Er hatte den Obduktionsbericht soweit abgepaust und nachgezeichnet. Es sah aus wie ein originales Schreiben vom Arzt. Das Datum hatte Voss ausgelassen. Mittlerweile war er vertraut mit den Eigenheiten der Handschrift. Er übte kurz auf dem Schmierpapier, bevor er das aktuelle Datum kritzelte. Die beiden ursprünglichen Obduktionsberichte riss er in kleine Einzelteile, wonach er sie in den Müll warf, zu den goldenen Verpackungen der verspeisten Schokoladentaler der letzten Schicht. Damit war der erste Punkt abgehakt. Die Frau starb durch einen vom Aufprall verursachten Genickbruch ein paar Minuten nach dem Unfall, als sie sich eine Zigarette anzündete, um den Schock zu verdauen, wobei sie durch das Benzin auf ihr in Flammen aufging, was sie vermutlich nicht mehr mitbekam, denn die gebrochenen Halswirbel kappten die Verbindung bei der ruckartigen Fluchtbewegung. Schrecklicher, unausweichlicher Tod.
Er nahm den Hörer von der Gabel und bediente die Wählscheibe. Ein Verbindungsrauschen begleitete die Warterei. Ein Kriminalkommissar vom, für den Nachtklub Zum Mond zuständigen, Revier in der Innenstadt meldete sich.
»Gideon Voss vom Neunten Revier. Wurde Ihnen in den letzten 24 Stunden ein Autodiebstahl gemeldet?«
Der Angerufene redete, schwieg und redete weiter. Anscheinend wurden einige gemeldet.
»Peter Plogojowitz ist der Fahrzeughalter«, ergänzte Voss. »Ich buchstabiere: Paula, Ludwig, Otto, Gustav, Otto, Julius, Otto, Wilhelm, Ida, Theodor, Zeppelin.«
Am anderen Ende der Leitung hörte man Gelächter. Auch Voss musste kichern.
»Ja, das sind viele Ottos.«
Kurz darauf verdüsterte sich seine Miene wieder. »Nicht? Hm, komisch. Gut, vielen Dank und einen ruhigen Dienst!«
Voss legte auf. Plogojowitz hatte natürlich keine Meldung gemacht. Aber da sich der Kommissar sowieso bei Adelheid für die Salbe bedanken und sie für eine kleine List benutzen wollte, konnte er Plogojowitz gleich zur Rede stellen.
Der Nachtklub Zum Mond war, wie immer, gut besucht. Zielstrebig wanderte Voss zur Bar. Den Portier hatte er wieder mit der autoritären Nummer kompromittiert, vorrangig mit der Pistole am Oberschenkel. Im Klub konnte Voss weder Adelheid noch Plogojowitz ausmachen. Er lupfte dafür sogar die Hutkrempe seines grauen Filzhutes nach oben.
»Peter Plogojowitz«, hielt er der Kellnerin an der Bar seine Polizeimarke hin. Zuerst die Arbeit mit Peter, dann das Vergnügen, und etwas Arbeit, mit Adelheid.
Die Frau schüttelte den Kopf vor lauter Unverständnis.
»Chef!«, rief Voss gegen die musikalische Untermalung, was die Frau plötzlich verstand. Sie zeigte nach hinten zu einer unauffälligen Tür.
Voss nickte ihr zu und ging nach hinten. Verschiedene Männer im Nadelstreifenanzug wollten sich ihm in den Weg stellen, aber seine Marke und die offen getragene Pistole verschafften ihm einen Durchgang. Er konnte das warnende Brummen der Männer vernehmen, ließ sich aber nicht einschüchtern.
Er hämmerte gegen die Tür. Adelheid öffnete. Sein Herz blieb für einen Moment stehen. Nachfolgend raste es wie verrückt. Er nahm den Hut ab.
»Gideon«, stieß Adelheid überrascht aus. »Ich hätte dich nicht so schnell wiedererwartet.« Ihre schwarzen Augen durchbohrten ihn. »Hast du mein Geschenk erhalten?«, musterte sie seine Hände.
»Ja, danke dafür«, stammelte Gideon. »Ist Plogojowitz da?«
»Nein«, entgegnete Adelheid mit einem Hauch Verlangen.
»Können wir reden?« Hinter ihm spürte er die Augenpaare der Sicherheitskräfte im Nadelstreifenanzug. Adelheid winkte ihn herein in den mager beleuchteten Raum und schloss die Tür.
Das alte Sofa und der schiefe Tisch mit dem verratzten Tresor daneben kontrastierten die Aufmachung des edlen Klubs auf eine schräge Weise. Licht und Schatten. Gold und Ramsch. Dumpf erklang die Musik.
Adelheid setzte sich auf das Sofa und überschlug ihre Beine. Das Kleid spannte sich. Neben ihr war noch Platz für einen Mann. Sie legte den Arm auf die Rückenlehne der vakanten Stelle, was Gideon nötigte, sich genau dorthin zu bequemen. Ihre schwarzen, spitz gefeilten Fingernägel kraulten seinen Nacken. Er vermied es, sie plump anzustarren, denn er hätte nichts anderes gemacht, wenn er zu ihr geschaut hätte.
»Das gestohlene Fahrzeug wurde nicht gemeldet«, begann Gideon, sich am Riemen reißend.
Ihr schwarzer Bubikopf näherte sich seinem Ohr. »Ich konnte nur an dich denken, Gideon.« Sie berührte sein Bein mit der freien Hand. Ihr Kirschblütenduft strömte ihm in die Nase und vernebelte seine Sinne.
»Adelheid!«, ermahnte er sie, um selbst wieder in die Spur finden. »Ihr müsst den Diebstahl unbedingt melden!« Er wandte sich zu ihr, wo er verfolgte, wie ihre Zunge über die gespitzten Schneidezähne in der oberen Zahnreihe fuhr. Ihre blasse Haut schien zu leuchten.
»Dann melde ich es jetzt bei Ihnen, Herr Kommissar.« Mit dem Finger streifte sie von seinem Bein über das Becken, den Bauch und die Brust an seinen Hals. Dort erhöhte sie den Druck des spitzen Fingernagels, der sich zaghaft in seine Haut drückte.
Gideon wurde bald wahnsinnig. Ungeheure Hitze strahlte aus seinem Schritt nach oben. »Ich bin nicht zuständig«, musste er eingestehen. »Die Meldung muss im Revier gemacht werden, das für den Stadtteil des Halters zuständig ist – in diesem Fall im Ersten Revier.«
»Kompliziert«, schüttelte Adelheid ihr Haupt.
Gideon beobachtete den Schwung ihrer Haare hypnotisiert.
»Ihr tut euch keinen Gefallen damit«, insistierte er drucklos. Diese Frau konnte alles mit ihm machen. Er sehnte sich regelrecht danach.
»Apropos Gefallen«, warf sie ein. »Wie laufen die Ermittlungen?«
»Auch deshalb bin ich hier. Die Obduktion der Leiche war uneindeutig. Die fehlende Anzeige des Autodiebstahls macht Plogojowitz verdächtig, weil er der Halter ist.«
»Uneindeutig?«, hauchte Adelheid ganz dicht an seinem Hals, wo ihr Fingernagel ein Fadenkreuz skizzierte. Ihr warmer Atem markierte die Stelle.
Gideon schluckte. Einerseits weil er nicht zu viel verraten durfte. Andererseits weil er ihr schutzlos ausgeliefert war. Im Affekt schaute er auf seine Waffe, auch wenn er nicht wusste, warum er das tat. Eingeübte Polizistenmasche.
»Anscheinend ist die Tote verblutet«, flüsterte er. »Vor dem Unfall.«
Adelheid schmunzelte. Sie atmete noch immer dicht an seinem Hals. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter. »Also doch ein Mord?«
»Das versuche ich auszuschließen.« Hätte er sich rühren können, hätte er sich gegen die Stirn geschlagen. Diese Frau, die er kaum kannte, entlockte ihm einfach zu viel. Seine Hände lagen schweißgebadet auf seinen Oberschenkeln, nicht imstande zu einer Bewegung. Lust lähmte ihn. Selbst die Brandblasen schwiegen.
»Wenn es dir hilft: ich bin von Peter bevollmächtigt«, gestand sie. »Ich kann ihn vertreten und den Diebstahl melden.«
Seine Augen rollten in den Winkel, um sie zu erfassen. »Warum habt ihr das nicht schon längst erledigt?«
»Wir wollten es nicht an die große Glocke hängen. Peters Reputation würde leiden. Er lebt für den Klub; der Klub ist sein Kind. Wir können uns keinen derartigen Vorfall erlauben.«
»Es ist nur ein Diebstahl.« Gideon verstand die Zurückhaltung nicht.
»Jeder Kontakt mit der Polizei macht das Geschäft kaputt.« Sie setzte sich auf, um ihm in die Augen zu schauen. »Unsere Klientel rekrutiert sich aus allen Schichten der Gesellschaft. Dazu zählt auch die verrufene Schicht.«
Gideon zeigte zur Tür, die in den Klub führte. »Aber der Saal ist doch gut besucht.«
»Weil wir den Gästen ein sicheres Umfeld bieten, frei von Polizei. Die Hälfte da drinnen könntest du festnehmen, weil sie eine Vorstrafenakte hat und bewaffnet ist. Hinzu kommt der Alkohol und die nackte Haut.«
Die geheimen Durchgänge an der Seite waren Gideon aufgefallen. Hinter dicken Vorhängen gab es Türen. Während seiner Verköstigung vergangene Nacht hatte er einige Herren in Begleitung attraktiver Damen verschwinden sehen. Die unsittlichen Berührungen waren auffällig gewesen. Was in den versteckten Zimmern geschah, musste er sich nicht erst ausmalen.
»Du bist sehr freizügig, was eure Praktiken angeht«, stellte Gideon fest.
»Ich will mich nur revanchieren.« Ihr Fuß streifte seinen Unterschenkel. Jede Berührung löste ein Erdbeben in ihm aus. »Und ich muss dir etwas gestehen.« Sie blickte nach unten und zog ihre Schultern nach vorn. »Eine Kellnerin ist verschwunden.«
Gideon stockte das Blut. »Bist du dir sicher?«
Adelheid stand auf, ging zum Schreibtisch, holte ein Ausweisdokument und reichte es dem Kommissar, der es im fahlen Licht betrachtete.
»Magda Trumna«, begleitete sie die skeptische Bemusterung, »Arbeitsimmigrant. Kam vor etwa einem Jahr. Ist seit gestern Nacht verschwunden. Ich nehme den Mädchen die Papiere ab, damit sie nicht wegrennen und unsere Gäste in die Bredouille bringen. Einige erkaufte Handlungen sind«, sie überlegte, »verabscheuungswürdig. Aber das gehört zum Nachtleben wie die Sterne zum Nachthimmel.«
Voss sah auf. »Was müssen die Mädchen über sich ergehen lassen?« Er fragte sich, weshalb ihm die Dame, die bei ihm Herzrasen verursachte, alles so freimütig erzählte. Wollte sie ihn an der Nase herumführen? Wollte sie etwas verbergen? Wollte sie kleinere Delikte offenbaren, um ein grausames Verbrechen zu vertuschen?
Adelheid lächelte kokett und deutete einen Knicks an. »Das Geschäft ist hart«, wich sie aus. »Wir können nur überleben, wenn wir etwas bieten, das sonst keiner bieten kann: keine Grenzen und absolute Diskretion.«
»Und das geht nur mit Illegalen?«, er hielt das Ausweisdokument hoch und tippte auf den fehlenden Stempel beim Aufenthaltsvisum. Gleich daneben fehlte auch der Stempel bei der Einreisekontrolle. Er könnte Adelheid ohne weiteres in Handschellen legen und in ein dunkles Loch werfen. Er sah das aufmüpfige Funkeln in ihren Augen, das gleichzeitig Gier ausstrahlte.
»Wir geben den Mädchen Kost und Logis«, rechtfertigte Adelheid. »Unter unserem Dach sind sie sicher.«
»Auch sicher vor dem Tod?«, hakte Voss scharf nach.
Sie fixierte ihn. »Was willst du damit andeuten?«
»Wenn ich ins Blaue raten sollte, würde ich sagen, dass eine unsittliche Handlung übers Ziel hinausgeschossen ist, das Mädchen verblutete und entsorgt wurde, was wie ein Unfall arrangiert war.«
»Hatte das Mädchen Striemen am Körper, Würgemale, Blutergüsse?«, konterte sie, wobei sie ihre Arme in die Seite stemmte. Die Hüfte schob sie leicht zur Seite.
Gideon ruderte zurück, da nichts davon im originalen Obduktionsbericht erwähnt wurde. Die Andeutungen zu den im Klub durchgeführten Praktiken schreckten ihn zusätzlich ab. Ihr Anblick versetzte ihn überdies in Wallung. Es fehlte nur noch der Scheinwerfer, um sie perfekt in Szene zu setzen.
»Nein«, erwiderte er schüchtern.
»Habt ihr Geld gefunden?« Adelheid ging in die Vollen.
Er hob erstaunt die Augenbrauen.
»Dachte ich mir! Sie hat uns nicht nur das Auto geklaut, sondern auch Geld, und ist damit abgedüst.« Eine abfällige Handgeste beschrieb ihre Meinung dazu. »Das kleine Flittchen kann nicht Autofahren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Karre irgendwo dagegensetzt.«
Bei all der Dominanz wurde Gideon erst allmählich klar, dass die Tote identifiziert werden konnte. Damit könnte die Verbrennung der Leiche vorangetrieben werden, bevor sich jemand näher mit dem Verletzungsmuster befassen konnte und ihm Ermittlungsversagen vorwerfen würde. Einzig das Erinnerungsvermögen des Arztes könnte den Fall in ein fragwürdiges Licht rücken. Dann müsste Gideon ihn als Quacksalber hinstellen, was dessen Zulassung und damit dessen Existenz vernichten würde – harter Tobak. Aber dieses Notfallszenario behielt er noch in der Hinterhand, mit der Hoffnung, es niemals in die Tat umsetzen zu müssen. Eine Gegenüberstellung der Aussagen von Arzt und Polizist würde eine öffentliche Schmutzkampagne nach sich ziehen, die er mit ein paar Kniffen zu seinen Gunsten beeinflussen müsste – harter Tobak.