Kitabı oku: «Die Gärten der Medusa», sayfa 2
Nun, sie habe die Kutte des heiligen Franz kürzlich untersucht, berichtete die Archäologin, und dabei Flicken am zerlöcherten Saum festgestellt, Stoffflecken, die aus einem anderen Gewebe gestammt hätten. Und offenbar kurz vor der Grablegung aufgenäht worden seien.
Die Flicken stammten, das habe sie dann nachprüfen können, aus der Kutte der Clara – dort habe das entsprechende Stück Stoff gefehlt. Kein Zweifel, stellte die Archäologin fest: Clara hatte die Kutte des Toten noch einmal in die Hand genommen, ein letzter Liebesdienst. Franziskus sollte nicht mit einem zerlöcherten Gewand in die Ewigkeit eingehen. Clara hatte mit dem Stoff aus ihrem Rock die Löcher in seiner Kutte verdeckt.
Wenn es auch das letzte Hemd war, ganz sollte es wenigstens sein. Das gab sie ihm mit auf die Reise.
Borbakis und seine Esther, nun gut.
War Wild neidisch? Auf solche Kerle wie diesen Nikos? Wild hatte seine Träume, eigentlich immer denselben Traum. In diesem war er mit einem Mädchen, immer demselben, oder waren es mehrere untereinander ähnliche? Mit dem Mädchen hatte er eine Zärtlichkeit gemeinsam, etwas Vertrautes, das erwidert wurde; Berührung, Umarmung. Aber vor allem Berührung. Wenn er erwachte, wusste er für kurze Zeit, dass er eigentlich noch liebesfähig gewesen wäre.
Das andere, das Borbakische fehlte ihm. Der Überwältiger. Das wollte er nicht. Aber das vermisste er dann doch, dieses Gefühl, vom Weibe zu kommen. Herauskrabbeln aus dem Begrabensein, das man nicht einmal mehr gespürt hat, so sehr war es das Normale geworden und alltäglich. Fern aller Berührung, die Abenteuer gewesen wäre.
Wild erinnerte sich, oh ja, wie er einst, am frühen Morgen, aus einem Hotelzimmer kommend, die Treppe herunterkam ins Frühlicht. Oben schlief die Frau noch.
Auf der Treppe war er voller Hochgefühl gewesen, erlöst, und grüßte wie höhnend den Portier, der missmutig salutierte. Herrenbesuch war nicht vorgesehen im Einzelzimmer, und Wild hätte gern einen Federhut geschwenkt gegen den Missmutigen, ein Barett geschwungen, so dankbar war er für diese Nacht, die keineswegs schäbig, sondern einfach und bei Gelegenheit dem Glück abgestohlen, vielleicht sogar ein bisschen ertrogen gewesen war, stellte man den vorangegangenen Abend in der Weinstube in Rechnung.
Aber sie war nicht willenlos gewesen, nicht Opfer, gar nicht, nur eben angesäuselt, hatte ihn mitgeschleppt, an der Hand die Treppe hoch, wenn er sich richtig erinnerte, und er war ihr Liebhaber. So ist das, Herr Portier!
Wild hatte den Kragen des Regenmantels hochgestellt, übermütig. Prall mit neuem Atem, mit Elixier, grader geworden, ein Mann. Federnd ging er die Straße entlang, in einen Tag, wie schon lange keiner mehr, so schien es ihm, gewesen war.
Lange her.
Im Grunde unterscheidet uns wenig von den Männern dort auf den Bänken, sagte er zu Borbakis. Ein bisschen Seife am Morgen. Wir wechseln die Kleider vielleicht öfter. Aber wir sitzen mit ihnen auf derselben Bank, im selben Warteraum. Wir haben vielleicht Hemmungen, die sie nicht mehr haben. Die trinken schon am Morgen, während wir uns gegenseitig versichern, dass wir erst am Abend damit anfangen. Um dann doch schon um drei in der Schweizer Weinstube zu sitzen. Uns sieht man unsere geheizten Wohnungen an und unsere Behauptung, wir hätten noch etwas Wichtiges zu tun. Hast du es gehört, Borbakis, das noch?
Borbakis sah in sich hinein.
In dem noch ist die letzte Grenze auch schon eingezeichnet, nicht wahr? Die dort gehen ehrlicher damit um. Sie sitzen, die Bierbüchse in der Hand, vor ihrem Ende und schauen ihm ins Auge.
Der hörte nicht zu. Borbakis mit seiner kubanischen Zigarre, nach proletarischem Muster ein Vorschuss auf das Glück der klassenlosen Gesellschaft, war schon wieder bei den letzten Fragen, oder denen, die er dafür hielt. Ob man unter Umständen, die später gesellschaftlich ausgeglichen würden, nicht sofort das Recht habe auf seine Neurosen? Und sonst noch auf dies oder jenes?
Was sollte Wild sagen? Pascals Wein, ein südfranzösischer Syrah, hatte ihn zunächst aufgestellt, dann aber träge gemacht.
Hast du dir schon überlegt, wie du begraben sein willst?
Wild schaute Nikos an.
Oder wo? Oder ob überhaupt?
Ein Flugzeug flog über ihnen vorbei, so unangenehm bedeutungsvoll wie in einem Film von Ingmar Bergman. Westabflug in Kloten. Sie schauten nicht auf.
Er nämlich, Borbakis, bitte darum, seine sterblichen Überreste, er sagte «sterbliche Überreste», nach Torcello zu bringen. Torcello, wiederholte er etwas lauter, du weißt schon, dort bei Venedig, die Insel mit der Kathedrale, Santa Maria Assunta. Du kennst doch das Mosaik, Madonna Theotokos?
Was für ein Angeber war das.
30000 Einwohner nach der Besiedlung durch die Veneter im fünften Jahrhundert, heute vielleicht noch fünfzig. Verlandet, versumpft, halb versunken das moorige Inselchen, schon am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Und gerade deshalb ein traumhafter Ort, reine, märchenhafte Schönheit nur dreißig Vaporettominuten von dem Gewimmel Venedigs. Ein Ort, an dem die Zeit schon vergangen ist.
Dorthin mit meiner Asche, sagte Borbakis, fein gemahlen, in die Locanda Cipriani; ich war dort einmal für einen Augenblick lang glücklich.
Ich verfüge, es ist mein letzter Wille: Mein pulverisierter Astralleib ist in die dortigen Salzstreuer umzufüllen, auf dass ich post mortem den guten, wenn auch nicht exzellenten Gerichten der Locanda zu mehr Geschmack verhelfen möge und ich auf diese Weise, im Darmverlies der über Burano auf die Fondamenta Nuova zurückkehrenden Ausflügler, und, bei ihrer Abreise – in Venedig bleibt ja keiner länger als ein, zwei Nächte – über die Lagune hinaus in alle Himmelsrichtungen reisen werde, wo, wenn dann immer noch etwas von mir da ist, und die Theorie weiß ja, dass nichts auf Erden je verloren geht, ich mit den entsprechenden Wassern den Weg schon selber weiter finden werde, weiter und weiter.
Der Meienberg, der Paris-Fan, erinnerst du dich?, der hat sich in die Seine einstreuseln lassen. Das war ähnlich, wenn auch kürzer gedacht.
Ja, Paris, sagte Borbakis jetzt. Nur noch vier Stunden entfernt, vier Stunden und drei Minuten.
Wild sagte nicht, was ihm auf der Zunge lag. Viel zu nahe für seine Sehnsucht.
Paris, Paradis. Für mich so etwas wie der Siebente Himmel, sagte Borbakis.
Wild sah gleich das Kreuz auf Sacré Cœur und die Blitzableiter auf der Tour Eiffel und die Seine, wie sie über die Spitze des Île de la Cité herunterkommt, und den Fahnenmast auf dem Arc de Triomphe und die Himmelszeiger seines persönlichen Walhalla, die Fernsehantennen auf den Dächern rund um sein Hotel im Quartier Latin, an der Kreuzung Rue de Fleurus und Rue d’Assas, in dem er, im Herzen der graublauen Großstadt, das oberste Stockwerk, das sechste, das Mansardengeschoss, blechgedeckt, zu beziehen gewohnt war, Aussicht in das geliebte Taubengrau der Dächer.
Und was willst du dort, mein Lieber?
Da kam es auch schon. Er sei seit einiger Zeit mental beschäftigt mit dem Auf-, Ausbau einer Bibliothek jener besonderen Geister, der erlauchten Caféterrassenbewohner und Boulevardflaneure, der literarischen Parisbewohner.
Lauter fantastische Typen.
Er sagte «fantastische Typen», Wild schauderte, verträgt diese Art von Annäherung nicht gut, das Ranschmeißerische, hasste es auch, wenn einer Berühmtheiten beim Vornamen nannte, Fritz sagte, statt Dürrenmatt.
Um das «Fest des Lebens» gehe es, sagte Borbakis, wie Hemingway geschrieben habe. Paris damals, und vor allem für die Amerikaner, die Essenz des Lebens, die Bouillon, der Brodo. Er stockte; das griechische Wort dafür fiel ihm nicht ein.
Alles gute Freunde, diese Fremden, diese Zuzüger, diese Vorbeistationierer, wie es einer von ihnen genannt habe, meinte er, alle versammelt in der, nun ja, Bibliothèque Borbakis.
Wild baff.
Er setze sich noch einmal, spät im Leben, ein Lebensprojekt, sagte er großspurig.
Borbakis hob die Stimme und sprach in Majuskeln: Mit ungewissem Ausgang! Nur weg von hier! Sammler, Erforscher, Kenner, Koryphäe wolle er werden auf dem Gebiet der literarischen Immigration nach Paris, und zwar in den Jahren 1930 bis 1960, den fruchtbarsten Jahren.
Er fuchtelte mit Ausrufezeichen.
Borbakis war einer von denen, die ständig lauter werden, wenn sie unterstreichen wollen, wie wichtig das ist, was sie sagen.
Sein zukünftiger Stadtplan, das heiße der Plan, den er mit Paris vorhabe, mit dem er Paris überziehen werde, sein Plan Borbakis, er wolle die Wege und Wohnungen der Exilanten in Paris erforschen und dokumentieren, eine in die Literaturgeschichte vertiefte Landkarte der Heimatlosen in ihrer Wahlfremde. Die Engländer, die Iren, die Rumänen, die Amerikaner, Hemingway, Stein, Fitzgerald, Miller. Das ist Musik, was!, sagte er begeistert. Was findest du, he? Von Cioran zu Beckett, von Joyce zu Simenon.
Warum kannte dieser Borbakis den Namen Cioran? Wild war verblüfft; Nikos’ Havanna und jener eisige Philosoph, wie passte das zusammen?
Triumph sprach aus dem Elvetikos, Triumph über diese Entdeckung eines Spezialgebiets, das das reine Vergnügen versprach. Das alles aus diesem Bartgesicht, dieser verhaarten Bedeutungsmaskerade, er sah wohl auch schon den dazugehörenden Lehrstuhl zu seiner Bibliothek, als Komparatist an einer Pariser Uni; unter der Sorbonne würde der es nicht machen wollen.
Und niemand, der ihm das Fachgebiet streitig machen würde. Wirklich niemand?, fragte sich Wild. Inzwischen brütete im übervölkerten Wissenschaftsbetrieb doch über jedem Furz schon ein spezialisierter Hintern.
Nur, an seinem Thema schien etwas dran zu sein. Eine Bibliothek, ein Literaturausschnitt, eine größere Lektüre mit einem inneren Zusammenhalt, den es zu beschreiben gelten würde, ein literarisches Feld, das auch nicht zufälliger wäre als ein anderes, Spätromantik oder Frühmittelalter …
Der Park war wirklich sehr schön geworden. Es begann zu dunkeln. Die alten Bäume mit ihrem hoch oben raschelnden Laub. Die Wiese, auf der noch ein paar junge Leute lagerten, Ball spielten; der Pavillon, vor dem man in Ruhe ein Bier trinken konnte. Ein Ort ohne Gedächtnis. Einer, den Wild mit keiner Geschichte, und also auch keinem Makel verband.
Ob er die Angst kenne?
Welche Angst?
Wild war wieder mal nicht auf dem Quivive und stellte auf Borbakis’ Einwurf hin automatisch die Gegenfrage. Und verwünschte sich deswegen im gleichen Augenblick.
Angst als Begleiter, dein Schatten, sagte Borbakis philosophisch. Unsere Furchtsamkeit, und deine persönliche Angst. Oder die Ängste. Wenn ich sie analysiere, sagte er, finde ich nicht nur die Angst vor dem Unnennbaren, das vor mir liegt, also Sterben, Totsein, sondern, und noch viel mehr, eine Art Angestautes. Ja. Langsam wächst es, langsam wird’s sichtbar: die Schuld gegenüber den anderen.
Die Leichen, die in deinem Schrank sind, sagte Wild wütend, sie beginnen also zu stinken. Und sich zu bewegen, während du zerfällst. Und du hast nur Angst, dass deine Sauereien dich überleben.
Der Schmerz, den du anderen zugefügt hast, sagte Borbakis, überraschend mild. Dies, und tiefer noch das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Angst vor der Wahrheit, gegenüber dir selbst versagt zu haben. Dich vielleicht sogar verpasst zu haben. Wie man allein im wildfremden Land von der Angst überfallen wird, wenn man die Augen aufschlägt: Was mache ich da? Die anderen, die dich nicht kennen, sehen dich nicht, und du bist nichts.
Wir sind gegen unser persönliches Unheil, unser Ungenügen nicht versichert, Borbakis, dachte Wild. Schwieg aber.
Es wurde Abend. Das Licht, das vom Pavillon her über die Tische kam, hätte den beiden genug sein müssen für ein kleines Glück.
Nikos sann, ein Kloß, ein Koloss, den eine unsichtbare Kraft zum Innehalten gebracht hatte. Abwesend. Er war so stumm, dass es schien, dass er seine Einsicht verschluckt habe an einen Ort in seinem riesigen Körper, an dem er sie nie wieder finden würde. Er hatte aufgegeben zu sagen, was er sagen wollte. Oder auch nur den Faden verloren.
Wild, ohne weiteren Zusammenhang, dachte, dass es kein Recht für uns gebe, sich zu beschweren. Wo sollten wir das Recht herhaben?
Eine Straßenbahn, ein innen erleuchtetes Bügeleisen, zog leer um die Kurve am Rand ihres Gesichtsfelds. Hinter der Führerkabine lehnte ein Mann am heruntergelassenen Fenster; er reckte den Kopf in den Führerstand und sprach mit dem Fahrer. Die Straßenbahnen, nachts, fuhren wie in einem anderen Aggregatzustand. Sie wollten mit Beförderung nichts mehr zu tun haben, sie fuhren nun für sich selbst. Zum Vergnügen der Tramführer, die nun die Schienen für sich hatten.
Hunger, bald werden wir beide Hunger haben, dachte Wild, plötzlich entsetzt. Und der da wird ein Abendessen vorschlagen, nur um noch ein weiteres Lokal aufzusuchen. Dieser Sack. Fresssack.
Es ist schwer, den andern von sich fernzuhalten, wenn man mittelschwer betrunken ist. Wie in diesen Boxkämpfen. Man kommt einfach nicht mehr auseinander.
Weiche von mir! Aber so einfach ist das nicht, wenn man stundenlang vorgegeben hat, ein Freund oder wenigstens ein Zuhörer zu sein. Wild wollte gern ein Fuchs sein, der einsam dahinschnürt.
Irgendwie schaffte er es. Saß, es war spät geworden, allein an einer Kreuzung, an der alle vier Ecken von je einer Kneipe erleuchtet waren. Das Licht traf sich in der Mitte der Kreuzung. Die im Zentrum hängende Straßenlaterne schnitt darüber einen Kegel aus der Dunkelheit heraus. Es war einer der schönsten Salons, die Wild je gesehen hatte. Nutten stöckelten vorbei, Lateinamerikanerinnen mit ihren Brüsten in der Rockauslage, ihren Auberginen, tiefschwarze Frauen, zu alt für den Beruf, dick und schwer. Stöckelten anscheinend erfolglos. Wer mochte ihre Kundschaft sein, wer die Liebhaber dieser schwarzen Damen, die bereits am Morgen früh vor ihrem Salon standen, dem Schaufenster mit der Jalousie, hinter der ein Fernseher stand, ein Stuhl knapp sichtbar war? Begehrte man sie, oder hatte man sie einfach nur nötig gegen die Einsamkeit?
Eine trug eine Lehrerinnenbrille und einen Mittelscheitel in ihrem ölig schwarzen Haar und, wenn es kühl war, eine Jacke bis über die Knie. Sie machte keine Anstalten, sich anzubieten. Sie stand da, an die Hausmauer gelehnt, stumm in ihrer tiefen Schwärze, wie verirrt.
Nicht wie jene grellblonde Schweizer Kollegin, die Wilds Hund angemacht hatte, als er mit ihm an der Leine an ihr vorbeikam. Sie hatte den Rock gehoben und, immer zum Hund, gesagt: Na, willst du ficken? Natürlich zog Wild den Hund von ihr weg.
Trinker mit tiefen Furchen im Gesicht kamen vorbei vor dem kleinen runden Blechtisch. Wild musste immer ein wenig den Kopf heben, er hatte die Rolleiflex-Perspektive, den Blick auf die Welt vom Bauchnabel aus. Ausgemergelte Männer, abgerissene, wo hatten sie das Geld zum Trinken her? Allen hier, den Jungen, den Alten, den Neugierigen, den Gewohnheitstrinkern, schien das Geld fürs Bier niemals auszugehen.
Vier Kneipen übereck, jede einer andern gegenüber. Alle warfen sie ihr Licht auf die Straße, einen hellen Teppich. Wie das gelbe Licht vor van Goghs Café in Arles, dachte Wild, eines seiner Lieblingsbilder. Das ist doch die Welt, dachte er verblüfft, sie kommt zu dir, du musst nur sitzen bleiben.
Es war ein großer Friede in dieser Zeitweil, die sich wie ein aus dem Mund gezogener Kaugummi in die Länge zog. Ein Mann mit einer Handharmonika hatte vor der Bar gegenüber zu spielen begonnen. Er saß vorn auf der Stuhlkante und zog und drückte den Balg. Musette, was sonst. Einer neben ihm hatte zwei Holzlöffel zwischen die Finger genommen und schlug einen wirbelnden Takt abwechselnd in seine Hand und auf den Tisch. Und dann tanzten zwei junge Leute, zwischen Nutten und Trinkern aus dem Innern der Bar aufgetaucht, tanzten zum Musettewälzerchen eng und leicht. Es kümmerte sich keiner um sie, sie tanzten in dem gelben Licht und schoben dann ineinander verwoben zum Dunkel hin, dorthin, wo die Hinterhöfe sich auftaten, dorthin, wo der Schein aus den Wirtschaften verdämmerte, wohin der Klang der Handorgel hinter ihnen herlief wie ein Hund.
Am Morgen war diese Straße ohne Erinnerung. Früh war eine Reinigungsmaschine durchgefahren, zuerst auf der Straße, indem sie einen engen Bogen um jedes geparkte Auto beschrieb und einen kompliziert gewundenen Nassstreifen auf dem Asphalt hinterließ. Danach fuhr die städtische Arbeitsbiene mit wichtigtuerischem Gelärm auf dem Trottoir auf und ab. Papierfetzen, zerknautschte Büchsen, die üblichen Zigarettenstummel, den ganzen Vergnügungsmüll wischte sie mit gegeneinander drehenden Bürsten in ihr aufgeworfenes Hinterteil. Die eisernen Läden vor den Kneipeneingängen waren heruntergelassen.
Wochen später stellte sich heraus: Borbakis war unfähig gewesen, auch nur einen Fuß nach Paris zu setzen. Wild traf ihn auf dem Markt am Helvetiaplatz, wo er, der erfahrene Genießer, ihn, den Neuling, auf den Verkaufswagen eines Metzgers aufmerksam machte. Nur allerbeste, ausgewählte Ware, sagte er, da, schau, Lammgigot aus Sisteron!
Er war nicht nur nicht in Paris gewesen, es war vielmehr, als wolle er von seinem Projekt nichts mehr wissen. Nur noch der Metzger schien ihn zu interessieren, der Käsehändler, der Stand des Bäckers.
Gut, so weit.
Place de la Contrescarpe
Wo war Helen? Wo zum Teufel? Die Frage war Wild nicht fremd. Nein, nur zu gut bekannt.
Helen war Abwesenheitsweltmeisterin. Entweder war sie grad in Tokio oder auch nur in einem Seminar im Oberengadin, mehrmals im Jahr und spurlos darin verschwunden, mit der schwierigen Vereinigung von Körper und Geist befasst. Oder aber auch nur in der Stadt unterwegs, dies dafür erstaunlich ausgiebig. Es war hell gewesen und wurde wieder dunkel, aber Helen war noch immer nicht zurück. In früheren Jahren hatte Wild sich oft gefragt: Wen kennt sie nur, den ich nicht kennen darf?
Also entweder nicht da. Oder aber da und nicht da: in sich gekehrt. Schweigsam, eben zum Beispiel darüber, wen sie in der Stadt getroffen hatte. Unmitteilsam in einem Maß, das Wild auch nach Jahren immer noch verletzte. Freiwillig sagte sie nie, wo sie hinging. Wenn Wild sie fragte, sagte sie es eher mürrisch und im Was-geht-es-dich-eigentlich-an-Ton. Hatte er aber gefragt, kam er sich selber dumm vor, nicht eifersüchtig nach all den Jahren, nur dumm. Er hätte es nicht wissen müssen, es änderte nichts an der Tatsache ihrer Abwesenheit, wenn sie sagte, dass sie zum Zahnarzt ging.
Im übrigen habe sie ihm das schon zweimal gesagt, die Handtasche unterm Arm, die Haustür hinter sich zugezogen.
Mit ihrer Abwesenheit erzeugte sie eine Abwesenheitsanwesenheit, in der sie anwesender war, als wenn sie da gewesen wäre.
Sie konnte Hüte tragen, Helen. Wenn sie in der Menge auf dem Bahnsteig verschwand, drehte sich ihr Hut nicht nach Zurückgebliebenen um. Sie war schon fort, wenn sie noch da war.
Am schlimmsten war es, wenn sie nach einer ihrer größeren Abwesenheiten nach Hause kam, oder besser, nach Hause gekommen sein sollte. Wild war pünktlich da, sie noch nicht. Was war jetzt wieder los? Gereizt machte er ihr dann die Tür auf. Sie hatte nur noch eine Besorgung gemacht auf dem Weg; bereits war der Bitterstoff in ihrem Wiedersehen.
Sie musste doch so für sich selbst sein können, wie er das auch für sich verlangte.
Nur, es blieb so etwas wie ein Trauma, dass sie sich in ihren Abwesenheiten ganz auflöste und eine andere würde, in einem anderen Leben. Ohne ihn. Als ob es ihn gar nie gegeben habe.
Sie konnte ja nicht telefonieren, aus Sils Maria nicht und auch nicht in ihrem Tokioter Hotel; sie konnte überhaupt nicht telefonieren. Warum sollte sie ihn anrufen, fragte sie. Es war ja nichts passiert. Also hätte etwas passieren müssen, damit sie angerufen hätte. Aber es war nie etwas passiert.
Nur dass Wild, zu Hause, minutenlang auf den weißen Plastikkörper ihres Telefonapparats schaute, die Knöpfe abzählte und sich fragte, ob es doch, und zwar jetzt gerade, vielleicht klingeln würde.
Wenn es später klingelte, Wild erschrak, war es die Gesellschaft für Marktforschung, die eine Telefonumfrage über die Gewohnheiten der häuslichen Vorratshaltung machte.
Mein Name ist Sonja; ich wollte Sie fragen …
Wild hängte ein, nicht ohne einen Augenblick sich nach einer anwesenden Sonja zu sehnen. Bereits hatte ihm ihre Stimme eine hübsche, eine liebenswerte Frau hingemalt. Er stellte sich vor, wie er sie in ihrer Telefonzentrale aufsuchte, die Reihen der Telefonistinnen abschritt, bei ihr stehen blieb und sie sanft von ihrem Kopfhörer befreite –
Die mildeste Form von Helens Telephobie war später die Altersform. Sie rief an, ganz freiwillig, und erkundigte sich nach einer Kleinigkeit. Wild freute sich. War sie handzahm geworden?
Sofort sagte sie, als hätte sie Wilds Behagen gespürt: Aber warum rufe ich eigentlich an?
Sie schien dabei zu lächeln am andern Ende der Leitung, ratlos zu lächeln, oder auch nur fragend.
Dann sagte Wild, auch er milder geworden in so vielen Jahrzehnten: Weil du mich liebst. Weil ich dir fehle. Weil du mich fragen möchtest, wie es mir geht.
Ja.
Vielleicht war es auch nur: Helen war selbständig, Wild nicht. Au-to-no-mie! In diese Richtung jedenfalls wäre ihre Erklärung gegangen, das wusste Wild. Also fragte er sie gar nicht. War ja seinerseits viel unterwegs, und so wie sie, ohne den andern. Er nannte es seinen Beruf.
In Paris zum Beispiel, jetzt. Freilich ohne Borbakis, den er niemals mitgenommen hätte. Nikos! Stieg versuchsweise dem nach, was für den nur eine Idée fixe gewesen war.
«Fröhliche Weihnachten und Multi Grazie fürs Halstuch», hatte Ernest Hemingway in seinem Hotelzimmer an der Rue Jacob in amerikanisch-italienischem Kauderwelsch geschrieben.
Wild saß an der Place de la Contrescarpe, nach vielen Jahren wieder. Um die Ecke war Hemingways spätere Adresse: Rue Cardinal Lemoine.
Hemingway war damals 22, war verwundet, aber munter aus dem Krieg zurückgekommen und lebte nun zum ersten Mal in Paris. Er war verliebt und schrieb übermütige Briefe nach Amerika.
«Unser Zimmer schaut aus wie eine Distille – Rum, Asti Spumante und Vermouth Cinzano füllen ein ganzes Bord. Ich braue einen Rumpunsch, der Dich umwerfen würde. Das Leben ist spottbillig. Das Hotelzimmer kostet 12 Francs, und der Wechselkurs für den Dollar ist 12.61. Ein Essen für zwei kostet den Mann 12–14 Francs – ungefähr 50 Cents pro Kopf. Wein kostet 60 Centimes. Guter Tischwein. Rum kriege ich für 14 Francs die Flasche. Vive la France.»
Künstlerleben eines Journalisten, der ein Schriftsteller werden wollte. Wie schon so manchem, sollte Paris ihm dabei helfen.
Wild saß vor dem Café Delmas und blätterte in dem Band «Selected Letters», den er am Abend in seinem Antiquariat an der Rue Madame gefunden hatte. Es war noch früh am Morgen, die Sonne schien schräg durch die Rue Lacépède auf den Platz. Es war erst gegen neun, der Tag glänzte, der Asphalt war gefegt, die drei Tischreihen vor dem Café noch leer.
Lediglich im Innern, an einem der Fenster, die bis zum Boden gingen und offen standen, saß eine junge Frau an einem Laptop, die blond melierten Haare hochgesteckt, Mèches. Wild wandte sich wieder dem Platz zu, Contrescarpe. Es war nicht so, dass er nicht sofort den Mangel gespürt hätte. Er saß in der dritten Reihe, der hintersten, mit dem Rücken zum Café.
Der Kellner hatte wortlos das Perrier gebracht, das Wasser im Fläschchen, das er vor ihm geöffnet hatte, ein hohes Glas, ein Schnitz Zitrone, ein langstieliges Löffelchen, Eis im Glas, eine Papierunterlage auf dem Tablett. Das Mineralwasser würde nicht gerade billig sein.
Vive la France! Mit Perrier und ein wenig Hemingway-Feeling. Am unschuldigen Morgen –
Vor Wild lag der kleine, intime Platz. Er kannte ihn seit über fünfzig Jahren. Er hatte sich mit ihm verändert. Einst eine dunkle, schmutzige Insel, Dreck und Armut, war das unregelmäßige Viereck, dem ein Rund eingeschrieben war, ein Treffpunkt des Tourismus geworden. Die kleine Gartenanlage in der Mitte. Wo früher die Clochards auf ihren Fetzen gelegen hatten, standen stadtverschönernd vier großblättrige Judas-Bäume, ein Springbrunnen. Die Anlage umstellt und gesichert mit dicken schwarz lackierten Eisenpfosten, die durch schwere Ketten untereinander verbunden waren. Propere Menschen, keine Clochards mehr.
Drum herum nur noch Restaurants, Bars, Kneipen: Bonjour Vietnam, Pub Le Requin, Häagen-Dazs, Bistro Italien, Les Arts. Eine Boulangerie.
Die Contrescarpe war Teil des neuen Paris geworden, das unter Pompidou und Mitterrand begonnen hatte und das, unmerklich aber für immer, das alte Paris, das Paris der Nachkriegszeit abgelöst hatte. Ein modernes, durchlüftetes Paris, aus dem, wenigstens hier im Zentrum, nicht in den Vorstädten, der Geruch der Armut vertrieben worden war, die Fassaden erneuert, die Dächer leuchtend in ihrem unfassbaren Graublau.
Grünpflanzen, früher hier undenkbar, standen in Kübeln vor dem Café. Verblasste Aufschriften, undeutlich gewordene Reklamebilder an den wenigen nicht erneuerten Hauswänden erinnerten, fast unleserlich geworden, daran, dass es einmal eine andere Zeit gegeben haben musste. Den Vermouth, den sie einst angepriesen hatten, gab es nicht mehr.
Im Rinnstein lief noch immer das Wasser die Straßen hinunter, von nassen Tuchlappen kanalisiert, lief quirlend und munter, auch wenn es im Straßengraben nicht mehr viel zu putzen und wegzutragen gab. Das Wasser lief und vergurgelte irgendwo in einem Kanal und erinnerte an das Wasser und wie es früher, damals und einst, geflossen war. Und wie es früher gewesen war.
Es war Juli, und Wild hinter seinem Perrier jubelte und beglückwünschte sich. Er war am Leben, er war in Paris. «Vigilance-Propreté» stand auf den Abfallsäcken, die wie Trauerfahnen aus ihren Gestellen hingen, vier Abfallsäcke, vier Bäume, aber Wild war einverstanden, sowohl mit der Wachsamkeit wie der Sauberkeit als auch mit dem Abfall. Er war überhaupt mit allem einverstanden, hier und jetzt, auf der Place de la Contrescarpe. Es gab in der ganzen Stadt im Augenblick nichts, mit dem er nicht einverstanden gewesen wäre.
«This side is the place for a man to live», hatte Hemingway an einen Kriegskameraden von der Piavefront geschrieben. «Hash and I are moving to an apartment at 74 Rue du Cardinal Lemoine. We’ve been having a priceless time and I’ve been working like hell.»
Wild blätterte in seinem Briefband.
«Wir kamen über Spanien und verpassten den großen Sturm um bloß einen Tag. Du müsstest die spanische Küste sehen. Große braune Berge glitten wie müde Dinosaurier ins Meer. Möwen, die hinter dem Schiff flogen, standen so beständig gegen den Wind, dass es aussah, als ob jene Holzvögel, die wir an den Häusern haben, an Drähten höher und tiefer gezogen worden seien. Ein Leuchtturm wie eine kleine Kerze steckte auf der Schulter eines Dinosauriers. Die Küste von Spanien ist lang und braun und sieht sehr alt aus.»
Wunderbar, dachte Wild.
Wild hatte immer nur ungern geschrieben. In seinen Abhandlungen verwandte er deshalb viel Zeit und Raum auf die Tabellen. Tabellen waren wie ein Programm, Häuschen, die man nur noch ausfüllen musste. Hatten alle Häuschen einen Inhalt, war die Arbeit getan.
Wild, dem übrigens die Bezeichnung Völkerkundler lieber gewesen wäre als sein Doktortitel, wusste ohnehin nicht genau, ob es nun wirklich das Interesse am Andern gewesen war, der ihn auf seine Wissenschaft gebracht hatte, oder nicht eher das Ungenügen an den eigenen Verhältnissen, der Familie des Herkommens, den beschränkten Möglichkeiten, die ihm in seiner Stadt zur Verfügung standen. Immer schon hatte er von einer Steppe geträumt, die am Horizont nicht aufhören sollte. Dass es auch darin Menschen geben musste, war ihm eigentlich nicht bewusst gewesen.
Es sollte sein Abenteuer sein, sein Leben.
«Dann kamen wir hoch über die Normandie», hatte Hemingway weiter geschrieben, «durch Dörfer mit dampfenden Misthaufen und langgestreckten Feldern und Wäldern mit den Blättern am Boden und Bäumen, die entlang den Stämmen und weit nach oben abgeästet waren, und gewellt wogendem Land und Türmen hinter der Kuppe. Dunklen Bahnhöfen und Tunnels und Drittklassabteilen, voll mit blutjungen Soldaten, und schließlich alle schlafend in deinem Abteil, der eine gegen den anderen gelehnt und mit den Köpfen wackelnd im schwankenden Zug.»
Vive la France!
Zu Frankreich hatte Wild eine Beziehung, die erinnerte ihn an etwas Früheres. An etwas, was vor seinem eigenen Leben zu liegen schien. In einem alten, lange unbewohnten und vernachlässigten Haus im Burgund war er einmal in eine Vergangenheit zurückgekommen, die er als schon einmal erlebt und doch als vor allem Gewussten und Erinnerbaren liegend empfand. Als wäre er schon einmal da gewesen als ein Anderer und fände sich nun wieder. Und das Haus erkannte er wieder bis in die Details, die heller und dunkler gefärbten grauen Türfüllungen, den hellblauen Wandanstrich mit seinem Ornament, die weißen Türknäufe aus Porzellan. Eine Art Nachhausekommen war das, ohne dass er zuvor da gewesen wäre. Die Zimmer mit den tiefgezogenen Fenstern, die in den ersten Stock hinaufführende Holztreppe mit ihren gebohnerten Stufen und dem schimmernden Handlauf auf Eisenstäben. Und vor dem Haus, drei Sandsteinstufen tiefer, der langgestreckte Garten oder Park. Und das Grundstück, von seinem hohen Eisenzaun umgeben, darin eingeschlossen der dunkle Boden, mit Laub bedeckt vom vergangenen Herbst, aus dem, weiß und unschuldig, die ersten Anemonen hervorgekommen waren. Er war schon einmal hier gewesen, in einem großen Traum, der undeutlich blieb, wie tief bestaubt. Und den er im hellen Licht des Tages gleich wieder vergaß.