Kitabı oku: «Die Gärten der Medusa», sayfa 4

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Aber Cook und die Sandwich-Inseln und Gauguin und Tahiti; die «Kon Tiki», Thor Heyerdahl, den Pazifik und die Schwarz-Weiß-Fotos der haushohen Wellen, über die das Balsafloß schieferte hinab in die Wellentäler, jählings hochgehoben vom nächsten Wellenkamm: Das alles gab es nur in den Büchern.

Joseph Conrad, zu seinem Glück und Vorteil las er ihn nicht zu früh. Als er bereit war für Ausfahrt, Flaute, Sturm und Untergang als Gleichnis des Lebens, doch auch für das Versprechen der Ankunft. Das Schiff nicht nur das Zeichen des Aufbruchs, des Raums, das es vor sich hat und erobert, sondern immer auch des Ankommens. Ankunft. Ufer. Der Pier, man legt nicht nur von ihm ab, man kommt an einem Pier an, an einem anderen, Zweck der Reise.

Niemand hatte das so zu sagen gewusst wie Conrad, und auch Joseph Conrad schaute schon zurück, als er zu schreiben begann, immer schon zurück, nicht nur auf seine Fahrten und seine See. Er kannte die Bitterkeit einer Ankunft an einem Ort, der nicht mehr der ist, der er einmal gewesen ist. Den scharfen Schmerz des Zu spät, das die des Nachkommen prägt, und sind wir nicht alle zu Nachkommen geworden? Sind wir nicht alle nur noch Spätere?

Mon Dieu, dachte Wild, das wäre noch mal eine andere Bibliothek als die Borbakis’sche: meine Schiffe und ihre Gewässer, Darwins «Endeavour», und Melvilles «Quequod», Conrads «Narcissus», die real existierende «Normandie» und all die Modelle von ihr bis zu Catherine Anne Porters «Ship of Fools», das keinen Namen hat; die schreckliche «Tirpitz» und das Balsafloß «Kon Tiki». Fellinis «Rex» und sein Dampfer in «E la nave va» – wie heißt er denn?

Die Schweizer im Anhang, «Rapperswil» und «Stadt Zürich»; die Blüte des vierwaldstättischen Dampferwesens, «Wilhelm Tell», «Gallia», «Rütli», «Winkelried» und «Stadt Luzern», wenn denn Süßwasserkähne überhaupt erlaubt wären, als Minima Helvetica wenigstens und wegen ihrer Bordrestaurants und Salons. Die «Medusa» samt ihrem Floß, ein Segelschiff, das scheiterte und sein Rettungsboot, das der Toten und gleichzeitig das der 68 Überlebenden, die an die afrikanische Küste kamen. Die «Argos», Medusas Vorläufer, die «Flying Dutchman», und die Gewinner, «Santa Maria» und die «Nieuw Hoorn». Mit einem Sonderdossier über die Arche, na klar, die namenlose Arche.

Die «Biblioteca Theodoriana», vielleicht auch einfach die «Neptuniana» genannt, der Eingang von einem Meeresanrainer, dem Barcelonesen Calatrava gestaltet, als Dampfer-Bug aus Metall und Glas. In ihrem Lesesaal mit der Aufsichtskanzel als Kommandobrücke – an der Wand als Großgemälde und Zentralmetapher Fellinis Filmbild von der vorüberziehenden «Rex», dem Dampfer und den Menschen in den Booten, die zu ihm hin­überwinken –, im Lesesaal würden die Bücher aufliegen, eine nautisch-mariniere Präsenzbibliothek, Auswahlprinzip Wilds Wünsche. «Moby Dick» selbstverständlich, in allen erreichbaren europäischen Ausgaben, auf dem Index aber alle amerikanischen, da die Amerikaner nicht fähig gewesen waren, das Buch bei seinem Erscheinen auch nur im Entferntesten zu würdigen, obwohl es doch die große Meeres-Saga einer nur bedingt seetüchtigen Nation darstellte. Alles von Joseph Conrad, Mirakuli wie Michael Ondaatjes «Katzentisch», und selbstverständlich auch Corréards und Savignys Bericht über Untergang der französischen Fregatte «Méduse» und das Schicksal ihres Floßes.

Schön das, dachte Wild, gut, dass er sein Perrier immer noch nicht bezahlt hatte. Hier, in diesem Lesesaal, in diesem dem großen Salon der «Normandie» nachgebildeten Art-Déco-Lesesaal würden einige der Werke geschrieben werden, die bis heute zu fehlen scheinen:

«Es wird Nacht in den Tropen. Kulturgeschichte eines Mythos.»

«Ablegen. Eine Phänomenologie des Abschiednehmens.»

«Die Ufer bei Joseph Conrad: Das Meer und seine hängenden Gärten & Promenaden.»

«Titanikisch Untergehen. Die Katastrophe als Sehnsucht und Sehnsuchtserfüllung.»

Es reicht wieder mal, Wild! Wild hatte Helens Stimme sofort im Ohr. Ihm wäre allerdings noch einiges in den Sinn gekommen.

In der Mitte dieses Lesesaals, erhöht und in einem Glaskasten, stünde das Boot der letzten Überfahrt. Jedenfalls nannte Wild es so.

Wild hatte es am Tag zuvor hier in Paris gesehen. Es stand in einer Vitrine in dem neuen, von Jean Nouvel direkt an die Seine gebauten Quai Branly, stand also an einem Weg zum Meer, stand in der Ozeanienabteilung des Musée des arts et civilisations d’Afrique, d’Asie, d’Océanie et des Amériques, einer hinreißenden Sammlung, die Wild jedem empfahl, von dem er hörte, er reise demnächst nach Paris.

Obwohl ich Anthropologe bin und ihr mir gerade deswegen misstrauen werdet – geht an den Quai Branly, um Gottes willen.

Das Boot war aus einem einzigen Baumstamm gehauen und an die zwei Meter lang. Die geschwungene Form des Nachens glich einem schmalen Halbmond, der auf dem Rücken lag, so wie bekanntlich in den Tropen auch die Sichel des Mondes als Barke über den Nachthimmel gleitet. In der Mitte des Bootskörpers war eine rechteckige Öffnung ausgespart; in dieser lag ein bleckender Schädel, die Augenhöhlen zum Bug hin gerichtet.

Südsee.

Der Nachen hatte der Überfahrt von diesem Leben in ein anderes gedient. Dieses Leben war nur ein vorübergehendes, auf der andern Seite der See aber warteten die Geister der Ahnen, die, wie diese Seele hier, unsterblich waren. Die Insulaner gaben der Barke mit der Asche des Verstorbenen einen Stoß. Sie trieb aufs Meer hinaus und verschwand, entkam für immer, denn sie fuhr mit ihrem Passagier in eine andere Zeit, in einen andern Raum.

Wild war sitzen geblieben. Es spürte die Eile nicht, die ihn sonst immer weitertrieb, mahnte, obwohl er keine Eile hatte. Das Perrier war ausgetrunken. Sollte er sich, an diesem historischen Ort der Trinker und Chômeurs, nicht ein Glas Weißwein bestellen?

Der Kellner stand mit dem Rücken zu ihm. Als er sich umdrehte, übersah er Wilds erhobene Hand. Dann drehte er sich wieder weg. Wild, ein Gaststättenduckmäuser, wagte nicht, zu rufen.

Monsieur!, das hätte genügt. Aber sein «Monsieur» hätte keine Ausrufezeichen gehabt. Er hätte das gar nicht fertig gebracht, diesen einfachen Ton, der einen französischen Kellner in Bewegung setzt.

Garçon, konnte der Franzmann neben ihm sagen, halblaut bloß, und sofort rief der weit entfernt einen Tisch wischende Kellner: J’arrive!, Monsieur. Wilds «Monsieur?» tönte wohl so ähnlich wie «Lieber Herr Kellner, würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, einen Augenblick zu mir herüber zu kommen; ich möchte bloß zahlen, Sie müssen mir nicht noch einmal etwas bringen, bitte sehr, bitte die Störung zu entschuldigen, gewiss haben Sie, und grad in diesem Augenblick, Wichtigeres zu schaffen …»

Die Contrescarpe lag nun im vollen Licht des Juni. Ohne dass Wild weiter etwas gesagt hätte, kam der Kellner an seinen Tisch.

L’addition, Monsieur?

Es ging gegen Elf. Alle Dunkelheit von damals vertrieben, ausgelüftet, verweht. Der Wohlstand, also Geld. Das neue Europa.

Wild bestellte nun doch noch ein Glas Weißwein.

Paris war eine dunklere Stadt gewesen, nicht nur nachts, als es noch finstere Gegenden gab hier, im historischen Zentrum. Es schien auch tagsüber grau zu bleiben. Grau, wo es heute weiß war. Geweißelt.

Ende der Fünfzigerjahre. Nicht viel mehr als zehn Jahre war es her, dass die Deutschen, die Besatzer, die durch die Stadt dröhnende, marschierende, lungernde Wehrmacht abgezogen war. Die Fotos von damals zeigten einen Schmerz im Gewebe der Stadt.

Damals schon, als er zum ersten Mal nach Paris gekommen war, war es für Wild unvorstellbar gewesen, dass sie es überhaupt gewagt hatten, die Hauptstadt der Franzosen, die Ville Lumière, zu besetzen. Einen Ort, von dem sie in ihren ernsten Städten nirgendwo auch nur einen Abglanz hatten.

Keinen blassen Schimmer von Charme und Eleganz des Art Déco mit seinen femininen Rundungen, die Deutschen, die mit ihrem Bauhaus die Welt über Schnittkanten definierten und, viel schlimmer, das alte Rom vor Augen, mit dem hitlerischen Nürnberg ihre morose Weltanschauung, ein Wort, das im Französischen bezeichnenderweise nur als «la weltanschauung» existiert, in Sandstein umgesetzt hatten. Oder hatten umsetzen lassen.

Was war das bloß für ein Spuk gewesen, diese Soldaten und Offiziere in Paris, die Wehrmacht samt Gestapo, mit ihrer eng uniformierten, wassergescheitelten, stiefelbewehrten, waffenknarrenden Soldateska?

Bert hatte die Zeit genutzt, um weitere Reisen zu unternehmen. Auch für Bert war die Aare nicht Fluss genug.

Von Basel war er auf dem Rhein mit einem Lastkahn bis Antwerpen gefahren. Wild bekam eine Ansichtskarte des Hafens, die mit einer mäandernden Tintenkrakelei übermalt war.

Bert war Gestalter, Wild eher der Intellektuelle. In den Museen, den Ausstellungen lernte er viel von Bert, vor allem das Sehen. Bert profitierte allenfalls ein wenig von Wilds wachsendem Hintergrundwissen. Als eine einzige Person wären sie vollständig gewesen. Als zwei Freunde teilten sie jede freie Minute.

Bert war einer von vielen jungen Künstlern und Gestaltern, einer jener Fotografen und Grafiker, die Anfang der Sechzigerjahre nach Paris kamen. Bert arbeitete in einer Grafikbude als Sachfotograf, in Montmartre, in der Nähe von Pigalle, Orwell Publicité.

Bert, der große Einzelgänger, hatte nun eine Freundin, Helen. Wild war neugierig.

Aber Bert zeigte Helen nicht vor. Es schien immer einen Grund zu geben oder einen Vorwand, weswegen Helen nicht verfügbar war. Sie war gerade in Deutschland, oder sie arbeitete.

Als Wild nicht nachgab, fuhren sie mit Berts blauem Deux Chevaux an die Rue Eugène Carrière, um sie abzuholen und mit ihr in ein Bistro zu gehen. Berts Bruder hatte ihm das Auto überlassen.

Helen war noch nicht fertig, als sie die Treppen heraufgekommen waren. Sie hatte sich die Haare gewaschen und saß nun, um sie zu trocknen, auf dem Boden, mit dem Rücken zu einem Heizungskörper, ein blaues Tuch wie einen Turban um den Kopf.

Paris war damals voll von Schweizern, Deutschen, Amerikanern, die in den grafischen Berufen, in Werbeagenturen und bei den Zeitschriften arbeiteten. Paris war die Hauptstadt der Kunst. Und die Ausländer beherrschten die Szene der angewandten Künste.

Wild hatte einige von ihnen zusammen mit Bert in der Brasserie Coupole oben am Boulevard Montparnasse kennengelernt. Die Schweizer hatten die Geldscheine locker in der Tasche, die knisternden riesigen Francs-Noten. Bert zog sie lässig aus der Brusttasche seiner Jacke.

So war auch Helen nach Paris gekommen, mit einer Mappe mit Zeichnungen aus ihrer Kunstschule in Wuppertal auf der Suche nach Arbeit. Eine zarte deutsche Blondine, eher klein; die hohen Absätze ihrer ausgesuchten Stöckelschuhe machten sie nicht viel größer. Sie war verletzlich, fraulich und schön, mit einem Augenaufschlag, der ihre blau getönten Lider wie zwei Markisen langsam über den strahlend grünen Augen hochgehen ließ.

Ein Kriegskind ehedem. Im Nachkriegsdeutschland, aus dem sie kam, hatte sie wohl ihren Willen erworben; sie war aus dem Geschlecht derer, die niemals aufgeben. Zäh, mit einem jederzeit aktivierbaren Potenzial an Verzicht. Es ging bei ihr immer auch ohne, wenn es sein musste; ohne Geld und, wenn es sein musste, ohne den Andern.

Der väterliche Teil ihrer Familie war eine oder zwei Generationen vor ihrer Geburt aus dem slawischen Osten gekommen, der damals noch deutsches Reichsgebiet war. Eigentlich hätte das katzenhafte Elena gut zu ihr gepasst. Später in Rom, als sie die «Signora» geworden war, die sie immer schon gewesen war, wurde sie für die neuen römischen Freunde doch noch eine Elena. Lebenslang blieb ihr im Deutschen aber die Helene erspart.

Manchmal machte einer eine Anspielung auf Faust und die klassische Helena. Darauf wusste sie Entgegnung.

«Finden Sie nicht auch, dass Goethe unendlich überschätzt wird?»

Worauf am Tisch, nach einigem Staunen, sofort die Kon­troverse ausbrach.

In ihrer eigenen Familie sagten alle Lena zu ihr. Hatte Wild mit ihr später eine Auseinandersetzung, wollte sie weder Lena noch Helen hören, dann wollte sie eine vollständige Helena sein. Das musste sie nicht aussprechen, klar war das allemal.

Nach ihrer Scheidung von Wild nannte sie sich Helen, nahm aber ihren Mädchennamen nicht wieder an.

Helen war in Paris von Agentur zu Agentur gezogen mit ihrer Mappe. Kreuz und quer durch die Stadt, in der Metro, die riesige Mappe unter dem Arm. Der Untergrundbahn, in der sie angestarrt, angerempelt und angefasst wurde und bald ihr Gesicht mit einem Tuch verhüllte, sich wie eine polnische Magd verkleidete, wie sie sagte.

Sie klapperte die halbe Stadt ab, la sacrée allemande, und sie bekam ihre Stelle, in Montmartre, in einer der Straßen, die vom Pigalle zum Moulin de la Galette hinaufgingen, einer ehemaligen Guingette, einem Tanzlokal, in welchem immer schon Künstler verkehrt hatten, von Renoir und Pissarro zu Van Gogh und Picasso. Da fand Helen Arbeit in jener kleinen Agentur, an jener Rue Germain Pillon, um genau zu sein, für die auch Bert arbeitete, bei Orwell Publicité.

Der Firmeninhaber nannte sie bald «Mademoiselle Outre-Rhin», er mochte sie offensichtlich. Als sie nach eineinhalb Jahren die Agentur verließ, sagte er zu ihr: Elène, ma chère, vous pouvez toujours revenir.

Am Mittag ging man mitunter quer über die Straße in ein Lokal, in dem es einen günstigen Mittagstisch gab, und wo sich, ebenfalls schon am Mittag, eine Stripperin produzierte, der man einen Geldschein zwischen die Brüste oder sonst wohin steckte.

Wild, der Student aus Bern, war nie dabei gewesen –

Mit einer Italienerin, Ida, die von einem Jazzmusiker namens Gerry Mulligan unglücklich und allein in Paris zurückgelassen worden war, wohnte sie zusammen an der Rue Eugène Carrière, gleich hinter dem Cimetière Montmartre.

Es war kalt in Paris, Geld knapp. Helen und Ida steckten ihre Füße gemeinsam in den Gasbackofen, um sie zu wärmen. Ida kochte Spaghetti gegen ihre Einsamkeit, Spaghetti warms the soul, sagte sie. Sie kam aus dem italienischen Süden, aus Salerno.

Auf der Straße standen noch die Vespasiennes, die Pissotières, die Henry Miller so liebte. Und «Black Spring» stand, in der Ausgabe von Olympia Press, bei Ida und Helen, das verbotene Buch eines anderen Amerikaners, der Paris so geliebt und verstanden hatte, wie das nur Zugewanderte können.

Man ging an diesem Abend, als Wild Helen endlich begegnete, zu einem Chinesen.

Wild war noch nie bei einem Chinesen gewesen, er hatte überhaupt noch nie einen Chinesen gesehen.

Aber an diesem Abend war ohnehin alles zum ersten Mal.

Es war das erste Mal, dass er Helen sah. Er saß ihr gegenüber.

Zum ersten Mal der Geschmack von Soja.

Zum ersten Mal Reis aus einer Tasse.

Zum ersten Mal Bambus.

Glasnudeln.

Kreuzkümmel.

Litschis.

Und Helen, die nach einem unendlich langsamen Augenaufschlag, dem Geschmack der Frucht nachsinnend, sagte: Die Pforte zum Paradies.

Wild fands nicht kitschig.

Der Chinese, als er die Wasserkaraffe brachte, sagte grinsend: Eau de palapluie.

Alle lachten.

Die Zeit wurde sehr jung.

Helen beschwerte sich lachend über Bert, ein Langweiler, sagte sie, weil er nie mit ihr ins Theater gehe.

Bert ging ins Kino. Film, sagte er, ist Kino, Kino ist gemeinsam geteilte, gemeinsam akzeptierte Illusion. Im Theater aber tun sie immer so, als ob das, was sie sagen, wahr wäre. Dabei weiß jeder, dass er im Theater ist.

Da, wo Helen hergekommen war, einer deutschen Provinzstadt, in der Georg Büchner einst gelebt hatte, war Gustav Rudolf Sellner gerade daran, das deutsche Theater neu zu erfinden, mit Franzosen wie Sartre, Audiberti, Beckett und Ionesco.

Helen wollte ins Theater gehen.

Wild bot sich an. Er studiere das, sagte er. Möge Theater.

Aber es brauchte einige Anrufe, bevor sie zusagte. Er spürte, als er wiederholt ihre Nummer einstellte, dass er eine Grenze überschritt, er spürte es an seiner Nervosität.

Er traf Helena gleich vor dem Theater. Sie hatte die Haare am Hinterkopf zu einem Chignon zusammengebunden und mit einer schwarzen Schleife festgesteckt. Sie war sehr schlank, und sie betonte ihre schmale Taille mit einem knapp geschnittenen Mantel.

Wild hatte die Tickets in der Hand, schon seit dem Vortag.

Helen sah einschüchternd fraulich aus und sehr viel erwachsener, als Wild sich fühlte.

Das Théâtre Mouffetard war ein Ort der Avantgarde, ein Stück von Ugo Betti war auf dem Spielplan. Von Ugo Betti wusste er nicht mehr, als dass er ein moderner, vielleicht ein avantgardistischer italienischer Autor war. Im «Pariscope» hatte er gelesen, dass es in dem Stück «Corruption au Palais de la Justice» um einen Richter ging, der im Lauf einer Strafuntersuchung auf seine eigene Schuld stößt. «Pariscope» hatte Ugo Betti mit Kafka in Verbindung gebracht. Zu Kafka hätte Wild etwas sagen können.

Helen wunderte sich, dass der Zuschauerraum mit seinen schräg absteigenden Sitzreihen in einem grauen Halblicht lag. Wild war sofort Fachmann.

Arbeitslicht, sagte er.

Sie hatte sich zu ihm gewandt und ihn fragend angesehen. Es war das erste Mal, dass sie ihn richtig ansah.

Das Bühnenportal stand offen, in das gleiche graue Licht getaucht wie der Saal. Es war, so jedenfalls hat Wild sich immer erinnert, als hätte ein leichter Dunst oder Nebel im Raum gestanden. Ein langer Tisch stand quer zur Bühne, nach vorn an die Rampe gerückt, ein Stuhl war daran gestellt.

So ist das heute, sagte Wild.

Wild wusste das. Man hat heutzutage keine Theaterdekorationen mehr, sagte er, kein Bühnenbild und keinen Vorhang. Alles muss aussehen wie irgendwo. Irgendwo ist überall. Überall ist gemeint. Das ist, vermute ich, seit Becketts Godot so. Dort gibt es einen Baum, oder eher einen Strunk auf leerer Bühne, sonst gar nichts. Im ersten Teil hat der Baum ein Blatt, im zweiten auch dieses nicht mehr.

Es waren wenige Leute im Raum.

Wilds ewige Angst, zu spät zu kommen; sie waren viel zu früh. Die wenigen, die bisher gekommen waren, saßen verteilt über den ganzen Raum, einige einzeln, manche zu zweit, sprachen leise miteinander. Andere schienen zu schlafen.

Aber es kam niemand mehr.

Schlecht besucht, dieses Theäterchen, sagte Wild.

Die leere Bühne, der beinahe leere Zuschauerraum, es hätte tatsächlich ein Gerichtssaal sein können.

Auf der Bühne tat sich nichts. Wild versuchte, ihr zu erklären, dass auch dies durchaus dazugehören könne, ein Spiel mit der Geduld, mit der Aufmerksamkeit des Zuschauers.

Die Inszenierung zeigt zunächst einmal nur: das Vergehen von Zeit, sagte er.

Helen sah ihn an.

Aber es tat sich weiterhin nichts. Wild hatte schon mehrmals auf seine Uhr geschaut. Unpünktlichkeit gehörte offenbar dazu, zum Théâtre d’Essai, zum französischen.

Helena kicherte, wie es Wild schien, grundlos.

Inzwischen waren doch an die zwanzig Personen in dem Raum, der vielleicht an die achtzig Plätze hatte.

Dann betrat ein Mann endlich die Bühne.

Wild und Helen schauten gleichzeitig auf.

Der Herr trug einen Straßenanzug und eine Ledermappe, die er vor sich auf den Tisch gleiten ließ. Er setzte sich auf den bereitstehenden Stuhl, schaute in den Saal, setzte eine Brille auf, schaute wieder in den Saal. Dann legte er ein Bündel Papiere vor sich hin. Dann sagte er:

Chers parents. Liebe Eltern. Helena und Wild sahen sich an. Helen lachte zuerst. Zögernd, immer noch ungläubig erhoben sie sich aus dem Plüsch ihrer Fauteuils und schoben sich durch die Sitzreihe zum Ausgang.

Wild hatte sich im Datum geirrt.

Im Foyer kontrollierten sie den Spielplan. Ugo Betti wäre am nächsten Tag gewesen. An diesem Tag war spielfrei. Das Theater war für einen Elternabend reserviert.

Gehen wir was trinken?, fragte Helen. Wild trabte neben ihr her.

Sie schlugen den Weg Richtung Boulevard Saint-Germain ein, hinaus aus der dunklen Rue Mouffetard und über die Contrescarpe und die Rue Descartes hinunter, dorthin, zum belebten Boulevard, wo das Neonlicht blinkte, ein verwegen geschlungener Schriftzug lockte. Im Innern des Bistro liefen dünne, grellbunte Neonrohre in asymmetrischen Bögen über die ganze Decke, während ein Mosaik von Spiegelchen hinter den mit Flaschen beladenen Regalen das grelle Licht spiegelte.

Ein Flipperkasten scherbelte und klingelte in einer Ecke vor sich hin, mitunter gab er sehnsüchtige Lockrufe von sich.

Wild würde jene Bar, das Bistro, das vielleicht als «Brasserie» angeschrieben war, ein Lokal wie jedes andere, von denen es in Paris Tausende gibt, jederzeit wiederfinden, finden wollen, finden mögen, diese hell erleuchtete, spiegelchendurchblitzte, glänzend-glitzernde Höhle in der Großstadt, in dem er Helen zum ersten Mal ohne weiteren Grund und Vorwand gegenüberstand.

Wir bleiben doch an der Bar, hatte sie gleich gesagt.

Standen am Tresen, tranken ein Bier.

Wild hätte niemals zugeben mögen, dass er erleichtert war. Aber jetzt hatte er Helen für sich.

Sie lachte. Die schwarze Mèche, die sie an ihrem Chignon hatte, verdoppelte sich in dem Mosaikspiegel hinter der Bar. Ihr Rock, schmal, lag an den Oberschenkeln an und endete knapp über den Knien.

Ihr erster Abend. Ein Elternabend.

Wild sah sie später immer wieder so vor sich, in den schönen Zeiten, und in den schwierigen auch. Die aufgesteckten Haare, der schwarze Stoffschmetterling. Das helle, in der Hüfte taillierte Jackett, darüber der Mantel, der dunkle Rock.

Eine Art Netzstrümpfe und schmale Schuhe mit einem schmalen Ristriemchen und hohen Absätzen.

Wild hatte Helen damals nicht wiedergesehen. Er fuhr am nächsten Tag zurück in die Schweiz.

Helen war telefonisch nicht mehr erreichbar gewesen. Er hätte sich ja nur irgendwie bedanken wollen, dachte Wild. Er wusste, das stimmte nicht.

Sie verschwand aus Paris, und sie verschwand auch aus den Briefen, die Bert an Wild schrieb.

Bert hatte noch nie eine solche Freundin gehabt. Wie hatte er das bloß gemacht?

Der Freund kam wenige Monate später bei einem Unfall ums Leben. In Paris. Er hatte sich den Arm gebrochen, als er mit seinem Rennfahrrad gestürzt war. Der Bruch heilte schlecht und musste noch einmal operiert werden. Bert, 24-jährig, starb an einer Embolie, durch ärztlichen Fehler.

Manchmal hat Wild das Gefühl, er lebt mit der Zeit, die Bert ihm überlassen hat. Das meiste davon mit Helen, das sowieso.

Das ist er ihr schuldig. Das ist er ihm schuldig. Das steht ihm zu.

Nun endlich steht er auf, Wild. Erhebt er sich. Die Amerikanerinnen sind längst verschwunden.

Addition! Er zahlt sein Perrier mit Zitronenschnitz, Glas, Löffelchen, Tablett, Papierserviette, zahlt den Weißwein, rafft die Zeitung, überquert den Platz.

Juni. Die Place de la Contrescarpe, liegt im hellen Sonnenlicht. Es ist warm geworden, elf Uhr morgens, die beste Stunde an einem solchen Junitag. Die Blätter der Judasbäume wedeln wie mit tausend Händchen. Zwei junge Männer in Jeans lehnen an dem Geländer, das die kleine Grüninsel umgibt. Sie schauen nicht auf, als Wild an ihnen vorbeigeht. Auf der Bank in der Grüninsel sitzt ein junges Paar, ins Gespräch vertieft. Der junge Mann hat seine Hand auf dem Knie des Mädchens.

Auf den runden, mit einem Messingreif gefassten Tischchen in dem andern großen Straßencafé, gegenüber, liegen schon die Speisekarten, MENU, und je zwei blaue gefaltete Papierservietten, darauf Messer und Gabel.

Wild schwenkt in die Rue Mouffetard, die sich hier gegen Monge zu senken beginnt. Alles ist neu, links und rechts, Supermarché, L’Oulala, La Contrescarpe, Vidéo Club, Aux Fromages, V.O. Boutik, Diwali, Au Piano Muet, Mouffetard Folies, La Maison des Tartes, Bowling.

Die jungen Männer tragen ihre Hemden über den Hosen. Die Mädchen haben kleine Rucksäcke auf dem Rücken, als ob sie Äffchen trügen, kleine Kosetierchen, in denen sich nicht viel mehr als ein Lippenstift befinden kann.

Dann die Nummer 73, der Durchgang zum Theater. Théâtre Mouffetard. Es ist noch da, sieht aber ganz anders aus.

Ein Schaukasten. Mitteilung: Le théâtre a cessé sa programmation.

Las Wild.

Nous vous remercions pour ces années passées à nos côtés.

Die Jahre, die Sie mit uns verbracht haben.

Die Jahre mit uns.

Terminée.

Die Jahre ohne Wiederkehr.

Amitiés à tous.

Und hopp. Und ade.

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