Kitabı oku: «Kreuzberger Leichen», sayfa 3
Meister stellt den Napf auf den Boden und Zerberus legt sich davor. Das hat er seinem Hund beigebracht. Meister klickert Zerberus, wie die Trainingsmethode heißt. Eigentlich kann man mit ihr jedem Tier so gut wie alles beibringen. Es ist auf jeden Fall praktisch, nicht gleich von seinem Hund bedrängt zu werden, wenn man ihn füttern möchte.
»Ja«, kommandiert er und Zerberus springt auf, um sein Fressen herunterzuschlingen.
»Können wir?«, fragt Hartenfels.
»Soll ich nicht lieber hier warten, vielleicht kommt Evelyn ja bald zurück?«
»Ich lasse den Beamten unten im Hof auf seinem Posten«, sagt Hartenfels und geht zur Wohnungstür, bückt sich nach seinen Schuhen.
»Darf Zerberus mit?«, fragte Meister.
»Wenn er allein im Auto bleibt.«
»Das kann er.«
Meister nimmt seinen Mantel vom Haken, zieht ihn an und greift sich eine Hundeleine.
Draußen hat es aufgehört zu schneien, die Sonne scheint. Der Schnee glitzert, und im Riehmers Hofgarten werden mit großen Holzschaufeln die Gehwege freigeräumt.
Besser spät als nie, denkt Meister.
5. Kapitel
Hartenfels wird nicht schlau aus Meister. Den gemeinsamen Besuch bei Petersen hat er vorgeschlagen, um sich ein wenig Klarheit zu verschaffen. Die Rechtsmedizin ist für Hartenfels ein Ort der Wahrheit. Da, wo Petersen arbeitet, gibt es keinen Platz für Vermutungen. Bei Petersen sind alle nackt. Meister scheint ein Mann zu sein, der gerne spekuliert. Die Idee, dass seine Freundin demjenigen begegnet sein könnte, der die Leiche im Viktoriapark auf dem Gewissen hat, wirkte ziemlich weit hergeholt. Schließlich waren laut Petersen seit dem Mord Stunden vergangen. Warum sollte der Täter so lange in der Nähe seines Opfers bleiben? Falls Meister wirklich mehr in seinen Vorstellungen als in der Wirklichkeit lebt, hofft Hartenfels auf eine Art Kurzschluss, sobald der Schriftsteller mit dem Toten konfrontiert wird. Er hat das schon erlebt.
Aber da ist noch eine Sache, die Hartenfels beschäftigt. Leider kann er nicht genau sagen, was. Hartenfels kann es höchstens lokalisieren. Es hat mit der Atmosphäre in Meisters Haus zu tun, obwohl »Atmosphäre« nicht ganz das richtige Wort ist. Was trifft es dann? Am besten nicht weiter darüber nachdenken. Ein großer Teil seiner Arbeit spielt sich im Hintergrund ab, dort, wo Hartenfels kaum bis gar keinen Einfluss hat. Eine Tatsache, die er lieber für sich behält.
Die Fahrt in die Turmstraße verläuft einsilbig bis stumm. Weil er es sich einfach machen will, hat Hartenfels das Navi eingeschaltet und muss bloß noch das Richtige eingeben. Irgendein Witzbold hat die Gerichtsmedizin unter dem Fahrziel »Zuhause« abgespeichert. Weil sich der festgefahrene Schnee auf den Hauptverkehrsstraßen in rutschigen Matsch verwandelt hat, muss Hartenfels sich trotzdem konzentrieren, was ein Gespräch nicht gerade fördert.
Angekommen, steigen die Männer aus und Zerberus bleibt im Auto. Er scheint das zu kennen.
Petersens Reich empfängt sie lichtdurchflutet und mit fünf Obduktionstischen, von denen glücklicherweise lediglich einer belegt ist. Hartenfels war schon bei Vollbetrieb hier und erinnert sich nicht gern daran. Es kann sehr laut werden und nicht nur das. Hartenfels hat im letzten Urlaub eine Gerberei in Marokko besucht, an deren Eingang jeder ein Sträußchen Minze bekam, um es sich unter die Nase zu halten. Eine gute Idee.
Heute riecht nichts, stattdessen liegt etwas in der Luft, das Hartenfels bekannt vorkommt. Vage, sehr vage. Vielleicht bloß eine olfaktorische Halluzination.
Petersen steht in Dunkelblau und mit Mundschutz hinter dem Tisch mit der Leiche. Sie ist nackt und zum Glück bereits vernäht. Hartenfels wirft einen Blick auf Meister, der blasser als blass wirkt, eher weiß.
»Tod durch einen Schlag auf den Hinterkopf, wie ich vermutet habe«, sagt Petersen und dreht den Kopf des Unbekannten zur Seite.
Hartenfels tritt ganz nah heran und kann die Wunde sehen. Meister hält Abstand.
»Gestorben ist er gegen Mitternacht.«
»Woher weißt du das so genau?«
»Unter ihm war nicht viel Schnee. Angefangen zu schneien hat es kurz vor elf.«
»Also ist der Fundort auch der Tatort?«
»Davon gehe ich aus. Es gibt Blutspuren, wo er lag.«
»Abwehrverletzungen?«
Kopfschütteln.
»Sonstige Spuren?«
»Die untersuche ich noch. Aber wahrscheinlich sind sie von ihm.« Petersen weist mit seinem Kinn Richtung Meister und sagt dann, dass er sobald wie möglich einen Abstrich und Fingerabdrücke von ihm brauche.
Meister reagiert nicht.
»Hat sich das Alter des Toten bestätigt?«, fragt Hartenfels.
»Immer noch um die 30 und wahrscheinlich ein Büromensch. Ich konnte keine Hinweise auf körperliche Arbeit feststellen. Und bevor du fragst: Zuletzt gegessen hat er gestern Abend, Pizza würde ich sagen und ein paar Gläser Wein.«
»War er betrunken?«
»1,2 Promille im Blut. Kurz nach dem Essen wird das natürlich etwas mehr gewesen sein.«
Der zweite Obduzent bringt einen Sack mit der Kleidung des Toten, und Hartenfels muss an Meisters Wohnung denken, vor allem an das Badezimmer. Irgendwie gehört auch der Fundort der Leiche zu diesen Assoziationen. Hartenfels fragt Petersen nach der Waffe.
»Ich habe Splitter gefunden. Es könnte glatt ein Ast gewesen sein, ein sehr stabiler.«
»Also nichts, was jemand im Vorbeigehen zufällig aufhebt?«
»Eher nicht. Da wäre außerdem das Risiko ja viel zu groß, ein morsches Teil zu erwischen.«
Stimmt, denkt Hartenfels, ist mit seinen Gedanken aber immer noch bei Meisters Badezimmer. Meister hat nach den Toilettensachen seiner Freundin geschaut. Zahnbürste, Parfüm. Er runzelt die Stirn. Parfüm.
»Sag mal, Petersen, wonach riecht es hier eigentlich?«
Petersen schiebt seinen Mundschutz, der ihm bis über die Nase reicht, nach unten.
»Was meinst du?«
»Na dieser Geruch nach …«, Hartenfels schnuppert ostentativ, legt seinen rasierten Schädel in den Nacken, »ich weiß auch nicht.«
Petersen beugt sich über die Leiche, schnuppert ebenfalls.
»Der ist es jedenfalls nicht«, erklärt er und fährt damit fort, dass er nichts gefunden habe, womit er die Identität des Toten hätte klären können.
»DAD-Abgleich läuft«, fügt Petersen hinzu, womit er die DNA-Analyse-Datei der Polizei meint.
»Haben die Fingerabdrücke nichts gebracht?«
»Das hätte ich dir längst gesagt.«
Hartenfels bittet Meister, ein wenig näher zu kommen, doch der will nicht, bewegt sich nur zögerlich in Richtung Obduktionstisch. Petersen hat den Kopf der Leiche losgelassen und der Tote sieht wieder zur Decke.
»Keine falsche Scheu«, ruft Petersen, »das erwartet uns alle.«
Sein Standardspruch, Hartenfels verzieht den Mund. Petersens Ansichten sind speziell.
Was erwartet uns alle, hat er ihn einmal gefragt, auf deinem Tisch zu landen?
Petersen fand das gar nicht komisch. Es ginge nicht darum, ausgeweidet zu werden, meinte er, denn das mache er schließlich.
Worum es denn dann ginge, wollte Hartenfels wissen.
Um den Verlust der Würde, erhielt er zur Antwort. Von anderen begafft zu werden wie ein ausgestopftes Tier, sei bloß eine Extremform unserer Vergänglichkeit.
Das hat Hartenfels zu denken gegeben und tut es noch. Trotzdem hofft er, dass Petersen heute nicht zum Dozieren aufgelegt ist, denn das kann dauern.
Meister ist inzwischen Petersens Aufforderung gefolgt und näher gekommen, so nah, dass er dem Toten in die Augen schauen kann. Hartenfels merkt gleich, dass das eine Serie von Ticks auslöst, Meister blinzelt in Reihe. Eine ganze Weile geht das so, er scheint es nicht zu merken.
»Kennen Sie ihn?«, fragt Hartenfels.
Meister schüttelt bloß den Kopf, und seine Mimik beruhigt sich. Wie ein Teich, der sich klärt, nachdem jemand einen Stein hineingeworfen hat.
»Mal zurück zu dem Ast«, wendet sich Hartenfels wieder an Petersen, »woran denkst du denn da?«
Petersen breitet die Arme aus. »Wir werden das Holz bestimmen und dann sage ich dir, ob jemand etwas Bestimmtes mitgebracht oder es vor Ort gefunden haben kann, einverstanden?«
Hartenfels nickt und fasst Meister am Arm, sagt, dass sie nun gehen würden, Meister wendet sich abrupt von der Leiche ab. Der Blick ins Gesicht des Toten hat ihn aufgewühlt. Erst jetzt bemerkt Hartenfels, dass der kleine Bottich am einen Ende des Obduktionstischs vollkommen blutverschmiert ist. Ist das der Grund für Meisters Panik?
Und wieder der Geruch. Nein, denkt Hartenfels, kein Geruch, sondern ein Duft.
Er schnappt sich den Beutel, in dem die Kleidung des Toten steckt, und öffnet ihn. Eine Duftwolke schlägt ihm entgegen. Unglaublich, dass er der Einzige zu sein scheint, der das riecht. Er packt alles zusammen.
»Augenblick«, hört er Petersen hinter sich sagen, »ich habe da noch etwas Seltsames gefunden.«
Hartenfels und Meister drehen sich um.
»An der Hose des Toten«, fügt Petersen hinzu.
»Was?«, fragt Hartenfels.
»Parfüm. Und zwar eine große Menge, Marke sage ich dir noch.«
Dabei lächelt er sein besonderes Lächeln.
Hartenfels könnte schwören, dass Petersen die ganze Zeit auf diesen Augenblick gewartet hat.
Na warte, denkt er und rennt hinaus, durchquert Gänge und Flure und erreicht schließlich seinen Wagen. Ohne zu zögern, reißt er die Fondtür auf und Zerberus springt heraus.
»Komm«, ruft Hartenfels und läuft zurück, Zerberus ist begeistert.
Natürlich haben Hunde keinen Zutritt zu Petersens Reich, aber das ist es ja gerade. Schwer und groß wie er ist, stampft Hartenfels über den gefliesten Boden, Türen schwingen automatisch auf. Dann ist er wieder da. Petersen und Meister haben sich kaum bewegt, stehen immer noch in der Nähe des Tischs mit der Leiche.
Zerberus will zu Meister, hält plötzlich inne und dreht ab, rennt zu dem Sack mit der Kleidung des Toten, schnüffelt und bellt, weil er ihn nicht aufmachen kann, dafür zerrt er ihn von dem Wägelchen, auf dem er liegt.
»Und ich weiß, von wem dieses Parfüm ist«, sagt Hartenfels zu Petersen, wobei er dessen Lächeln imitiert.
Was Hartenfels, seit sie hier sind, in die Nase sticht, was er schon am Fundort der Leiche gerochen und später in Meisters Haus als »Atmosphäre« wahrgenommen hat, ist das Parfüm von Evelyn Köhler.
»Ich besorge dir eine Probe«, erklärt Hartenfels und lässt das Lächeln verschwinden.
6. Kapitel
Zur erkennungsdienstlichen Behandlung fährt Hartenfels Meister von der Turm- in die Keithstraße zum LKA und nutzt die Zeit selbst, um einen Besprechungstermin mit seinen Mitarbeitern für den Nachmittag anzusetzen, wobei er davon ausgeht, dass bis dahin erste Ergebnisse der Spurensicherung vorliegen. Er nimmt Kontakt zu dem Suchtrupp auf, der den Viktoriapark durchkämmt hat, und erfährt, dass die Männer nichts gefunden haben. Dann wartet er, bis Meister fertig ist, um ihn nach Hause zu bringen.
Weil es nicht mehr schneit, hat sich der Verkehr auf den Berliner Straßen beruhigt. Hartenfels betrachtet Meister aus den Augenwinkeln, während er am Landwehrkanal entlangfährt. Der Besuch in der Rechtsmedizin hat ihn nicht weitergebracht, Meister wirkt gedankenverloren. Er sagt nichts, starrt nur nach vorn. Hartenfels selbst will nicht darüber reden, dass an dem Mann, den Meister ausgegraben hat, Spuren des Parfüms seiner Freundin nachweisbar sind. Das ist ihm viel zu verwickelt. Hat sie den Toten gekannt? Was hat es für einen Sinn, darüber zu spekulieren, solange niemand weiß, wo sie ist und um wen es sich bei der Leiche handelt. Und weil Meister dabei bleibt, den Mann noch nie gesehen zu haben, braucht er das auch nicht wiederzukäuen.
»Der Suchtrupp hat keine Spur von Frau Köhler gefunden«, sucht sich Hartenfels ein Thema, mit dem er vielleicht zu Meister vordringen kann.
Tatsächlich blinzelt Meister und dreht seinen Kopf, aber er schweigt weiter.
»Wo könnte Ihre Freundin sich aufhalten?«, fragt Hartenfels. »Vielleicht bei Verwandten, in einem Wochenendhaus?«
»Warum sollte sie da hinwollen?«, fragt Meister zurück.
»Vielleicht gibt es Dinge im Leben Ihrer Lebensgefährtin, von denen Sie nichts wissen.«
»Was für Dinge?« Meister zieht die Brauen hoch, klingt ehrlich erstaunt.
»Ein anderer Mann?« Hartenfels lässt es bewusst wie eine Frage klingen.
»Das hätte ich gemerkt«, meint Meister, »und Verwandte hat sie keine.«
Hartenfels staunt über die unerschütterliche Ruhe, die von Meister ausgeht. Von diesem Tick mit den Augen einmal abgesehen.
»Machen Sie sich denn gar keine Sorgen?«, platzt es aus ihm heraus.
»Natürlich mache ich mir Sorgen«, antwortet Meister, »aber davon kommt sie auch nicht zurück.«
»Jedenfalls glaube ich nicht, dass Ihre Freundin dem mutmaßlichen Mörder begegnet ist«, sagt Hartenfels.
»Und wieso nicht?«
»Der Tote lag seit circa 24 Uhr im Viktoriapark. Das würde bedeuten, dass er stundenlang auf sie gewartet hat, was mehr als unwahrscheinlich ist.«
Meister wendet sich ab und schaut wieder nach vorn.
»Sind Sie sicher, was den Todeszeitpunkt angeht?«, fragt er so leise, dass Hartenfels ihn kaum versteht.
»Petersen ist sich sicher.«
Meister nickt mehrmals, was Hartenfels nicht einzuordnen weiß. Weil er gerade auf den Mehringdamm einbiegt und sofort im Stau steht, ist er abgelenkt.
»Evelyn hat mich inspiriert«, sagt Meister, ohne seine Blickrichtung zu ändern.
Hartenfels wartet erst einmal ab. Worauf will Meister hinaus?
»Es wäre eine Katastrophe, wenn sie weg wäre.«
Hartenfels schweigt.
»Warum sollte sie so etwas tun?« Meister ist lauter geworden. »Wir hatten keinen Streit, das müssen Sie mir glauben.«
»Manchmal braucht es keinen Streit«, sagt Hartenfels.
»Wollen Sie wissen, ob wir noch Sex haben?« Meister sieht Hartenfels direkt an, seine Augen haben einen stechenden Ausdruck angenommen.
Nein, das wollte Hartenfels nicht wissen, aber wenn Meister es schon anbot.
»Haben Sie?«, fragt er.
»Erst heute Morgen.« Wie Meister das sagt, die Hände zu Fäusten geballt, sodass die Fingerknöchel weiß hervortreten, scheint es für ihn sehr wichtig zu sein.
Wahrscheinlich ist Meister einer dieser Männer, die sich ihre Selbstbestätigung im Bett holen, überlegt Hartenfels, aber wie bringt ihn das weiter? Vielleicht bekommt Meisters Panzer langsam Risse, denkt er dann.
»Und damit ist die Welt für Sie in Ordnung?«, fragt er bewusst provokativ.
»Mein Gott«, Meister dreht Hartenfels den ganzen Oberkörper zu, schreit fast, so laut spricht er, »geben Sie endlich Ruhe. Ich habe doch auch keine Antwort.«
Immerhin ein Lebenszeichen, findet Hartenfels und sagt nichts mehr.
Er will Meister ja nicht quälen, er will nur wissen, was in ihm vorgeht.
Der Mann ist verletzt, denkt er, und will es sich nicht eingestehen. Noch glaubt er, alles unter Kontrolle zu haben. Noch glaubt er, dass es für das Verschwinden seiner Freundin eine Erklärung geben muss, die nichts mit ihm zu tun hat.
Also liebt er sie, folgert Hartenfels und lächelt zufrieden, weil er genau das herausfinden wollte.
Inzwischen kommen sie überhaupt nicht mehr voran, wahrscheinlich wird die Kreuzung, die vor ihnen liegt, bei jeder Ampelphase zugestellt. Obwohl sie über hundert Meter entfernt sind, hört Hartenfels das Hupkonzert. Er denkt an Zerberus, der auf der Rückbank liegt und sich nicht regt. Der Hund scheint fix und fertig zu sein.
Erst als Hartenfels endlich am Riehmers Hofgarten anhält und die Hintertür des Wagens aufgeht, ist Zerberus wieder da, rast in den Innenhof und tobt im Schnee, offensichtlich will er spielen. Meister scheucht ihn ins Treppenhaus, und sie fahren zu seinem Penthouse. Hartenfels erinnert den Schriftsteller, dass er ihm alle Parfümfläschchen seiner Freundin bringen soll. Nachdem er das getan hat, verschwindet Meister wie vorher sein Hund.
Hartenfels tütet die Fläschchen ein. Meister hat sie am Morgen angefasst, das hat er selbst gesehen. Interessant wird die Sache also erst, wenn sich Fingerabdrücke einer dritten Person finden lassen. Unten angekommen, reicht Hartenfels den Beutel an den Beamten weiter, der noch immer Posten steht.
»Bring das mal ins KTI«, meint er und geht zurück zu seinem Fahrzeug.
Hier braucht niemand mehr auf Meisters Freundin zu warten. Das kann Meister von jetzt an selbst übernehmen. Im Auto gibt Hartenfels im Navi unter Sonderziele »Buchhandlung« ein und erhält zwei Treffer ganz in der Nähe.
»Anagramm und Otherland«, liest er, »Science Fiction und Fantasybuchhandlung.«
Das passt doch wie die Faust aufs Auge, denkt er, bestätigt und fährt los. Doch bevor sein Wagen Schwung aufnehmen kann, was bei den Straßenverhältnissen sowieso nicht richtig klappt, hält er wieder an. Er befindet sich gerade mal eine Häuserecke weit entfernt, obwohl er schon auf den wenigen Metern das Gefühl hatte, weder Raum- noch Zeitgefühl zu haben.
Hartenfels kennt das und weiß, was es bedeutet. Er hat Witterung aufgenommen. Von jetzt an muss er höllisch aufpassen, nicht in irgendwelchen Schwarzen Löchern zu verschwinden, weil er mit seinen Gedanken überall ist, bloß nicht bei dem, was er tut.
Hartenfels steigt aus und blickt zurück. Er kann sogar noch das große Portal erkennen, das zu Riehmers Hofgarten führt. Also bin ich keine zehn Sekunden gefahren, denkt er, daran ändert auch der ganze Schnee nichts. Wo war er? Hat er irgendetwas mitbekommen?
Klar, denkt Hartenfels und betrachtet das Schild, unter dem er steht.
»Antiquariat«, liest er, groß und deutlich, darunter etwas kleiner der Hinweis, dass jedes lieferbare Buch besorgt werden kann. Und gleich gegenüber ist sogar ein Parkplatz.
Wenn Hartenfels eins von Petersen eingebläut wurde, dann, dass es keine Zufälle gibt. Mag er sich sonst auch sehr dagegen wehren, heute scheint er für die Weisheiten des Gerichtsmediziners empfänglich zu sein.
Dabei hat Hartenfels längst gelernt, seiner Intuition zu vertrauen. Er mag nur die Begleitumstände nicht. So blind wie er für seine Umgebung werden kann, wenn etwas in ihm arbeitet und rumort, ist das schon lebensgefährlich. Also betritt er nicht gleich das Geschäft, das sich ihm wie ein weiterer betörender Duft aufgedrängt hat, sondern macht ein paar Schritte. Er will ganz bewusst wahrnehmen, wo er sich befindet. So wertvoll seine Intuition auch sein mag, muss er sie daran hindern, ihn schneeblind zu machen.
Um beim Wetter zu bleiben, denkt er.
Weshalb er bis zur nächsten Straßenecke geht und nach links und rechts schaut. Weil es sich wieder um die Großbeerenstraße handelt, über die er bereits am Vormittag mit Reschke gefahren ist, sieht er auf der einen Seite die Yorckstraße, wo sie fast einen Unfall gehabt hätten und über die auch jetzt Fahrzeug um Fahrzeug rollt, und auf der anderen den Kreuzberg. Im Gegensatz zu heute Morgen schneit es allerdings nicht und er kann das Denkmal auf seiner Spitze erkennen, das wie eine Fata Morgana in den Himmel ragt.
Als läge hinter dem Berg ein gewaltiger Dom, schießt es ihm durch den Kopf. Etwas wird vorgetäuscht, was gar nicht da ist.
Hartenfels hält inne. Was ist das denn für ein komischer Gedanke? Und wo führt er hin? Er hat keine Ahnung. Weiß ja noch nicht einmal, was ihn dazu gebracht hat, so zu denken. Weil er spürt, dass seine Aufmerksamkeit schon wieder in Beschlag genommen wird, reißt er sich von dem Anblick los.
Er kann nichts daran ändern, dass er sich in einer Art Tunnel befindet, seit er am frühen Morgen den Anruf erhalten hat. Was ihm nach vielen Dienstjahren wenigstens bewusst ist. Als Hartenfels noch neu im Beruf war, hat er diesen Tunnel nur an seinen Wirkungen erkannt. Er konnte sich an Fernsehsendungen nicht erinnern, die er ganz bestimmt gesehen hatte. Er aß, ohne behalten zu haben, was und wo. Sein Hirn glich einem Sieb. Es ist mehrfach passiert, dass er von A über B nach C gefahren ist und dabei B vollkommen ausgeklammert hat. Hartenfels hat nicht allein Sorge, dass er einen Unfall riskiert, er will auch nichts Wichtiges verpassen. Oft findet er die Lösung eines Falls sozusagen im Vorübergehen.
Hartenfels muss präsent sein, und er braucht den Tunnelblick. Einmal in die Ermittlungen eingetaucht, verwandelt er sich in einen Terrier, der seine Beute verfolgt. Nichts lenkt ihn ab, alles führt nur noch in eine Richtung. Wer sich ihm jetzt in den Weg stellt, ist selber schuld. Hartenfels’ Rituale gleichen so gesehen der Quadratur eines Kreises. Trotzdem oder gerade deswegen hält er an ihnen fest.
Hartenfels macht sich langsam auf den Weg zurück, sein Blick schweift hierhin und dorthin, er spürt regelrecht, wie seine Aufmerksamkeit versiegt. Dann erreicht er die Buchhandlung und seine Aufmerksamkeit kehrt schlagartig wieder. Hartenfels streckt die Hand aus, um die Tür zu öffnen, als er bemerkt, dass alles Mögliche draußen vor dem Laden steht. Er entdeckt Postkarten und Lesezeichen, notdürftig durch einen großen Sonnenschirm von Schnee freigehalten. Direkt vor der Fensterfront des Geschäfts befinden sich kleine Tische, auf denen Bücher liegen. Hartenfels zwingt sich, sie zu betrachten.
Wahrscheinlich Lockvögel, denkt er, obwohl nichts von Meister dabei ist.
Hartenfels tritt endlich ein, eine Glocke ertönt. Er braucht einen Augenblick, um sich nach all den weiß verschneiten Wegen und Auslagen an das spärliche Licht zu gewöhnen, erkennt aber schnell, dass der Raum komplett vollgestopft ist. Hartenfels verharrt auf der Stelle, weil direkt vor ihm ein riesiger Tisch steht, auf dem sich Bildbände in gefährlich hohen Türmen stapeln, manche so krumm und schief, dass sie jederzeit einzustürzen drohen. An der Wand ein gewaltiges Regal aus dunklem Holz, verziert und alt, in dem sich noch mehr Bücher befinden, von denen man nur die Rücken sehen kann.
Das müssen ja Tonnen sein, denkt Hartenfels und fragt sich, welches Marketingkonzept hier wohl umgesetzt wird. Er schaut und schaut, will auf keinen Fall schon jetzt in seinem Tunnel verschwinden.
Und so kommt es, dass er der Frau hinter dem Tresen an der gegenüberliegenden Wand vielleicht größere Aufmerksamkeit schenkt, als er es normalerweise getan hätte. Hartenfels sieht ihr schwarzes Haar, das zu einem Knoten zusammengenommen ist, und einen gleichfalls schwarzen Pullover, der lose um die Schultern hängt. Er sieht rot geschminkte Lippen und dunkelbraune Augen, die ihn hinter einer schwarzen Brille mustern. Laufkundschaft ist man in dieser Buchhandlung wohl nicht gewohnt. Verstohlen lässt Hartenfels seinen Blick weiterwandern, wobei er nicht länger seinem Ritual folgt, sondern einfach neugierig ist. Hartenfels schätzt die Buchhändlerin auf Mitte 40 und registriert, dass sie ziemlich füllig ist.
Wie ich, denkt er.
Die Frau begrüßt ihn und fragt, was sie für ihn tun könne. Alles ganz geschäftsmäßig natürlich und dennoch wird Hartenfels das Gefühl nicht los, dass da ein wenig mehr ist. Vielleicht wünscht er es sich auch bloß.
»Ich hätte gern ein Buch von Johannes Meister«, sagt Hartenfels, nachdem er seinerseits gegrüßt hat und sich um den Tisch bis zu ihr geschlängelt hat, darauf bedacht, keinen der Büchertürme aus Versehen einzureißen.
»Johannes Meister«, wiederholt die Buchhändlerin und widmet sich dem Computer, der vor ihr steht.
Das irritiert Hartenfels, der einen schnellen Griff in ein besonders prominent platziertes Regal erwartet hat, stattdessen Schweigen.
»Hätten Sie vielleicht einen Titel?«, fragt die Frau.
»Leider nein.«
»Bei den lieferbaren Büchern finde ich nichts«, sagt sie.
»Aber dieser Meister wohnt doch gleich hier um die Ecke«, meint Hartenfels.
»Tatsächlich?« Die Überraschung wirkt echt.
»Finden Sie wirklich nichts?«
»Vielleicht gebraucht«, bekommt er zur Antwort.
»Na also«, entfährt es Hartenfels, schließlich ist er doch in einem Antiquariat.
»Wie bitte?«, fragt die Buchhändlerin.
»Sie müssen einfach etwas von ihm haben«, erklärt er und sieht sich ostentativ um.
»Nicht dass ich wüsste.«
Hartenstein kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand weiß, was sich in dieser vollgestopften Höhle alles versteckt, hat allerdings schon gehört, dass Buchhändler ihre Regale in- und auswendig kennen, weshalb er beschließt, der Frau zu glauben. Wahrscheinlich besitzt sie ein eigenes System.
»Schade«, sagt Hartenfels, »ich dachte, ich könnte gleich ein Buch mitnehmen.«
»Ich schau mal bei meinen Kollegen nach«, sagt die Buchhändlerin und klappert auf ihrer Tastatur. »Na, da wäre doch was«, erklärt sie nach ein oder zwei Minuten, »Zustand gut und aus einem Nichtraucherhaushalt, das könnte ich Ihnen besorgen.«
»Wie heißt das Buch denn?«
»Es scheint der Beginn einer mehrteiligen Reihe zu sein. Mir sagt es leider nichts, ist von 2005 und heißt ›Feuer und Drache‹, für 5,80 Euro plus Verpackung und Porto.«
»Ein neueres finden Sie nicht?«
Die Buchhändlerin taucht ein weiteres Mal ab und schüttelt dann den Kopf. »Es gibt noch mehr, alles aus dieser Reihe offensichtlich. Das Neueste, was ich finde, ist von 2007. Aber das ist irgendein mittlerer Band, nicht der erste.«
»Und wie lange würde es dauern, mir eins dieser Bücher zu besorgen?«
»Das kommt auf den Lieferanten an. Manche Antiquariate sind fix«, sie zwinkert und Hartenfels ahnt, dass sie sich selber meint, »manche nicht. In fünf bis sechs Tagen sollte es spätestens hier sein.«
Inzwischen zweifelt Hartenfels daran, dass er eines von Meisters Werken lesen muss. Die Information, die er gerade bekommen hat, ist viel wichtiger als alles, was der Mann schreibt.
»Ich glaube, ich verzichte«, sagt er, verabschiedet sich und verlässt den Laden.
Draußen überlegt Hartenfels, ob er Meister gleich mit der Tatsache konfrontieren sollte, dass er seit über zehn Jahren nichts veröffentlicht hat, oder erst später.
Dinge aufzuschieben liegt Hartenfels nicht. Außerdem kann er einfach zu Fuß gehen.