Kitabı oku: «Marseille.73», sayfa 5
»Geh, mein Junge, und benachrichtige seine Familie, du weißt, wo sie wohnen.«
Kurz darauf stürmen Maleks zwei Brüder mit langen Schritten von der nahen Siedlung Campagne-Lévêque herbei, verzerrte Gesichter, aufs Schlimmste gefasst. Die Rettungsleute umstehen schon den Körper, führen Erste-Hilfe-Maßnahmen durch und bereiten eine Trage und Transfusionsmaterial vor. Die beiden Brüder beugen sich über das Gesicht, fahl, mit blutigen Rinnsalen überzogen, geschlossene Augen, offener Mund, ein stummer Schrei. Malek, ohne jeden Zweifel. Einer der Rettungsleute: »Er lebt.« Sie hören ihn nicht mal.
Polizisten in der Bar und in der Umgebung. Einer von ihnen gibt den Rettungsleuten ein Zeichen: »Sie können ihn mitnehmen. Wir sind fertig mit ihm, Fotos und der ganze Zirkus. Wo fahren Sie hin?«
»Uniklinik La Timone.«
»Alles klar.«
Mohamed, der Älteste, nimmt seinen jüngeren Bruder Adel am Arm, schiebt ihn zum Krankenwagen. »Du bleibst bei ihm, du lässt ihn keine Minute allein.«
Adel stellt die Befehle des Ältesten nicht infrage, niemals. Er wendet sich um, macht drei unsichere Schritte, kotzt sich mitten auf der Straße die Seele aus dem Leib, geht dann auf die Rettungsleute zu, die ihm entgegensehen. Kein lustiger Geselle, Komplikationen in Sicht. »Setzen Sie sich zum Fahrer nach vorn, niemand neben der Trage, die Arbeit der Sanitäter darf nicht gestört werden.« Er tut wie geheißen, erleichtert und zugleich beschämt darüber.
Mohamed steht immer noch benommen neben den Blutlachen auf dem Gehweg, er fühlt, wie in seinem Körper die Ablösung beginnt, die Abwesenheit wächst, die unwiderrufliche Leere. Ein Polizist tritt auf ihn zu.
»Und Sie, wer sind Sie?« Mohamed schreckt zusammen. »Was tun Sie hier?«
»Ich bin der Bruder des Opfers.«
»Stehen Sie nicht da rum, Sie verunreinigen den Tatort, wir sind mit unserer Arbeit noch nicht fertig. Gehen Sie in das Café, meine Kollegen nehmen Ihre Aussage auf. Und dann gehen Sie nach Hause, Sie haben hier nichts verloren.«
Mohamed betritt das Café, in dem er noch nie war. Der Saal ist quasi leer. Die Tische und Stühle, billige Möbel, sind hinten im Raum aufeinandergestapelt, der Boden wurde tropfnass gewischt und riecht noch nach Chlor, die Lichter über der Bar auf der linken Raumseite sind alle ausgeschaltet und der Tresen ist mit einem großen weißen Tuch abgedeckt. Nur eine Hängelampe in der Mitte der Decke ist noch an und erhellt zwei Polizisten, die auf einen Bistrotisch gestützt die Aussagen des Wirts und der zwei jungen Männer aufnehmen, die vor ihnen stehen. Auf einer Seite im Dunkel die Tür zu den Toiletten und eine Telefonkabine. Im selben Moment, als Mohamed eintritt, schließen die Polizisten ihre Blöcke, der eine sagt zum anderen: »Kurz und gut, dies sind die einzigen Zeugen, sie waren alle drei hier drin, die Schießerei fand draußen auf dem Boulevard statt, sie haben nichts gesehen, der Fall landet schnell bei den Akten.« Die drei Zeugen hören sich das an, dann ziehen sie sich in die Dunkelheit und zu der Telefonkabine zurück.
Mohamed geht auf die Polizisten zu. »Wer sind Sie?«, fragen sie ihn.
»Der Bruder des Opfers.«
Sie schlagen ihre Notizblöcke wieder auf. Seine Identität und seine Adresse, die von Malek, die Umstände, wie er von dem Ereignis erfahren hat, alles deckt sich mit der Aussage von Slimane und scheint klar. Nach ein paar Minuten ist Mohamed entlassen. »Sie können nach Hause gehen. Wir melden uns bei Ihnen.«
Er verlässt die Bar, macht ein paar Schritte über die Terrasse, wie ein Schlafwandler, bleibt stehen. Er ist direkt oberhalb der Stelle, an der sein Bruder niedergeschossen wurde. Zwei Polizisten arbeiten daran, mit einem gelben Plastikband mit der Aufschrift »Polizei«, wie er es schon in Fernsehkrimis gesehen hat, einen winzig kleinen Teil des Gehwegs abzustecken, ein »Tatort« im Taschenformat. Zwei andere laufen innerhalb dieses »Tatorts« herum, wahllos, wie es scheint, Blick am Boden. Einer von ihnen verkündet: »Da. Ich hab eine.«
Er bückt sich, hebt mit bloßer Hand einen Gegenstand auf, zeigt ihn den anderen Polizisten. Eine Patronenhülse. Der Gegenstand geht von Hand zu Hand, bevor er in einem Plastiktütchen verstaut wird. Kurz darauf verkündet der andere Polizist: »Ich hab die zweite.« Und zeigt seine Trophäe vor.
»Die Zeugen haben gesagt, zwei Schüsse, wir haben zwei Hülsen, die Rechnung geht auf. Sind sie fertig, die Schreiberlinge im Café? Es ist spät, wir ziehen ab.«
Ein paar Minuten darauf sind die Polizisten weg.
Mohamed setzt sich auf das Mäuerchen der Terrasse, ganz genau da, wo sein Bruder zwei Stunden zuvor gesessen hat. Allein. Der Körper gibt nach. Es überwältigt ihn, er legt die Hände vors Gesicht und weint stumm.
Ein wenig später bringt der Wirt ihm einen Pfefferminztee, sehr heiß, sehr stark, sehr süß, und setzt sich schweigend neben ihn. Langsam richtet Mohamed sich auf, nimmt die Hände vom Gesicht, wischt mit dem Handrücken darüber, nimmt das Glas und trinkt. Die beiden Jugendlichen hocken sich zu ihnen auf die Mauer, halten sich an den Händen. Die Nacht ist schon weit fortgeschritten, aber niemand kommt auf die Idee, das Café zu verlassen, die Terrasse, den blutigen Gehweg. Da sein, um bei Malek zu wachen, immer weiter da sein, bis zum Ende, an seiner Seite, um ihm beizustehen, ihm zu helfen, den Faden festzuhalten, den Lebenshauch.
Mohamed spricht. »Meine Familie ist aus Oran, wir kennen die Pieds-Noirs, wir wissen, wozu sie fähig sind … Die Schwester meiner Mutter wurde erschossen, weil sie in einem europäischen Viertel durch die Straße lief … Hier und jetzt geht es wieder los, überall sind die Algerier in Gefahr. Bei der Arbeit wird viel darüber geredet. Wie wir alle habe ich nachts Angst, und ich wusste, dass es heute Nacht noch gefährlicher ist. Ich wollte Malek daran hindern, auszugehen, ich habe es nicht geschafft.« Ein Zögern. »Er war mit einem Mädchen verabredet?«
»Ja. Er hat gewartet, sie ist nicht gekommen …«
Ultimativer Schlag des Schicksals. Mohamed fühlt Tränen aufsteigen, atmet tief durch, fährt fort. »Unser Vater liegt im Moment im Krankenhaus. Arbeitsunfall. Ich habe die Verantwortung für Malek. Ich bin jeden Abend von La Ciotat, wo ich arbeite, hergekommen, um auf ihn aufzupassen. Ich bin für seinen Tod verantwortlich.«
Der Alte beugt sich vor, sucht seinen Blick. »Du hast nicht das Recht, das zu sagen. Wenn du verantwortlich bist, sind die Mörder dann unschuldig? Verantwortlich ist der Mann, der geschossen hat, und auch die, die ihn begleitet haben. Sie waren mit Sicherheit zu mehreren, mindestens zu zweit, der Schütze und der Fahrer. Wir müssen sie finden, für Malek. Sie müssen erfahren, dass Malek kein Hund ist, den man auf der Straße erschießt. Keiner von uns ist ein Hund, den man auf der Straße erschießt.«
Der alte Mann hat den richtigen Punkt getroffen, Mohamed grübelt: den Verantwortlichen finden, den oder die Mörder finden … Machbar? Gefühl von Ohnmacht, Einsamkeit, völlig verloren.
Auf dem menschenleeren Boulevard kommt mit aufgeblendeten Scheinwerfern ein Wagen auf sie zu. Er hält ein paar Dutzend Meter vom »Tatort« entfernt. Daquin steigt aus, gefolgt von Delmas. Beim Bereitschaftsdienst im Évêché hat er einen Anruf erhalten, ein Alter, flüsternde Stimme, unbeholfen. Er sprach von einem jungen Algerier, erschossen auf der Straße, vor einem Café, die Schützen geflüchtet, von Angst und Dringlichkeit. »Wir kommen«, hat Daquin geantwortet und Delmas aus dem Schlaf geklingelt.
»Nach den theoretischen Reden, die Sie heute Nachmittag gehört haben, interessieren Sie sich für die praktische Umsetzung? Ich hole Sie ab.«
Jetzt stehen sie beide hier und betrachten das, was sich als schlampig abgesteckter, aber sehr blutiger Tatort darbietet. Dann nähert sich Daquin dem Mäuerchen.
»Commissaire Daquin, Inspecteur Delmas, wir sind von der Kriminalpolizei. Wer von Ihnen hat die Bereitschaft angerufen, um ein Gewaltverbrechen zu melden?«
Der Wirt steht auf. »Das war ich, ich habe angerufen.«
»Warum? Unsere Kollegen waren offensichtlich schon hier.«
»Sofort nach den Schüssen habe ich die Rettung und das Kommissariat angerufen.« Er unterbricht sich, wendet sich an die Jugendlichen. »Macht uns einen Tee, für alle, wir kommen dann zu euch.« Als sie weg sind, fährt er fort: »Wenn es bisher nachts Probleme wegen Schlägereien gab, war unser Kommissariat geschlossen, und wir haben den Évêché angerufen. Seit vierzehn Tagen ist das Kommissariat nachts geöffnet, und die Polizisten, die oft in die Bar kommen, um sich ein Gläschen ausgeben zu lassen, wiederholen jedes Mal: ›Wenn es jetzt nachts Probleme gibt, rufst du uns an.‹ Ich habe also dort angerufen. Aber als ich sie sagen hörte: ›Niemand hat etwas gesehen, noch ein Fall, der schnell bei den Akten landet‹, da habe ich beschlossen, die Bereitschaft im Évêché anzurufen.«
Mohamed ergänzt: »Sie liefen auf dem Gehweg herum, da, wo mein Bruder hingestürzt ist. Sie haben zwei Kugeln gefunden, die haben sie mit bloßer Hand aufgehoben, sie haben sie den anderen Polizisten gezeigt, die sie ebenfalls angefasst haben. Sie hatten keine Handschuhe. Im Film machen Polizisten so was nicht.«
Daquin lächelt ihm zu. »Im echten Leben eigentlich auch nicht.«
Der Wirt nimmt den Faden wieder auf. »In der Bar wird derzeit viel diskutiert. Fast jeden Tag sterben Algerier, die Polizisten suchen nicht groß. Meine Gäste sagen: ›Die Nummer der Bereitschaft hat besser funktioniert als das Kommissariat.‹ Deshalb habe ich, als ich sah, wie sie vorgingen, die Bereitschaft angerufen.«
Daquin und Delmas sprechen sich kurz ab, dann Daquin: »Gehen wir nach drinnen und trinken den Tee. Sie erzählen uns alles, was passiert ist, von Anfang an. Wir schreiben einen Bericht, so vollständig wie möglich. Im Anschluss ist es ein Richter oder Staatsanwalt, der entscheidet, welches Polizeiteam mit dem Fall betraut wird. Ohne Garantie also. Einverstanden?«
Sie setzen sich alle um zwei Tische, jeder schlürft sein Glas Tee, der Wirt schildert den Ablauf des Abends, von Anfang an. Dann bittet Daquin, die Tische und Stühle wieder wegzuräumen, um den Gastraum in den Zustand zum Tatzeitpunkt zurückzuversetzen. In der Mitte des großen leeren Saals ein Lichtfleck, umschlossen von Schatten.
»Jeder geht an den Platz, wo er sich beim ersten Schuss aufhielt, und Sie werden die Szenen haargenau nachspielen, Episode für Episode, wie im Theater. Die Bewegungen sind sehr wichtig, führen Sie wieder die gleichen Bewegungen aus. Sobald Ihnen eine Erinnerung kommt, sagen Sie es, wir notieren, was immer es ist, zögern Sie nicht. Wenn wir eine Szene wiederholen müssen, tun wir es, das ist kein Problem, wir haben Zeit, hetzen Sie sich nicht. Sie, Mohamed, waren nicht dabei, setzen Sie sich an die Seite, rühren Sie sich nicht, sagen Sie nichts. Kann es losgehen?«
Der Wirt, gebückt hinter der Bar, räumt Flaschen und Geschirr weg. Er erklärt: Wenn er sich aufrichtet, kann er Maleks Rücken erkennen, aber nicht den tiefer liegenden Boulevard. Slimane wischt den Boden in der Nähe der Straßenfront, eine Mauerecke verdeckt für ihn Malek und den Boulevard. Der zweite Jugendliche, Chafik, ganz hinten im sehr dunklen Teil des Saals, stapelt die Tische und Stühle aufeinander, um Platz zu schaffen und in diesem Teil des Raums den Boden zu wischen. Erster Schuss, »nicht sehr laut«, sagt der Alte, »wie in der Ferne« (Delmas notiert: mit aufgesetztem Lauf? Medizinischen Befund prüfen), Slimane und er schrecken hoch, rühren sich aber nicht vom Fleck. Chafik zögert, sagt dann: »Den habe ich nicht gehört.« Daquin gibt ein Zeichen: Wir machen weiter. Zweiter Schuss kurz nach dem ersten, »die Detonation ist lauter«, sagt der Wirt, Slimane und er lassen alles stehen und liegen und stürzen zur Terrasse.
Chafik sagt: »In diesem Moment höre ich einen Schuss. Für mich ist es der erste, den davor, von dem die beiden sprechen, habe ich nicht gehört, vielleicht der Krach vom Tischestapeln … Ich stand mit dem Rücken zur Straße, vielleicht habe ich ein Geräusch gehört und dachte nicht, dass es ein Schuss war …«
»Wir haben verstanden. Machen Sie weiter.«
Der Wirt und Slimane erreichen gleichzeitig die Tür, drängeln sich hindurch, und als sie auf der Terrasse sind, sehen sie als Erstes Maleks Körper, der unterhalb auf dem Gehweg liegt, blutüberströmt. Panik. Der Wirt hebt den Kopf und nimmt durch eine Art Nebel zwei Wagen wahr, die hintereinander den Boulevard entlangfahren und sich in Richtung Chemin de la Madrague-Ville entfernen.
»Um die Wagen kümmern wir uns später. Bleiben wir noch bei den Schüssen. Was machst du unterdessen, Chafik?«
»Als ich sehe, dass sie ihre Arbeit hinwerfen und nach draußen rennen, lasse ich auch alles fallen und folge ihnen mit etwas Verzögerung in Richtung Terrasse, und als sie an der Tür sind, in dem Moment, als sie sich drängeln, um schneller rauszukommen, da bin ich selbst noch im Saal, ich höre einen Schuss. Für mich ist es der zweite, weil ich den ersten nicht gehört habe.«
»Diesen Schuss haben wir beide nicht gehört«, bemerken der Wirt und Slimane.
»Sie erinnern sich nicht daran, dass Sie ihn gehört haben, zu sehr in Eile, dann der Riesenschock, als Sie Maleks Körper entdecken.«
Daquin und Delmas diskutieren kurz miteinander. Ihre Schlussfolgerung: Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es drei Schüsse, das Vorgängerteam hat Mohameds Bericht zufolge zwei Patronenhülsen aufgelesen, es existiert also vielleicht noch eine dritte. Delmas übernimmt es, sie zu suchen, holt eine Stablampe aus ihrem Polizeiwagen und macht sich an die Arbeit.
Daquin schlägt den drei Zeugen vor, sich jetzt mit den Autos zu befassen.
Slimane ergreift das Wort, sein Ton ist bestimmt. »Es waren zwei Autos, sie sind in den Minuten vor den Schüssen mehrere Male vor dem Café vorbeigefahren, ich habe sie nicht gesehen, aber gehört. Eins davon war ein großer deutscher Wagen, ich habe das Motorengeräusch erkannt. Ich denke, ein Mercedes.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Ja. Ich arbeite, wann immer es geht, in einer Werkstatt in der Nähe von Marseille. Ich liebe Kfz-Technik, ich will das mal beruflich machen. Wir alle in der Werkstatt kennen das Motorengeräusch von einem schönen Mercedes. Sie sind vor den Schüssen zwei- oder dreimal vorbeigefahren, das fiel mir auf, zu dieser Nachtzeit war das seltsam.«
Chafik fügt hinzu: »Als ich rauskam, hatte ich den Boulevard in gerader Linie vor mir. Da war ein großer beigefarbener Wagen, der einzige, den ich gut sehen konnte, er stand halb auf dem Gehweg und fuhr los, er folgte einem anderen Auto. An der Kreuzung Chemin de la Madrague sind sie gemeinsam nach links abgebogen. Das Auto, das vorne fuhr, habe ich in dem Moment gesehen, es war rot, nicht neu und nicht schön, der Wagen dahinter war beige, es kann ein Mercedes gewesen sein. Vielleicht …«
»Als du sie hast abbiegen sehen, konntest du erkennen, wie viele Leute drinsaßen?«
Chafik überlegt mit gerunzelter Stirn. »Nicht so richtig. In dem großen Wagen habe ich hinten niemanden gesehen. Vielleicht waren Leute versteckt? Zwei Personen vorne? Ich bin nicht sicher.«
Delmas kommt mit einer Patronenhülse in einem Plastiktütchen zurück. Er hat seine Gummihandschuhe anbehalten, wahrscheinlich um in Mohameds Augen so seriös zu wirken wie ein Spielfilmbulle. In sein Heft hat er einen genauen Plan des Tatorts gezeichnet und von der Stelle, wo er die Hülse gefunden hat. Er stellt einen Tisch in die Raummitte, unter die helle Deckenlampe, und legt den Plan darauf, damit alle ihn sehen können. Mohamed tritt aus dem Dunkel und stellt sich dazu. Er wirkt um zehn Jahre gealtert, am Boden zerstört vom vor seinen Augen inszenierten Nachstellen des Anschlags auf seinen jüngsten Bruder und von dem Gefühl, in seiner Rolle als beschützender Ältester versagt zu haben. Daquin und Delmas beraten sich kurz, dann erklärt Delmas:
»Ich habe die Patronenhülse hier gefunden.« Ein Finger zeigt auf ein mit Bleistift eingetragenes Kreuz. »Sechs Meter von der Stelle, wo Malek hingestürzt ist, ungefähr drei Meter außerhalb des von unseren Kollegen als ›Tatort‹ abgesteckten Bereichs.« Er zeigt mit dem Finger auf jeden dieser Punkte auf seiner Karte. »Wir übergeben die Hülse den Kriminaltechnikern, sie ist für den Fortgang der Ermittlung von großer Bedeutung, und gefunden haben wir sie dank Chafiks Zeugenaussage.«
»Kann man mit der Hülse den Mörder finden?«
»Wenn der Schütze sie mit bloßer Hand berührt hat, ja, das ist möglich, aber wenn er ein kluger Mann ist, wird es keine Fingerabdrücke geben … Hingegen kann man anhand einer intakten Hülse nahezu mit Sicherheit feststellen, aus welcher Waffe die Patrone abgefeuert wurde, falls man die Waffe findet.«
Delmas fährt fort: »Ausgehend von den drei Hülsen und Ihren gesammelten Zeugenaussagen wäre dies ein mögliches und wahrscheinliches Szenario: Die zwei Autos kreiseln durchs Viertel, werden auf Malek aufmerksam, allein, ohne Zeugen ringsum, aber in Fahrtrichtung liegen die kleinen Sträßchen und Sackgassen, was für einen schnellen Abgang ungünstig ist. Deshalb kommen sie in Gegenrichtung zurück, mit der Möglichkeit, über den Chemin de la Madrague schnell wegzukommen. Der erste Schuss wird mit aufgesetztem Lauf oder aus nächster Nähe abgegeben, die Detonation ist daher wie gedämpft, was erklärt, dass Chafik sie nicht hört, der weit weg ist von der Tür. Der zweite Schuss wird abgegeben, während Malek fällt. Dann startet der Wagen des Täters, der dritte Schuss wird im Wegfahren abgegeben, der Motor überdeckt möglicherweise einen Teil des Geräuschs. Es sind folglich mindestens zwei Männer im Wagen, der Fahrer und der Schütze. Der Mercedes ist wahrscheinlich zur Unterstützung dabei und fährt hinterher, um dem Täterfahrzeug auf der Flucht Deckung zu geben. Das sind alles Hypothesen, wir klären das noch mit den Ärzten ab, die Malek behandeln.«
Daquin schließt: »Es ist fast drei, wir müssen noch unseren Bericht schreiben. Ihre Zeugenaussagen waren entscheidend. Wir hoffen wie Sie, dass Malek gerettet wird, und tun unser Möglichstes, damit die Ermittlung schnell zur Verhaftung der Mörder führt.«
Man trinkt ein letztes Glas Tee, verabschiedet sich mit Handschlag. Im Wagen knurrt Delmas: »Diese Irren waren mit Sicherheit heute Nachmittag bei der Beerdigung. Ich bin ihnen vielleicht über den Weg gelaufen.« Ein Moment Schweigen. »Glauben Sie, der Junge kann gerettet werden?«
»Nein. Haben Sie die Menge an Blut auf dem Gehweg gesehen? Und die Größe der Patronenhülse? Ich bin bei weitem kein Spezialist, aber das ist ein Kaliber, das tötet. Mit aufgesetztem Lauf, mitten in die Brust … Es war gewiss nicht an uns, ihnen das zu sagen.«
Um vier Uhr früh kommt Adel, der jüngere der Brüder, bleich, in Tränen aufgelöst, zum Café zurück und verkündet Maleks Tod.
Mittwoch, 29. August
Le Quotidien de Marseille
Auf der Titelseite:
Marseiller erweisen letzte Ehre
Die gesamte Zeremonie ging in Ruhe und Würde vonstatten.
In einem Extrakasten:
Für den ganzen Tag herrscht Demonstrationsverbot.
Seite 3:
La Calade: 16-jähriger Algerier mit zwei Schüssen niedergestreckt. Die Angreifer konnten unbehelligt flüchten.
In der Nacht hat man die Leiche eines Nordafrikaners in einer Blutlache entdeckt. Nichts deutet darauf hin, dass es sich um eine rassistische Tat handelt.
Ein Algerier, S. G., wurde mit einer Axt am Kopf verletzt, als er an den Bahngleisen entlanglief. Es soll sich um einen Racheakt handeln.
In einem Extrakasten:
Bougrine wurde keiner operativen Schädelöffnung unterzogen, sein Gesundheitszustand ist stabil.