Kitabı oku: «Marseille.73», sayfa 4
Dienstag, 28. August
Le Quotidien de Marseille
Auf der Titelseite:
Die Bustragödie:
Mörder 1969 am Kopf operiert
Offenbar wurde Bougrine 1969 mit einer Axt angegriffen, was eine Schädelöffnung, mehrere Operationen und einen langen Krankenhausaufenthalt notwendig machte. Diese körperliche Beeinträchtigung könnte bis zu einem gewissen Grad sein geisteskrankes Verhalten im Bus erklären.
Beerdigung um 12 Uhr. Die Verkehrsbeschäftigten: »Wir werden nicht zulassen, dass die Beisetzung unseres Kameraden als Vorwand für politische Demonstrationen dient.«
Auf der letzten Seite:
Presseerklärung des Polizeipräsidenten: »Es wäre bedauerlich, wenn dieser so schlimme Vorfall zur Folge hätte, dass die Öffentlichkeit sich aus berechtigtem Zorn zu Handlungen hinreißen lässt, die ihrer Geschichte nicht würdig sind.«
Bevor er zum Évêché aufbricht, wirft Daquin einen letzten Blick auf den Vieux-Port zu seinen Füßen, das graugrüne, reglose Wasser, die verwaisten Kaianlagen, kein Geräusch, keine Bewegung, das Leben steht still. Die Stadt atmet nicht mehr. In einer Handvoll Stunden wird sie Émile Guerlache zu Grabe tragen, sie wartet, sie stinkt nach Blut.
Als Daquin ins Büro kommt, sind Grimbert und Delmas schon im Aufbruch zur Beerdigung, Beobachtungsmission. Daquin selbst hat bis zum frühen Morgen Bereitschaft im Zentralkommissariat. In Wartestellung …
»Sie verpassen ein grandioses Schauspiel, Chef. Die Marseiller sind Meister in Beerdigungszeremonien.«
»Ehrlich gesagt bin ich nicht böse, dem großen Fest des Todes in seiner Sonnenschein-Aioli-Variante zu entgehen. Ich verlasse mich darauf, dass Sie mir alles erzählen.«
»Was ich noch sagen wollte: Wenn Sie gleich allein sind, vergessen Sie nicht, einen Blick in Ihre Schreibtischschublade zu werfen. Sie finden dort vier bildhübsche Wanzen, aus dem Nichts aufgetaucht, und das zugehörige Aufzeichnungsgerät.«
»Das lasse ich mir nicht entgehen.«
Während die beiden Inspecteurs schweigend ihre Sachen zusammenpacken und aufräumen, fragt Daquin: »Sagen Sie, Grimbert, ich habe den Leitartikel im Méridional gelesen. Wissen Sie, ob die Zeitung die Waffen gleich mitliefert?«
»Wer weiß. Den Abonnenten vielleicht. Und mit dem Segen des Polizeipräsidenten, dessen Presseerklärung Sie ebenfalls gelesen haben werden. Hübsch, das mit dem ›berechtigten Zorn‹.«
»Gehen Sie los, Sie verpassen noch den Auftakt der Feierlichkeiten, das wäre schade. Aber, Grimbert, sobald es vorbei ist, kommen Sie mir berichten. Ohne Vertun.«
Grimbert zögert eine Sekunde. »Hier oder am Tatort?«
Delmas kreuzt die Finger, um das Unheil abzuwenden.
Guerlache wohnte in La Pauline, einem weitgehend renovierten volkstümlichen Viertel im Marseiller Osten, das sich um seine kleine Kirche drängt, Sainte-Émilie-de-Vialar, ganz neu, unverputzter Beton, hübscher schlanker Kirchturm. Hier findet die religiöse Zeremonie statt, an der die Familie, enge Freunde und ein paar Arbeitskollegen teilnehmen. Der Beginn des Trauerzugs zum Friedhof ist für 14 Uhr angesetzt. Grimbert und Delmas sind früher gekommen, um sich einen Beobachtungsposten zu wählen. Sie stellen sich in den Schatten der großen Platane vor dem Portal und taxieren den Strom der Marseiller, die nach und nach eintreffen, erst den Kirchenvorplatz, dann den daran anschließenden Platz füllen und bald den Boulevard Romain-Rolland überschwemmen. Die Männer – es sind praktisch ausschließlich Männer – sind viel in Bewegung, treffen sich mit Nachbarn, Freunden, Bekannten, es bilden sich Grüppchen, Flugblätter und Zeitungen werden ausgetauscht, man diskutiert, leise aus Respekt für den Toten, aber mit einer unterdrückten Wut, die an den Gesten und Mienen abzulesen ist. Sind sie gekommen, um Guerlache das Geleit zu geben und die letzte Ehre zu erweisen, oder aber wegen des »berechtigten Zorns«, von dem der Polizeipräsident erst heute Morgen gesprochen hat? Niemand weiß es. In der schwülen, stehenden Luft wartet die Menge und schwitzt. Ein stattlicher Ordnungsdienst aus Verkehrsbeschäftigten ganz in Grau, ihrer Arbeitskleidung, geht von Gruppe zu Gruppe und wiederholt unermüdlich: »Wir wollen im Trauerzug keine rassistischen Bekundungen. Die Ermordung unseres Kameraden ist die Tat eines halb irren Einzelnen. Kein Slogan, kein Schild, Stille, Andacht. Ehren Sie den Toten und seine Familie …« Das sind die Kommandos der drei Gewerkschaften, aufmerksam und diszipliniert. Aber die Flugblätter gehen weiter von Hand zu Hand, versteckt vor den Blicken der Männer in Grau. Grimbert ortet einen kompakten Block, der sich abseits hält und einen Mann umringt, den er gut kennt, Pereira. Er rückt näher an Delmas heran.
»Siehst du die Gruppe da? Um den beleibten Mann mit dem sympathischen Gesicht?«
»Ja, sehe ich.«
»Er heißt Pereira. Er war angeklagt, im Auftrag der OAS einen Mord begangen zu haben, 1964 hier in Marseille. Dank einiger Gefälligkeiten seitens der Polizei hat er sich vor seiner Verhaftung nach Portugal verdrückt und wurde in Abwesenheit verurteilt, vier Jahre Exil, nach der Amnestie von ’68 ist er zurückgekommen und hat in aller Ruhe sein Leben wieder aufgenommen, er führt mit seiner Mutter ein Bar-Café … Ich bin fast allen Typen, die da um ihn herumschwirren, schon begegnet, Muskelprotze und Großmäuler.«
In diesem Moment entrollen zwei Männer der Gruppe ein Banner: »CDM – Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille«. Zwei Verkehrsbeschäftigte stürmen hin, leicht hitziger Wortwechsel, das Banner wird wieder zusammengefaltet und weggepackt. Die Gewerkschafter wiederholen in aggressivem Ton: »Kein Slogan, kein Spruchband, Schweigemarsch.«
Grimbert kommentiert: »Heute das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille, morgen etwas anderes. Ich habe stark den Eindruck, dass Pereira der Anführer ist … Ich kann nicht näher ran, die kennen mich zu gut nach all der Zeit, in der ich ihnen schon hier und da begegnet bin. Sobald sie mich sehen, machen sie dicht. Du dagegen bist noch nicht lange hier, du hast vielleicht eine Chance. Du richtest es so ein, dass du im Trauerzug direkt vor ihnen gehst, du drehst dich nicht um, aber du lauschst, und wenn möglich, lässt du dich irgendwann unauffällig in die Gruppe zurückfallen. Ich will wissen, worüber sie reden. Und versuch dir auch eins dieser Flugblätter zu beschaffen, die mehr oder weniger diskret im Umlauf sind.«
»Verstanden.«
Delmas gelingt es schnell, sich seinem Ziel zu nähern, aber die Gruppe scheint auf der Hut vor den Unbekannten, die sie unablässig umkreisen, sie streifen und dann verschwinden. Auch sind die Aktivisten, aus denen sie sich zusammensetzt, vorsichtig, sie reden sehr leise miteinander, Delmas versteht kein Wort von dem, was sie besprechen.
Grimbert, immer noch auf der Lauer unter der Platane vor dem Kirchenportal, wird die Zeit lang. Plötzlich läutet im Kirchturm die Totenglocke, der tiefe, zitternde, wiederholte, eindringliche Ton senkt sich auf die schlagartig erstarrte Menge herab. Beginn des Spektakels. Der Leichenwagen nähert sich der Kirche, das Portal öffnet sich, der Sarg kommt aus dem Halbdunkel ins Licht, getragen von sechs Busfahrern, obenauf eine schlichte Uniformmütze. Der Sarg wird in den Leichenwagen geschoben, zwei Busfahrer bedecken ihn im Namen der gesamten Profession mit einem Kranz roter Rosen. Und immer noch das Geläut der Totenglocke. Schöne Inszenierung, ergreifender Moment, Hommage an die Männer des Metiers und ihre Kultur. Nun tritt die Familie näher. Einer der Sargträger übergibt der Witwe die Mütze ihres Mannes, sie presst sie an ihre Brust, fängt an zu weinen. Sie besteigt mit ihren vier Kindern eine schwarze Limousine, die Eltern des Toten eine andere, sie werden auf den vier Kilometern bis zum Friedhof Saint-Pierre dem Leichenwagen folgen. Zwei lange Ketten aus Verkehrsbeschäftigten formieren sich zu beiden Seiten des Trauerzugs, um die Wagen zu flankieren und abzuschirmen, während andere die ersten Reihen des Zuges organisieren: an der Spitze die Bonzen der Marseiller Verkehrsbetriebe, die Gewerkschaftsvertreter, vereinzelt bunte Flecken von Schärpen in den Farben der Trikolore, Behördenvertreter, Fußvolk, der Bürgermeister ist nicht gekommen, klug von ihm, niemand weiß, wie das hier enden wird. Dann ein paar Kollegen von Guerlache, seine Arbeitskameraden vom 72er, die Freunde und Nachbarn. Delmas hat sich in diese Gruppe eingeschleust, perfekt. Direkt hinter ihnen setzt sich das Gros des Trauerzugs in Gang, angeführt vom Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille. Es hat kein Spruchband mehr, aber die Männer gehen in zwei dichten Reihen, Hand in Hand oder untergehakt, sie verlangsamen das Marschtempo, um zwischen der Spitze des Zugs und ihren eigenen Reihen Abstand zu schaffen, und das genügt, um sich abzuheben. Delmas wird etwas Mühe haben, ihre Gespräche zu belauschen. Dicht hinter dem CDM eine große Traube von etwa dreißig Beamten der Police Urbaine. In ihrer Mitte erkennt Grimbert den Dicken Marcel, unvermeidlich, zu seiner Rechten und Linken wie zwei Schutzengel Richard Platel, sein Mann für alles, normal, und Brigadier Picon, auf diese Weise öffentlich ausgestellt als Bindeglied zwischen dem Dicken Marcel und den Interessenvertretungen der Pieds-Noirs. Riskant, Marcel, und sogar gefährlich … Um sie herum die gesamte Riege der einflussreichen Männer der Police Urbaine: Polizisten, die Mitglieder im SAC sind, dem früheren gaullistischen Ordnungsdienst, seit dem Abgang des Generals in heftiger Umstrukturierung begriffen, die Funktionäre der Gewerkschaft Force Ouvrière Police … Sie waren alle so klug, nicht in Uniform zu kommen.
Der Trauerzug biegt hinter dem Leichenwagen auf den Boulevard Romain-Rolland ein, etwas luftiger, sonnendurchflutet. Die Menge breitet sich aus, füllt den gesamten Boulevard, so weit das Auge reicht, dicht, kompakt, homogen, ganz in Schwarz, Grau und Weiß und ohne Kopfbedeckung. Sie schreitet langsam voran, schweigend, aber an allen Mauern entlang des Boulevards brüllt es von Schwarzweißplakaten: »Stoppt die wilde Einwanderung«. Grimbert erkennt sie wieder, solche Plakate hat er schon im Stadtzentrum gesehen. Hier wird der anonyme Slogan zum Schrei dieser marschierenden schweigenden Menge. Doppelte Schlagkraft. Und dann tauchen hier und da neue Plakate auf, uneinheitlicher, hastiger zusammengebastelt: »Es reicht«, »Marseille hat Angst«, »Unsere Mütter, unsere Frauen, unsere Kinder haben Angst«. Signiert mit CDM, drei Buchstaben, die sich außerdem in endloser Wiederholung mit schwarzer Farbe aufgesprüht finden. Als der Leichenwagen vorüberzieht, bleibt das Volk auf den Gehwegen stehen, ballt sich zusammen, beteiligt sich an der Ehrerweisung, die Männer ziehen den Hut, die Frauen bekreuzigen sich, die starke Betroffenheit ist mit Händen zu greifen.
Der kompakte Block der CDM-Mitglieder fühlt sich in dieser Menge jetzt zu Hause, die Gespräche werden ungezwungener, hörbarer für Delmas. Mehrere aus ihren Reihen fragen den kleinen Dicken mit dem sympathischen Gesicht, wie er es geschafft hat, die Plakate des Komitees so schnell zu produzieren, kaum vierundzwanzig Stunden nach ihrem Beschluss, und von welchem Geld. Er antwortet: »Ich habe mich für das Nächstliegende entschieden. Le Méridional. Eine betriebsbereite Druckerei, ein Chefredakteur mit der richtigen Denke, der uns auch braucht, um seine Pied-Noir-Leserschaft zu behalten, ein nicht so kleinlicher Eigentümer. Ergebnis: Die Druckerei hat die Arbeit gemacht, und die Zeitung hat uns das gesamte Material geschenkt. Das ist wertvoll in diesen Zeiten, in denen das Geld knapp ist.« Ein anderer teilt Pereira seine Unzufriedenheit mit: »Der CDM hatte für morgen zu einer Demo aufgerufen. Kein Flugblatt. Warum? Hast du sie abgesagt? Ziehst du schon den Schwanz ein?« Kaltes Lächeln von Pereira. Schwanz einziehen, das wird er nicht vergessen. »Wir haben erfahren, dass es heftigen Zoff mit der Polizei gibt, wenn wir im Stadtzentrum demonstrieren. Sieh dir die Mauern an, die Menschenmenge, wir sind am Gewinnen, jetzt keinen Zoff.«
Grimbert marschiert mit dem Strom des Trauerzugs an einem Bretterzaun vorüber, hinter dem ein Neubau noch kaum aus dem Boden ragt. Die Baustelle steht still. Die Arbeiter, allesamt maghrebinisch, wurden vom Bauleiter im Keller in Sicherheit gebracht, möglichst weit weg vom Boulevard Romain-Rolland, um »Zwischenfälle« zu vermeiden. Sie warten mit der Wiederaufnahme der Arbeit, bis die letzten Reihen der Menge in der Ferne verschwunden sind. Grimbert findet das Bild erschütternd. Und beschließt, dass er genug hat von den Trauerfeierlichkeiten für Guerlache und dieser ganzen unerträglichen Spannung. Er wird sich direkt zum Friedhof begeben, um dabei zu sein, wenn der Leichenzug sich auflöst. Es sind oft diese Momente, in denen eine Demonstration ihre wahren Ziele preisgibt.
Delmas hingegen läuft weiter in der Sonne, in den letzten Reihen der Führungsgruppe mit Guerlaches Verwandten, Kollegen, Freunden, Nachbarn. Abseits des Totengeläuts und unter dem Einfluss der Hitze kommt die Unterhaltung in Gang. Ein gutaussehender Dreißiger erwähnt, dass er sich am Samstag im Moment des Mordes im 72er befand. Erfolg garantiert. Er lässt sich ein wenig bitten, dann erzählt er.
»Ein Algerier stieg ein, er wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, ich saß nicht weit weg, ich konnte es gut hören, nichts Ernstes, irgendwas wegen eines nicht entwerteten Fahrscheins. Und dann ist er hinter ihn getreten und hat ihm mit einer einzigen Bewegung die Kehle durchgeschnitten. Einfach so. Das Blut spritzt, Guerlache bricht zusammen, alle sind fassungslos, der Bus fährt von allein weiter, können Sie sich das vorstellen?« Die Zuhörer erschauern. »Der Algerier stürzt zu den Fahrgästen, er rempelt mich um, als würde er mich gar nicht sehen, er fuchtelt mit dem bluttriefenden Messer herum, und ich stoße gegen die Leiche von Guerlache, rutsche in der Blutlache aus und falle hin, ich glaube, der Algerier hat Fahrgäste verletzt, ich schaffe es nicht, wieder aufzustehen, der Bus prallt gegen den Mittelstreifen, ein ordentlicher Schlag, die Türen gehen einen Spalt auf, der Bus bekommt Schlagseite, die Leute fallen übereinander. Alle schreien und drängeln, um als Erste nach draußen zu kommen, aber die Türen klemmen, überall ist Blut, die Leute waten darin. Ein ehemaliger Boxer, der an der Unfallstelle vorbeikam …« Er unterbricht sich, betrachtet sein Publikum, selbstzufrieden. »Gratien Lamperti, vielleicht kennen Sie ihn?«
Keine Antwort. Delmas denkt: Er betet auswendig die Zeitungsartikel nach, und es funktioniert.
Der Redner fährt fort. »Er brüllte: ›Lassen Sie mich durch!‹ Er kam irgendwie in den Bus rein, er hatte eine Handkurbel dabei, damit hat er den Algerier bewusstlos geschlagen. Danach, muss ich zugeben, haben wir uns ein bisschen an ihm abreagiert. Und ich war nicht der Letzte, der ihm ein paar Fußtritte verpasst hat. Dann kam die Polizei und hat ihm das Leben gerettet.«
»Schade!«, schreit eine Frau, die sich unter die Männer verirrt hat.
»Es wäre einfacher gewesen, ihn an Ort und Stelle zu erledigen«, ergänzt ein Mann.
»Er hat aber doch einiges abgekriegt. Er liegt immer noch im Koma im Krankenhaus.«
Ende des Berichts. Nach fünf bis zehn Minuten schweigenden Marschierens erklärt jemand im ruhigen Ton einer Tatsachenfeststellung: »Heutzutage gibt es in Frankreich mehr Algerier, als es in Algerien jemals Franzosen gegeben hat. Ich finde, es sind zu viele, die Toleranzgrenze ist überschritten.«
Nachdem das Offensichtliche ausgesprochen ist, fühlt sich jeder berufen, seine Meinung zu äußern. »Die haben uns aus Algerien rausgeschmissen, also müssen jetzt wir sie rausschmeißen. Ist doch normal.« – »Ja, aber man wird ein bisschen nachhelfen müssen, von selber gehen die nicht.« Manche meinen, eine Lösung zu haben: »Wenn man ein paar von ihnen umbringt, kriegen die anderen Angst und hauen ab.« – »Die haben nicht gezögert, es drüben so zu machen. Und es hat geklappt, wir sind gegangen. Warum sollen wir es hier nicht genauso machen.« – »Das ist unsere Art, unser Land gegen die Invasion zu verteidigen, wenn ihr mich fragt, ist das ganz einfach Patriotismus.« Ein Mann in den Fünfzigern knüpft an: »Patriotismus … Erinnert ihr euch an diesen einen Morgen, dieses Plakat überall in den Straßen von Algier? An allen Mauern. Eine riesige blau-weiß-rote Flagge, zwei bewaffnete Pieds-Noirs, mit Gewehren, wenn ich mich recht erinnere, schön wie junge Götter, und ein Slogan: ›Zu den Waffen, Bürger!‹« Unter den Zuhörern haben einige Tränen in den Augen. Der Nachbar des Fünfzigers hält dies für einen günstigen Moment, er holt einen Stapel Flugblätter aus seiner Tasche: »Lest das.« Die Flugblätter machen die Runde. Delmas, der sein Möglichstes tut, um mit der Landschaft zu verschmelzen, nimmt sich eins. In der Überschrift: »Genug!« Darunter ein einziger Satz in Großbuchstaben: »Marseille hat Angst, Marseille nimmt den von der nordafrikanischen Unterwelt aufgezwungenen Terror nicht länger hin.« Gezeichnet: »Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille«. Kurz, schlicht, im aktuellen Kontext ganz schön wirkmächtig – und beunruhigend. Daraufhin ergreift wieder der gutaussehende Dreißiger das Wort und sagt lachend: »Also, wer ist mit von der Partie, wenn wir sie ins Meer werfen?« Stille, dann wenden sich die Gespräche belanglosen Dingen zu. Delmas spürt Angst und Erschöpfung in sich aufsteigen.
Grimbert hat etwas abseits eine kleine Anhöhe gefunden, die ihm einen guten Blick auf den Friedhofseingang gewährt. Er muss nicht lange warten. Ein paar Verkehrsbeschäftigte sind schon da, sie lassen das Tor öffnen und stellen sich auf, um den Zugang zu kontrollieren. Der Trauerzug trifft wohlgeordnet ein. Der Leichenwagen und die Limousinen passieren das Tor, zu Fuß gefolgt von den Kollegen, den Nachbarn, den Freunden. Diskret zieht sich Delmas aus der Spitzengruppe zurück, ebenso wie die Mehrheit der Funktionäre und Behördenvertreter, deren Wagen mit Fahrer ein paar Dutzend Meter entfernt auf sie warten. Das Tor schließt sich, und die eintreffende Menge zerstreut sich langsam, wie widerstrebend.
Grimbert sieht Delmas, der sich da und dort herumtreibt. Gewissenhaft, dieser Bursche, oder vielleicht auch ein wenig verloren … Er hält Ausschau nach der Gruppe mit Beamten der Police Urbaine. Was ist am Ende der Wegstrecke aus ihnen geworden? Der Dicke Marcel, etwas abseits, ernste Miene, spricht in trauter Zweisamkeit mit Pereira. Sieh an … Der Rest ist mit den Reihen des Verteidigungskomitees verschmolzen, dieser kleinen Auffanggesellschaft für mittlere Führungskräfte und Sympathisanten der OAS, nicht sehr klug, werte Kollegen … Alle unterhalten sich angeregt. Grimbert hört sogar Gelächter, schnell unterdrückt. Haben sie unterwegs einen gehoben? Dann lösen sich etwa zwanzig besonders gesprächige Männer aus der Gruppe. In ihrer Mitte Brigadier Picon und mehrere Polizisten vom Kommissariat des 15. Arrondissements, deren Personalbögen und Fotos er im Laufe seiner Recherchen hat vorüberziehen sehen. Sie streben zu einem abseits gelegenen Parkplatz. Grimbert folgt ihnen vorsichtig, beobachtet, wie sie sich abstimmen, Rippenpüffe und Rückenklopfer, dann zwängen sie sich in mehrere Wagen, die durchstarten, dass der Kies spritzt. Zu weit weg, um die Kennzeichen zu notieren. Fahren sie sich besaufen? Vielleicht. Der Klassiker nach einer Beerdigung. Grund zur Besorgnis?
Vor dem Friedhof hat sich der Trauerzug inzwischen ohne weitere Vorkommnisse vollständig aufgelöst.
Delmas und Grimbert treffen am Friedhofseingang wieder zusammen.
»Na, war dein Spaziergang erfolgreich?«
»Schwer verdaulich. Keine Lust, hier und jetzt darüber zu reden. Gib mir etwas Zeit.«
»Keine öffentlichen Verkehrsmittel, Vierundzwanzig-Stunden-Streik zu Ehren von Guerlache. Komm mit.«
Die beiden Bullen kapern Plätze in einem der Busse, die die Marseiller Verkehrsbetriebe bereitgestellt haben, um ihre Angestellten ins Zentrum zurückzubringen, und sitzen eine Stunde später an einem Tisch auf der Terrasse der Bar-Tabac gleich beim Évêché, seinem inoffiziellen Anbau. Delmas erholt sich bei einem kühlen Bier, Grimbert hält die Apéro-Stunde für gekommen, gesteht sich das Recht auf einen Gelben zu und wartet geduldig, dass Delmas sich zu reden entschließt, was er tut, als er sein Bier ausgetrunken hat.
»Gut, mein Auftrag bestand darin, die Gruppe um den kleinen Dicken zu belauschen.«
»Pereira, ja.«
Delmas gibt kurz die Gesprächsfetzen wieder, die er aufschnappen konnte, nachdem der Trauerzug sich in Bewegung gesetzt hat. Und bittet um die eine oder andere Aufklärung.
»Der Chefredakteur vom Méridional, Domenech, wo muss ich den in etwa einordnen?«
»In unmittelbarer Nähe der Veteranen der OAS, also direkt bei Pereira.«
»Und der nicht so kleinliche Eigentümer, wer ist das?«
»Schon komplizierter. Das ist Defferre, bereits seit zwei oder drei Jahren.«
»Defferre? Der sozialistische Bürgermeister von Marseille? Willst du mich verarschen?«
»Keineswegs. Hunderttausend Pieds-Noirs in Marseille, das bedeutet viele Wähler. Bei ihrer Ankunft wollte er nichts von ihnen wissen, er hat versucht, sie daran zu hindern, sich hier niederzulassen. Aber jetzt, wo sie da sind, ist es ausgeschlossen, sie zu übergehen. Man muss Mittelsmänner finden, um in Verbindung zu bleiben. Pereira ist der ideale Mann, er findet Defferre nicht kleinlich, und er selbst ist es auch nicht. Sie sind wie füreinander geschaffen … Fortsetzung folgt. Das hier ist Marseille.«
»Na, dann erzähle ich dir mal was über deine Marseiller, nicht über die Typen von der OAS oder vom Verteidigungskomitee, nein, über all die anständigen Bürger, ganz gewöhnlich, sehr sympathisch, Boulespieler, Pastistrinker, Aioli-Esser, Freunde und Nachbarn von Guerlache, von denen ich im Trauerzug umgeben war.«
Dann berichtet er ausführlich von den Äußerungen, die er ringsum gehört hat, und das erleichtert ihn. Bis zum krönenden Abschluss: »Also, wer ist mit von der Partie, wenn wir sie ins Meer werfen?«, und er gibt Grimbert sein Exemplar des Flugblatts vom CDM.
Grimbert liest es aufmerksam. »Du musst in eine Gruppe beschwipster Pieds-Noirs geraten sein.«
»Kneif nicht. Dem Akzent nach waren wohl Pieds-Noirs dabei, aber genauso viele waschechte Marseiller. Ganz normale Bürger, geschniegelt und gebügelt, die so ruhig, in vollem Ernst und in aller Öffentlichkeit vom Töten reden, ohne die geringste Missbilligung zu erregen, das habe ich noch nicht erlebt. Und nicht unbedingt leeres Gerede, Tote hat es schon gegeben, wahrscheinlich mehr, als man denkt, und die Stimmung ist explosiv, vergiss das nicht. Da läuft es mir kalt den Rücken runter. Was wird passieren? Machen sie es wahr?«
»Keine Ahnung. Der Commissaire erwartet uns. Gehen wir ihm berichten.«
Im Zentrum von Marseille ehrt das Opéra-Viertel den ermordeten Busfahrer auf seine eigene Weise. Die amerikanischen Bars, wo sonst leicht bekleidete Frauen eine wimmelnde Kundschaft aus einzelnen Männern bedienen, sind alle geschlossen, die Straßen menschenleer und still. Nur zwei Hochburgen der Marseiller Geselligkeit sind überfüllt, die Stammkunden sind gekommen, um in ihrem Lieblingslokal auf den Verstorbenen anzustoßen.
Im Foudre, der Café-Bar der Pereiras, sitzt die OAS- und Pied-Noir-Familie um die Holztische, trinkt Anisette Cristal, knabbert Oliven, Würstchen, Muscheln, redet über Waffen, Schüsse, Explosionen, Exekutionen und Nostalgie. »Es wird knallen«, ständig wiederholt wie ein Refrain. Man spricht auch viel über »berechtigten Zorn«, wie es der Polizeipräsident in seiner morgendlichen Presseerklärung genannt hat. In allen Unterhaltungen taucht das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille, die hauseigene Schöpfung, als der große Sieger des Tages auf.
Ein paar Dutzend Meter weiter, in der Grand Bar Henri, vollkommen anderes Ambiente, große Fenster zur Straße, moderne Einrichtung, sind die Korsen zur Totenwache gekommen. Bruderküsse, Lieder, ein bisschen korsische Mundart, Pastis Casanis fließt in Strömen, man ist bunt gemischt unter sich. Das gemeine korsische Volk ist da, auch die Bullen, sie unterhalten sich mit den Gaunern, den Journalisten, mit allen, wahre und falsche Informationen werden ausgetauscht, Gefallen versprochen und erwiesen, Probleme gelöst unter Korsen. Etwas abseits die korsischen Honoratioren von der Medizinfakultät und den Marseiller Krankenhäusern, eine in der ganzen Gemeinschaft hoch angesehene Aristokratie, sie trinken Whisky, gesellschaftlicher Status verpflichtet, und plaudern mit ihren Studenten, die im akademischen Milieu der Stadt die Atomstreitmacht der extremen Rechten bilden. Die Formen der Geselligkeit mögen in der Grand Bar Henri und im Foudre unterschiedlich sein, die dominierende politische Richtung ist die gleiche.
An diesem Abend hat Nicolas Cipriani lange geschwankt zwischen Le Foudre und Grand Bar Henri. Der freie Journalist für AFP und mitunter für die kommunistische Zeitung La Marseillaise ist in der Grand Bar Henri zugelassen, weil er einer korsischen Familie, der korsischen Kultur entstammt, einige Worte Korsisch spricht und Casanis trinkt, aber er wird auch im Foudre mit offenen Armen empfangen, denn er ist Sohn eines Fallschirmjägeroffiziers, Kämpfer im Indochina- und im Algerienkrieg, aufs Abstellgleis geschoben wegen Französisch-Algerien-freundlicher Gefühle, und der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm. Die Familie, das ist das einzig Wahre. Im Übrigen trinkt der Sohn Anisette Cristal, hat seine vormilitärische Ausbildung bei den Fallschirmjägern gemacht, ehe er anfing, sich als Journalist zu verdingen, was ihm niemand übelnimmt.
Am Ende entscheidet sich Cipriani, seine Nacht bei den Korsen zu vertrinken.
Im Foudre brechen vier Männer, aufgeputscht vom Anisette Cristal und dem stetigen Strom kriegerischer Reden, gegen zehn Uhr abends Arm in Arm auf – »zu einem Rodeo bei den Indianern auf der anderen Seite der Grenze«, sagen sie zum Abschied.
Auf der anderen Seite der Grenze, in Marseille-Nord, ist es elf Uhr abends und die Bar-Tabac Le Terminus macht gerade zu. Malek sitzt mit Blick auf den menschenleeren Boulevard auf dem Mäuerchen der Caféterrasse und wartet. Der junge Bursche von sechzehn Jahren, Lehre im Klempnerbetrieb von einem Freund seines Vaters in Aussicht, wartet auf Anita, achtzehn Jahre und schön wie eine Spanierin, Abiturientin, das heißt eine Intellektuelle. Sie sind sich heute Morgen in Campagne-Lévêque begegnet, wo sie beide wohnen. Malek wollte zu seinem Kumpel Manuel, mit dem er zu einer Spritztour durch die Stadt verabredet war. Dessen Schwester Anita öffnete ihm die Tür. Manuel war nicht da, er sei aber gleich zurück. Wenn er warten wolle … Malek hatte Anita nicht wiedererkannt. Es war fast vier Jahre her, dass sie einander zuletzt begegnet waren.
»Kein Wunder, ich bin die ganze Zeit in der Stadt aufs Gymnasium gegangen. Das ist weit weg von hier.«
Sie sprachen über dies und das, Tratsch aus der Siedlung, dieses erstickende Gefühl am Ende des Sommers. Manuel war immer noch nicht zurück, Anita meinte, sie werde erwartet, sie müsse los, und begann ihn sanft zum Ausgang zu schieben … Malek schlug vor, in der Bar Le Terminus gegen acht, in der Abendkühle, zusammen eine Cola zu trinken. »Warum nicht«, sagte Anita. Als er im Treppenhaus stand, versprach sie zu kommen, dann schloss sie die Tür. Und jetzt wartet er auf sie.
Er musste heftig darum kämpfen, nach dem Abendessen noch ausgehen zu dürfen. Sein ältester Bruder war dagegen. Nicht heute Abend, sagte er, die Angst geht um in den Straßen, bei Anbruch der Dunkelheit werden Araber getötet. Malek hat keine Angst, wovor, warum? Die Bar-Tabac Le Terminus ist nicht weit von zu Hause, wir sind dort unter uns, was kann schon passieren? Er musste versprechen, zeitig heimzukommen, und jetzt ist er immer noch hier, sie ist nicht gekommen, noch nicht. Elf Uhr, die Bar wird gleich schließen.
Der Wirt und zwei Jugendliche, die ihm für kleines Geld zur Hand gehen, sind dabei, zu spülen und aufzuräumen. Malek wirft noch einen Blick nach rechts über den Boulevard, er stellt sich vor, Anitas Silhouette zu sehen, die mit wiegenden Schritten auf ihn zukommt, ein Traum. Ein roter Wagen, gefolgt von einem dicken cremefarbenen Mercedes, fährt im Zeitlupentempo am Café vorüber und den Boulevard Paumont entlang. Zum zweiten Mal. Vielleicht Leute, die sich im Viertel verfranst haben. Keine zwei Minuten später kommen dieselben Wagen aus der Gegenrichtung über den Chemin du Moulinet zurück. Ganz schön verfranst, die Typen. Während der Mercedes ein Stück entfernt parkt, hält der rote Wagen am Gehwegrand, direkt vor Malek. Der Beifahrer öffnet das Schiebefenster und spricht ihn auf Arabisch an.
»Wir haben uns verfahren, wir kennen uns im Viertel nicht aus, kannst du uns helfen?«
Malek lässt sich zu Boden gleiten, geht näher, beugt sich vor, der Beifahrer hebt den Arm, schießt ihm aus nächster Nähe eine Kugel mitten in die Brust, Maleks Körper wird nach hinten geschleudert, der Wirt in der Bar schreckt hoch, lauscht, eine zweite Kugel trifft den Bauch, zerfetzt das Brustbein, der Körper kippt um, der Wirt und die zwei Jungen lassen Besen und Putzlappen fallen, der rote Wagen prescht los, eine dritte Kugel streift eine Schulter, die drei Männer erreichen die Caféterrasse, erblicken den blutüberströmten Körper. Schon zwanzig Meter weiter ein beigefarbener Mercedes und ein anderer Wagen, sie biegen beide an der nächsten Kreuzung ab und verschwinden. Das Ganze hat, vom ersten Schuss gerechnet, zwölf Sekunden gedauert.
Während die beiden Jungen zu dem Körper stürzen, läuft der Wirt nach drinnen, um die Rettung und das Bezirkskommissariat anzurufen. Dann kommt er zurück, nähert sich dem reglosen Körper, starrt auf das Blut, das aus den Wunden fließt, die Kleider durchtränkt, das Gesicht befleckt, sich auf dem Gehweg ausbreitet. Er legt Slimane eine Hand auf die Schulter, der zuckt zusammen.