Kitabı oku: «Marseille.73», sayfa 6
Presseerklärungen
Témoignage chrétien: »Der Rassismus überrollt Marseille … Wir haben genug davon.«
Die beiden Gewerkschaften CGT und CFDT prangern »Hasspropaganda« an: »Die Staatsmacht überlässt das Feld rassistischen und faschistischen Gruppen, die den Kolonialkriegen nachtrauern.« Mitunterzeichner: Association France-Algérie, PSU, Jeunes socialistes, Licra, Amicale des Algériens en Europe.
Die Familie Khider bewohnt seit 1957 eine Vierzimmerwohnung in der zehnten Etage des Hochhausriegels in Campagne-Lévêque, nicht weit vom Durchgangslager in La Calade und von der Bar-Tabac Le Terminus. Als die zwei Brüder im Morgengrauen dorthin zurückkehren, wissen sie schon vor dem Eintreten, dass die Wohnung leer ist. Der Vater ist im Krankenhaus, Arbeitsunfall, die Mutter seit fast zehn Jahren tot. Und Malek … Die Wohnungstür zu öffnen ist eine Prüfung. Stille, Dunkelheit. Die Wohnung noch warm von der am Vortag gestauten Hitze.
Nach zwei Stunden von Hochschrecken unterbrochenem Dämmerschlaf steht Mohamed auf, duscht, vergewissert sich, dass Adel zu schlafen scheint, und verzieht sich zur Café-Bar La Calade gleich am Fuß der Siedlung, wo er Stammgast ist. Er will in seiner Firma in La Ciotat anrufen. Er ist in einem guten Team, er liebt seine Arbeit und seine Kameraden, aber heute, nein, heute geht er nicht arbeiten. Er kann nicht. Unmöglich. Nur kurz Bescheid sagen. In der Bar kennen alle die Neuigkeit von Maleks Tod. Der Wirt, die Stammgäste umarmen ihn wortlos, mit tränenglänzenden Augen. Das Telefon steht auf dem Tresen. Mohamed geht hin, der Wirt und die Gäste ziehen sich in den angrenzenden Raum zurück, Mohamed dankt ihnen mit einer Kopfbewegung. Er ruft im Sekretariat seiner Firma an, langes Klingeln, keine Reaktion. Er wählt noch einmal, eine Männerstimme, die er nicht kennt, meldet sich, und kaum hat er seinen Namen gesagt, wird er, ohne zu Wort zu kommen, informiert, dass es in der Nacht einen Anschlag auf die Firma gegeben hat, mehrere Molotowcocktails, es hat gebrannt, die Schäden sind erheblich.
»Eine auf die Reinigung von Werften und Hafenanlagen spezialisierte Firma, eine qualifiziertere und besser bezahlte Arbeit als das Fegen von Rinnsteinen, ein algerischstämmiger französischer Boss, die Mehrheit der Arbeiter Nordafrikaner, nein, niemand glaubt, dass die Molotowcocktails absichtslos geworfen wurden … Ach, ein Typ aus deinem Team, Béchir, steht neben mir, willst du ihn sprechen?«
Béchir, ein Tunesier, herzlich … besonders. Im vergangenen Frühling ist er in den Hungerstreik getreten, hier in Marseille, als er infolge des Runderlasses Marcellin-Fontanet plötzlich als »illegaler Einwanderer« dastand, so wie die tunesischen Arbeiter in Grasse, wie die Mehrheit der Gastarbeiter in Frankreich. Siegreicher Hungerstreik trotz der gewalttätigen Angriffe von Leuten, die Immigranten nicht mögen, und er hat seine Papiere, seine Arbeitserlaubnis, seine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Das ist auf den Werften bekannt. Respekt.
»Ja, gib mir Béchir.«
Für Mohamed fühlt sich Béchir fast wie Familie an, er erzählt ihm sachlich von Maleks Exekution, seiner Verzweiflung, seiner Unfähigkeit, zur Arbeit zu kommen.
»Das ist nicht das Problem, der Laden ist eh verwüstet, Material, Produkte, Verträge, Archiv, alles hat gebrannt. Kurzarbeit. Kümmere dich um dich und deine Familie. Wir sind alle bei dir, ganz nah, ganz warm. Kann ich dich morgen treffen?«
»Morgen Vormittag, bei mir zu Hause. Weißt du die Adresse? Der Hochhausriegel in Campagne-Lévêque, Trakt A …«
»Dann bis morgen.«
Mohamed geht zurück zur Wohnung und holt Adel ab, um den Vater im Krankenhaus zu besuchen, ihm die Ermordung von Malek zu melden, des letztgeborenen, am meisten geliebten Sohnes. Malek kam in Frankreich zur Welt, er gehört folglich nicht zum Oran-Kapitel der Familiengeschichte, dem schwärzesten, blutigsten. Der Vater und die Mutter stammten beide aus jenen armen Bauernfamilien im Osten der Provinz Oran, die 1942 durch die Gefechte des Zweiten Weltkriegs aus ihren Dörfern vertrieben wurden und nach Oran flohen, wo sie von allen Einwohnern der Stadt sehr schlecht aufgenommen wurden und in extremem Elend lebten. Sie heirateten 1949 und bekamen schnell zwei hübsche Jungen, und da der Vater es nicht schaffte, sie zu ernähren, ging er zum Arbeiten nach Frankreich, nach Marseille. 1957 ergatterte er diese Sozialwohnung in Campagne-Lévêque, und sehr bald darauf verabschiedete sich die Mutter von Oran und ihrer Familie und zog mit ihren zwei Ältesten zu ihrem Mann. Sie war schwanger, wenig später wurde Malek geboren, wie ein glückliches Omen, ein Zukunftsversprechen für die ganze Familie. Ein Versprechen, das sich nicht wirklich erfüllte: Die Mutter starb 1963, aufgezehrt vom Exil und dem Gram über die Abschlachtung fast ihrer gesamten Oraneser Familie durch die OAS. Der Vater und seine zwei Großen zogen den Jüngsten mit vereinten Kräften auf, die lebendigste Hinterlassenschaft der Mutter. Malek war der Zement, der diese Männerfamilie zusammenhielt.
Wie dem Blick des Vaters begegnen, wenn er sagt: »Du warst nicht da, um deinen Bruder zu beschützen«? Woher den Mut nehmen, wie die Worte finden? Mohamed braucht Adel an seiner Seite.
Der Vater liegt in seinem Krankenhausbett, gegen seine Kissen gelehnt, das Gesicht eingefallen, zornig. Er hat ein zerschmettertes Bein, böse Brüche, er wurde operiert, die Chirurgen haben ihm Drähte eingesetzt, die die Haut durchbohren, eindrucksvoll. Das Krankenhauspersonal hat ihm die Neuigkeit schon überbracht: Malek ist um drei Uhr früh ein paar Etagen entfernt auf dem Operationstisch gestorben. Seither schweigt er. Zu Mohamed und Adel sagt er nur vier Worte: »Der Mörder muss bezahlen.«
Commissaire Percheron bestellt Daquin und Delmas am späten Nachmittag in sein Büro.
»Ich habe Ihren Bereitschaftsdienstbericht zum Mord an Malek Khider an den Staatsanwalt weitergeleitet. Und ich war bei der Pressekonferenz, die er heute Nachmittag um 15 Uhr abgehalten hat. Er hat die Journalisten und ein paar anwesende Kollegen informiert, dass er ein beschleunigtes Verfahren zur Ermittlung der Todesursache eröffnet … Überhaupt, wissen Sie schon, dass der junge Khider noch in der Nacht gestorben ist?«
»Wir haben es geahnt. Und wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung von der Todesursache. Zwei großkalibrige Kugeln mitten in die Brust, mit aufgesetztem Lauf. Er ist nicht aus Kummer gestorben.«
»Ein paar Journalisten haben Fragen zur aktuellen Welle von Gewalttaten in Marseille gestellt, die sie als rassistisch bezeichnen. Einige erwähnten auch einen Mord in Vallon des Tuves, von dem ich noch nichts gehört hatte …«
»Das war vor Ihrer Ankunft, ich hatte Bereitschaftsdienst, wir haben den Staatsanwalt kontaktiert, der uns geantwortet hat, dass er die Sûreté mit der Ermittlung betraut.«
»Heute hat der Staatsanwalt geantwortet, dass die Ermittlungen laufen und dass der rassistische Charakter dieser Angriffe nicht erwiesen sei, im Fall Khider so wenig wie bei den anderen Toten der jüngsten Vergangenheit.« Blick zu Daquin und Delmas, die das nicht kommentieren. »Im Anschluss hat der Polizeipräsident die offizielle Position der Regierung mitgeteilt: Es gibt keine Welle des Rassismus in Frankreich, deshalb darf man nicht von einem rassistischen Verbrechen sprechen, solange die Ermittlung das nicht eindeutig bewiesen hat. In so gut wie allen Fällen, die derzeit für Gesprächsstoff sorgen, handelt es sich um Konflikte unter Glaubensbrüdern, Schlägereien, Unfälle, manchmal vielleicht sogar Selbstmorde. Mit der höchst logischen Folge, dass der Staatsanwalt bei diesen Vorfällen im sozialen Nahbereich nicht die Kriminalpolizei einsetzt. Die Sûreté mit ihrer auf die Überwachung der Nordafrikaner spezialisierten Übersee-Einheit scheint ihm besser dafür gerüstet, diese spezielle Bevölkerungsgruppe einzuschätzen, als wir von der Kriminalpolizei.«
Ende der Unterredung.
Die beiden Männer gehen wortlos zurück zu ihrem Büro. Als sie eintreten, steht Grimbert auf.
»Sagen Sie nichts. Der Dicke Marcel hat mich verständigt. Die Sûreté macht das Rennen.«
»Ja. Offiziell. Die Kriminalpolizei ist aus dem Spiel.«
»Damit musste man rechnen. Wie bei allen anderen Morden an Algeriern.«
»Hast du ihre Anzahl in Erfahrung gebracht?«
»Ich habe es versucht. Schwierig, es genau zu beziffern.«
»Auf wie viele kommst du?«
»Die Zahlen schwanken. Für die Stadt Marseille im engeren Sinne ergeben die offiziellen Zahlen drei Tote zwischen dem 14. August, dem Tag des Mordes in Vallon des Tuves, und der Ermordung von Guerlache am 24. August: zwei durch Schüsse, ein dritter mit eingeschlagenem Schädel. Vom 24. bis zum 28. August, zwischen Guerlaches Tod und seiner Beerdigung, haben wir zwei weitere Morde an Nordafrikanern: eine Leiche, die am Vieux-Port gefunden wurde, ohne genauere Angaben, und ein durch Schläge mit einem Stein zerschmetterter Schädel. Und nochmals drei Tote letzte Nacht und heute Morgen: ein Algerier mit einer Axt erschlagen, ein im Vieux-Port Ertrunkener mit Steinen an den Füßen und unser Malek Khider, erschossen. Macht acht Tote in zwei Wochen. Im Durchschnitt etwas mehr als ein Toter alle zwei Tage. Aber das sind die offiziellen Zahlen, die Realität sieht höchstwahrscheinlich anders aus. Hin und wieder findet man die Leiche eines Algeriers, die seit längerer Zeit an einem einsamen Ort oder im Wasser lag, ohne dass man genau weiß, wann oder wie er umgekommen ist, Unfall, Selbstmord vielleicht, folglich wird er in den offiziellen Zahlen der aktuellen Mordwelle nicht berücksichtigt. Außerdem geht ein Verletzter, der noch mehr als vierundzwanzig Stunden lebt, ehe er stirbt, nicht in die Todesstatistik ein. Und niemand führt Buch über die Verletzten. Wenn auf eine Gruppe Nordafrikaner geschossen wird, oder auf eine Einzelperson, und man protokolliert keinen Toten oder Sterbenden, vermerken die offiziellen Statistiken bloß: kein Opfer. Und wir hatten in den zwei Sommermonaten über zwanzig Schüsse auf algerische Cafés und Unterkünfte oder auf Gruppen oder einzelne Einwanderer. Noch nicht mitgerechnet die Brandanschläge auf Wohnhäuser oder Firmen. Zu diesen Anschlägen ist keine einzige Zahl veröffentlicht. Tatsächlich gab es seit der Sache in Grasse am 12. Juni hier in Marseille und Umgebung praktisch täglich gewalttätige Zwischenfälle, deren Opfer gemäß offiziellen Statistiken allesamt Nordafrikaner sind. Um genau zu sein: Bis hierher ist die überwiegende Mehrheit der Opfer algerisch. Dieser Beschuss kommt wahrscheinlich nicht von ungefähr. Der Algerienkrieg ist nicht vorbei.«
Delmas fragt: »Wie kommt es, dass die Presse bis vor wenigen Tagen nichts darüber gebracht hat? Und dass wir nicht alle mobilisiert werden, um das Gemetzel zu beenden? Schlimmer noch, wir bei der Brigade Criminelle sind nicht mal auf dem Laufenden.«
»Weil die Regierung, der Staatsanwalt, die Sûreté die Informationen unter Verschluss halten, und weil die Zeitungen sich überwiegend auf ihre Quellen bei der Sûreté verlassen.«
»Grimbert, nennen wir das Kind doch beim Namen. Wir sind hier in Marseille mit einer Terrorwelle konfrontiert, die sich gegen nordafrikanische Einwanderer richtet, die an den Algerienkrieg anknüpft und wahrscheinlich an den Terrorismus der OAS. Und offensichtlich lautet die Anweisung an Polizei und Justiz, wegzuschauen. Das kann nicht ohne Folgen bleiben. Es wird schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesellschaft nach sich ziehen, aber auch auf die Funktionsweise unserer Dienste. Das wissen Sie so gut wie ich.«
Schlagartige Kälte im Büro. Delmas schlägt vor, im Anbau ein Glas zu trinken. Er hält das in Anbetracht der Umstände für das einzig Richtige.
»Gehen Sie schon mal vor«, sagt Daquin, »ich mache noch einen Anruf, dann komme ich nach.«
Bedürfnis nach einer Pause, einem Atemholen, nach Wärme, nach Haut. Einzige Möglichkeit: Vincent. Daquin greift zum Telefon.
»Vincent? Ich kriege keine Luft, ich ersticke. Finde einen Weg, wie ich deine Stadt heute Abend lieben kann.«
»Nichts leichter als das. Ich hole dich in einer Stunde vorm Rathaus mit dem Wagen ab.«
Diskretes Treffen des Polizeipräsidenten mit seinen engsten Mitarbeitern in seinem Büro. Es geht darum, zwei Hochrisiko-Tage einer schnellen Bilanz zu unterziehen: Das Verteidigungskomitee der Bürger von Marseille hatte seit dem 27. August mit viel Lärm für den 29. zu einer Großdemonstration gegen illegale Einwanderung aufgerufen. Die Präfektur fürchtete die Kontrolle über die Situation zu verlieren und eine Straßenschlacht zwischen extremer Rechter und extremer Linker mitten in der Innenstadt nicht verhindern zu können.
Der engste Berater des Polizeipräsidenten stellt fest: »Pereira war für unsere Argumente zugänglich. Er hat den Demonstrationsaufruf zurückgezogen, und es hat keine Demonstration gegeben. Er ist ein zuverlässiger Mann, der seine Leute im Griff hat. Ein vertrauenswürdiger Gesprächspartner.«
Der Polizeipräsident schließt: »Gestern bei der Beerdigung von Guerlache und heute den ganzen Tag keine besonderen Vorkommnisse. Die gefährlichste Zeit ist vorüber. Gutes Krisenmanagement. Wir können mit uns zufrieden sein. Danke, meine Herren.«
Daquin steigt in Vincents Wagen, kippt die Lehne des Beifahrersitzes nach hinten, streckt sich aus, entspannt sich, schließt halb die Augen.
»Eine Nacht fast ohne Schlaf und nicht aus reiner Glückseligkeit, ich bin müde. Sag mir nicht, wohin du mich bringst. Überrasch mich.«
Vincent lächelt, bemüht sich um eine sanfte Fahrweise. An einem Wochentag abends aus dem Zentrum von Marseille herauszukommen, ist kein leichtes Unterfangen. Als er den Motor abstellt, öffnet Daquin die Augen. Sie stehen vor einer sehr schönen Villa aus dem 19. Jahrhundert, die auf einer Felsspitze liegt und in ein Hotel-Restaurant umgewandelt wurde, Le Petit Nice. Dahinter erahnt man das Meer, man ist hier an der Corniche, also nicht wirklich eine Überraschung, sagt sich Daquin. Sie treten ein, durchqueren die riesigen Empfangsräume und gelangen in den terrassenförmig angelegten Garten. Schock. Ich bin darauf gefasst, ich wappne mich, und doch haut es mir die Augen raus. Ein unermesslicher Horizont, das Meer überall, glitzernd, zudringlich, der Geschmack von Salz auf seinen Lippen, Ewigkeit im Herzen. Im Vordergrund das üppige Grün der Restaurantterrassen, im Hintergrund, dezent, ein Saum karger Granitfelsen, und davor, zum Greifen nah, eine winzige Insel wie ein brauner Tupfer, um das Blau noch blauer zu machen. Etwas weiter in der Ferne, zum Träumen, eine andere Insel, die Festung Château d’If. Ein kostbarer Moment voller Sinneseindrücke und Gefühle, den er in einem Winkel seiner Erinnerung bewahren muss.
»Danke, Vincent.«
»Meine Kanzlei hält hier offenen Tisch, und sie ist es auch, die heute Abend zahlt. Das Petit Nice ist eine Institution des Marseiller Establishments, der ideale Ort für diskrete, inoffizielle Arbeitstreffen rund um eine gute Tafel, so wie unser heutiges Abendessen zwischen einem Anwalt des Marseiller Gangstertums und einem Commissaire der Kriminalpolizei.«
Lächeln. »Hübsche Tarnung. In deiner Stadt ist Vorteilsannahme eine ehrenwerte Handlung, die Liebe unter Männern hingegen nicht.«
Ihr Tisch ist am äußersten Ende der Terrasse gedeckt, direkt über der steilen Felswand, etwas abseits vom Gros der Gäste. Daquin sucht den Wein aus, einen Blanc de Cassis, und der Ober bringt eine gemischte Vorspeisenplatte, Tintenfisch, Supion, Muscheln, Meeräschenrogen und verschiedenste Nüsse und Kerne. Daquin kostet den Wein, kalt, kein edler Tropfen, aber so gefällig, die Erinnerung an ein anderes Abendessen an der Corniche steigt in ihm hoch, der erste Fall in seiner jungen Karriere, erst ein paar Monate her, mit dem gleichen Blanc de Cassis, diese Reminiszenz verleiht ihm zusätzlichen Charakter. Perfekt. Während sie die Vorspeisen knabbern und die Flasche leeren, bringt Vincent das Gespräch in Gang.
»Ich war heute Nachmittag bei der Pressekonferenz des Staatsanwalts. Ich hatte gehofft, dir dort zu begegnen …«
»Und ich war nicht da.«
»Und das war ein Fehler. Du musst mit Journalisten verkehren, das ist ein beruflicher Imperativ. Die nämlich gewährleisten in dieser Stadt den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Polizeiapparaten, die einander hassen und nicht miteinander reden, und ebenso zwischen den Anwälten und den Polizisten, in beiden Richtungen. Um an diesem Kreislauf teilzunehmen, muss man sich blicken lassen und trinkfest sein, da bist du gut gerüstet, soweit ich mich erinnere. Aber du bist nicht zur Pressekonferenz gekommen. Warum?«
»Was denkst du?«
»Weil die Algeriermorde das Jagdrevier der Sûreté sind und du deshalb schmollst?«
»Ja, so in etwa.«
»Du machst da einen Fehler.«
»In jeder anderen französischen Stadt fallen solche komplexen Mordfälle in die Zuständigkeit der Kriminalpolizei. Diese Typen von der Sûreté machen uns das Revier streitig und schnüren mir die Luft ab.«
»Man überträgt diese Fälle der Sûreté nicht, damit sie erfolgreich abgeschlossen werden, man überträgt sie ihr, damit sie niemals aufgeklärt werden. Es gibt hier eine Art, die Dinge zu sehen, eine Geisteshaltung, eine Kultur, nenne es, wie du willst, die von allen geteilt wird: Worüber man nicht spricht, das existiert nicht. Also spricht man nicht über rassistische Verbrechen. Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen. Keine Ermittlungen, eingestellte Verfahren und vor allem kein Prozess – schon wegen diesen ganzen Schmierfinkjournalisten. Vergebene Liebesmüh, du würdest nur deine Zeit verschwenden.«
»Das weiß ich alles, aber es lächelnd hinzunehmen …«
Der Ober kommt, räumt den Tisch ab, entkorkt eine zweite Flasche Blanc de Cassis und serviert ihnen zwei gedünstete Wolfsbarschfilets, offenbar das Rezept der Mutter vom Küchenchef. Exzellent. Daquin, zurückgelehnt, Glas in der Hand, Geist im freien Flug, Blick aufs Meer, atmet den Geruch der offenen See, herangetragen von dem Lüftchen, das den Sonnenuntergang ankündigt. Filz aus stillschweigender Duldung und Kompromissen. Wahrscheinlich überall gleich. Der typische Marseiller Stil liegt in der Komplexität der Interaktionen und dem Zynismus, mit dem jeder damit hausieren geht und darin schwelgt. Stolz darauf, Marseiller zu sein. Bilder der vergangenen Nacht, die Blutlachen, der Alte und der Bruder tief getroffen, die beiden Jungen, die sich so eifrig ihrer Erinnerungsarbeit widmen, wie werden sie alle reagieren? Die Abrechnung-im-Milieu-Version schlucken? Sich wehren? Und du, Commissaire, bist du bereits tot? Beweg dich, lebe, mach deine Arbeit. Wie deine Krallen in diese Ermittlung schlagen?
Als der Ober geht, nimmt Daquin den Faden wieder auf. »Sag mal, bei der Pressekonferenz heute Nachmittag hat der Staatsanwalt auch angekündigt, dass er ein beschleunigtes Verfahren eröffnet, um die Todesursache zu ermitteln bei einem Jungen, dem man mit aufgesetztem Lauf zwei großkalibrige Kugeln mitten in die Brust geschossen hat. Ich kann mir vorstellen, dass er Zeit gewinnen will, aber wofür?«
»Richter Bonnefoy, Cheftotengräber der mit dem Etikett ›eingestellt‹ versehenen Ermittlungen, ist im Urlaub. Der Staatsanwalt hat ihn gebeten, zurückzukommen, damit er die Untersuchung als Morduntersuchung neu einstufen und ihm im Anschluss gleich die Aufsicht übertragen kann, deshalb wartet er. Man kann nie vorsichtig genug sein.«
»Verstanden. Noch etwas anderes. Dein Vallon des Tuves-Fall wurde, wenn ich nicht irre, von einigen Journalisten auf der Pressekonferenz angesprochen.«
»Ja, stimmt.«
»Ein rassistischer Mord?«
»Sagen wir, der Schütze ist ein Franzose, der Nordafrikaner nicht leiden kann und als Einziger bewaffnet war. Was du daraus machst, ist deine Sache …«
»Das ist nicht der erste Vorfall dieser Art, ich verstehe nicht, warum das den Chef der Sûreté auf den Plan ruft und warum du bereit bist, deinen Urlaub abzubrechen, um den Fall zu übernehmen.«
»Weil der Schütze ein kleiner Chef in einer ›delikaten‹ Sicherheitsfirma ist. Weil der Lage mit simplen Ausweichmanövern und Hinhaltetaktik nicht beizukommen war. Und man bestellt mich, weil ich gut bin.«
Die Nacht ist hereingebrochen, grau und bläulich, durchscheinend und dunkel. Die Farbe von Vincents Augen vor der Liebe, wenn die Begierde brennt, meine, seine, denkt Daquin, der beim abschließenden Cognac angekommen ist. Mein Gelegenheitsliebhaber, nicht genial, aber gefügig und genießerisch. Honoriger Anwalt, zynisch, geschmeidig und findig, diese ganze Feigheit, die sich ihres guten Rechts so sicher ist. Lust, dich gleich hier zu nehmen, auf diesem Tisch, mit Gewalt, um dich zu zeichnen. Unmöglich. Frustrierend. Wenn ich es eines nahen Tages schaffe, die Sûreté und ihre Tricks zu ficken, das Vergnügen am Bullenmetier wiederzufinden, an der Jagd, dem Blutgeruch, dem Adrenalin, der Beute, dem harten Zuschlagen – dann tue ich es. Ich tu es, bevor ich hier abhaue.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.