Kitabı oku: «Zügellos», sayfa 3
Sonntag, 3. September 1989
Die automatischen Schiebetüren öffnen sich quietschend. Daquin betritt die vertraute Welt des Krankenhauses. Lenglet wurde wieder eingeliefert. Und diesmal, sagt er, zum letzten Mal. Lenglet, der unverbrüchliche Freund seit Jugendtagen. Die gleiche Auflehnung gegen die Familie, die gleichen sexuellen Erfahrungen, die gleichen intellektuellen Vorlieben, das gleiche Studium. Danach Diplomaten- und Geheimdienstlaufbahn, während Daquin sich für die Polizei entschied. Aus den gleichen Gründen. Bei ihren zufälligen Begegnungen stets Komplizenschaft und Kooperation, ein ständiger Drahtseilakt zwar, weil die Interessen eben nicht die gleichen waren, aber auch klug, anregend, unverzichtbar. Verurteilt zu einem Leben ohne dich, mein Doppelgänger, mein Zwilling.
Beim Gang durch den Flur kurzer Austausch mit der Krankenschwester: So schlimm diesmal? Sie nickt. Daquin erinnert sich an seinen Lachanfall, als er das erste Mal vom »Schwulenkrebs« hörte. Schnell gefolgt vom Wissenwollen und dem unverrückbaren Entschluss, sich in der Lust niemals vom Tod faszinieren zu lassen. Aus purer Provokation am Leben zu bleiben. Er betritt das Krankenzimmer. Lenglet liegt da, verloren im Weiß, Augen geschlossen, eingefallenes, entstelltes Gesicht. Daquin hat wieder seine Kindheit vor Augen, seine Mutter, langsamer systematischer Selbstmord durch Alkohol und Medikamente. Sein Vater sieht ihr dabei zu. Eiskalt. Erleichtert. Ein vorprogrammierter, in Kauf genommener Tod. Ich, niemals. Daquin beugt sich übers Bett. Ich verzeih dir nicht, dass du stirbst. Und dass du dir diesen Tod ausgesucht hast.
Lenglet öffnet die Augen, sieht ihn an. Er spricht mit atemloser Stimme, mit einem wackligen Lächeln, einer gewissen Selbstironie. »Angst, Théo?«
Daquin betrachtet die fast durchscheinenden eleganten Hände. Natürlich habe ich Angst. Du machst mir Angst. Thema wechseln.
»Ich bin müde. Der Druck auf das Drogendezernat ist groß. Amerikanische wie französische Politiker halten hysterische Reden, in denen sie die Drogenhändler als Staatsfeind Nr. 1 unserer Zivilisation ausmachen …«
»Es muss doch ein Ersatz für die kommunistische Bedrohung her, die sich gerade in Luft auflöst.«
»Unsere Chefs wurden gefeuert und durch sogenannte Vertrauensleute ersetzt. Da sie kaum Erfahrung haben, hat die DEA ein paar Agenten geschickt, die ihnen erklären sollen, wie sie’s anpacken müssen. Und ich habe mir die Nacht im Kommissariat des 16. um die Ohren geschlagen und Kindermädchen gespielt für einen Bengel, der kokst, um seinen Vater zu ärgern, der Sohn eines gewissen Deluc, Berater im Élysée …«
»Christian Deluc?«
Lenglet hat die Augen geschlossen, sagt lange nichts. Im Zimmer herrscht Stille. Daquin lauscht Lenglets Atemzügen.
Die Augen immer noch geschlossen, fährt er fort: »Den habe ich tatsächlich mal kennengelernt. ’72 oder ’73 in Beirut. Er war damals militanter Linksradikaler und kam die palästinensischen Ausbildungslager besichtigen.« Eine lange Pause. »Keiner von der ernsthaften deutschen Sorte. Mehr die Sorte französischer Polittourist. Wir behielten ihn trotzdem im Auge. Keine sehr sympathische Figur.« Er denkt einen Moment nach. »Verklemmt. Ein verklemmter Perverser Marke protestantisch-pädophiler Fundamentalist.« Lenglet verstummt, öffnet die Augen und lächelt Daquin an. »Du bist der einzige Mann, den ich kenne, der ruhig zuhören kann.«
»Das ist eine Bullentugend.«
»Kann sein, weiß ich nicht.« Lenglet schließt wieder die Augen. »Delucs Gruppe hat sich schließlich aufgelöst, während er in Beirut war. Er saß in der französischen Botschaft fest und freundete sich mit einem komischen Kerl an. Ein Fremdenlegionär, glaube ich, der zum Sicherheitsdienst der Botschaft gehörte und dessen eigentliche Aufgabe darin bestand, Frankreichs hohen Gästen Frauen, Männer oder Kinder fürs Bett zu besorgen.« Er ruht sich einen Moment aus. »Wir nannten ihn ›le Chambellan‹, den Kammerherrn. Dank der in Beirut geknüpften Kontakte soll er nach seiner Rückkehr nach Paris ein Vermögen gemacht haben.«
»Und Deluc hat Karriere bei den Sozialisten gemacht.«
»Der Name des Kammerherrn fällt mir partout nicht ein.« Erneut Stille. »Ich bin erschöpft, Théo. Meine Neugier ist erloschen. Nur die Erinnerung bereitet mir noch Freude.«
Als Lenglets Liebhaber in Begleitung zweier Verflossener hereinkommt, verlässt Daquin das Zimmer und die Klinik. Zusammenkünfte von Lovern, Exlovern und deren Exlovern kann er von jeher nicht leiden, schon gar nicht an einem Totenbett, an Lenglets Totenbett. Er geht langsam zu Fuß nach Hause. Ein drückend-schwüler Abend. Rudi kann er heute unmöglich treffen. Nicht mal Lust, was Richtiges zu essen. Ich improvisiere mit dem, was der Kühlschrank hergibt.
Rückkehr in die Villa des Artistes, ein kühles, ruhiges Refugium weitab vom Zentrum. Das Häuschen besteht aus einem großen Raum im Erdgeschoss, Glasfassade mit weißen Stoffrollos. Zwei dicke Sessel und eine Ledercouch, Wände und Möbel aus Holz, Stereoanlage, beeindruckende CD-Sammlung, und im rückwärtigen Teil hinter einem Tresen eine sehr gut ausgestattete, in Altgelbtönen geflieste Küche. Im Zwischengeschoss das Schlafzimmer, nichts als ein sehr großes Bett und wändefüllende Regale, überladen mit mehrreihig gestellten Büchern. Vom Schlafzimmer gehen die Garderobe, gut bestückte Mahagonischränke und -schubladen, und das Badezimmer ab, weiße Fliesen, große Wanne und Dusche mit Massagestrahl.
Niemand zu Hause. Daquin legt sich auf die Couch und lässt die Gedanken schweifen. Eine ganze Weile. Lenglets Todeskampf hält das Verlangen auf Abstand, verleiht ihm einen Anstrich von Wehmut.
Es war in Harry’s Bar in Venedig, Arrigo Cipriani stand wie aus dem Ei gepellt an ihrem Tisch und pries in gewähltem Italienisch die Butternudeln, während er Rudi ansah, der ihm mit zur Seite geneigtem Kopf und irgendwie besorgter Anspannung gebannt lauschte, ohne ihn zu verstehen. Es war Nacht über der Lagune. Plötzlich packte ihn ein wahnsinniges Verlangen, raubte ihm den Atem. Ihn hier nehmen, jetzt gleich … Sie tauschten Blicke. Sie aßen wortlos zu Ende und vögelten die ganze Nacht … Das war letztes Jahr.
Butternudeln. Daquin durchsucht die Küchenschränke. Wasser in einem großen Edelstahltopf zum Kochen bringen. Butter in einem Gefäß über dem Topf schmelzen lassen. Wenn die Butter geschmolzen ist, die Nudeln ins kochende Wasser geben. Sehr gute Nudeln. Die Nudeln von Cipriani. Weder standardgetrocknet noch frisch, einmalig. Kochzeit: zwei Minuten. Topfinhalt in ein Sieb abschütten, Nudeln gut abtropfen lassen. Einen Teil der geschmolzenen Butter in den Topf geben, dann die Hälfte der Nudeln, wieder geschmolzene Butter plus Parmesan, schließlich den Rest Nudeln, Butter und Käse. Alles kräftig mischen. Das Ganze auf einen Teller füllen. Sofort servieren. Zu den Butternudeln Quellwasser trinken. Ein kulinarisches Meisterwerk.
Wenn nichts Besseres da ist.
Montag, 4. September 1989
Treffen der Kommissare vom Drogendezernat im Büro des neuen Direktors. Daquin ist mit Dubanchet auf dem Weg dorthin, sie kennen sich seit ihrem Ausbildungsjahr in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or, haben bereits etliche Male zusammengearbeitet und verstehen sich ohne viele Worte.
»Und der neue Chef? Hast du ihn schon kennengelernt?« Verzieht das Gesicht. »Vorsichtig sein … Kommen lassen.« Sie treten ein. Der Direktor geht auf sie zu, drückt ihnen lächelnd die Hand. Schlank, dunkler Anzug, glatt gekämmtes Haar, mit seinem kultivierten Auftreten wirkt er eher wie ein Präfekt als wie ein Polizist. Er hat zwar Stallgeruch, aber sein beruflicher Aufstieg vollzog sich im Wesentlichen in den Ministerialkabinetten.
Die fünf oder sechs Kommissare, die sich in dem Büro einfinden, nicken sich zur Begrüßung nur stumm zu. Der Direktor äußert in ein paar Sätzen seine Freude darüber, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Hinter seinem Lächeln spürt Daquin fast greifbar das, was er nicht sagt. Der Mann ist auf der Hut. Und die Sitzung beginnt.
Sofort steht das Kokain im Zentrum des Gesprächs. »Sprunghafter Anstieg des Konsums in Europa, Heroin-Kokain-Tauschhandel zwischen italienischer und kolumbianischer Mafia, wahre Fluten von schmutzigem Geld, bei diesen Agenten des Todes kann es keine Kompromisse geben, und nach dem Arche-Gipfel und der Gründung der FATF zur Bekämpfung der Geldwäsche brauchen wir Ergebnisse. An höherer Stelle zählt man auf uns. Unsere Kollegen vom OCRTIS haben im August einen großen Fang gemacht. 53 Kilo Kokain. Dahinter dürfen wir nicht zurückstehen.«
»53 Kilo Drogen, aber nicht einen Dealer«, sagt Daquin. »Ich bin nicht sicher, ob sich eine derartige Operation zur Wiederholung empfiehlt.«
Der Direktor muss das verdauen und macht weiter mit der Bilanz des Drogendezernats der letzten zwei Jahre. Dubanchet leise zu Daquin: »Glaubst du, die DEA hat ihnen den Stoff zur Verfügung gestellt?«
»Gut möglich, ihre Agenten sind derzeit bei uns unterwegs. Und dann ist was schiefgelaufen.«
Der Direktor ruft die beiden spektakulären Zugriffe des vergangenen Jahres in Erinnerung. Und die nach langen Ermittlungen in Zusammenarbeit mit anderen Polizeibehörden an der Côte d’Azur geglückte Festnahme von Mafiaboss Buffo …
»Eine übereilte Festnahme«, wirft Dubanchet ein. »Ich war dabei. Keine Chance, ihm Drogenhandel nachzuweisen, er sitzt wegen Zigarettenschmuggels. Faktisch ein Fiasko.«
»War ein Tipp der DEA«, setzt ein anderer Kommissar hinzu.
»Wir müssen methodisch und mit Bedacht vorgehen«, schließt Dubanchet das Thema ab.
Daquin beobachtet den Chef, der eine Zigarette nach der anderen raucht. Die Beziehungen werden sich schwierig gestalten.
Man wendet sich den laufenden Fällen zu. Am Ende der Sitzung schaltet Daquin sich ein.
»Zwei meiner Informanten sagen, im Rennbahnmilieu wird im großen Stil Kokain konsumiert. Ich hätte gern ein paar Tage, um diesen Tipps nachzugehen.«
»In Ordnung. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Dienstag, 5. September 1989
Schon früh um sieben ist Daquin an seinem Arbeitsplatz im Drogendezernat am Quai des Orfèvres. Ein abgelegenes Büro am Ende eines Flurs im obersten Stock mit Fenster zum sehr ruhigen Innenhof. Hell, geräumig, mit zweckmäßigem Nullachtfünfzehnmobiliar, das seinem kompletten Team als Sitzungszimmer dient. Daquin holt Akten aus den Holzschränken, die zwei ganze Wände einnehmen, legt sie auf seinen Schreibtisch, blättert darin. Momente einsamer Arbeit, Gedächtnis auffrischen, Ideen entwickeln, Fährten skizzieren. Versuchen, gründlich und intelligent vorzugehen. Kokain und Pferde. Nicht viel zu finden. Hier und da ein bisschen. Der Patriarch der Ochoa-Familie in Medellín ist ein erfolgreicher Züchter kolumbianischer Pferde. Dünn … Die Rennbahnen als Geldwaschanlage. Bekannt … Doping von Rennpferden mit Kokain- und Amphetaminderivaten … Ein Jockey … Viele Gerüchte, aber nichts wird publik. Und dann natürlich Romeros Akte über die Ermordung von Paola Jimenez. Daquin legt die AFP-Meldung vom 21. August 1989 über die Beschlagnahme von 53 Kilogramm Kokain durch das OCRTIS dazu. Wahrscheinlich das Schlusswort in dieser Sache.
Er verwahrt die paar Unterlagen, die er für sich behalten will, in einer seiner Schubladen und stellt den Rest zurück an seinen Platz. Ordentlich. Akten sind die Grundlage der Macht. Er setzt sich mit dem Rücken zum Fenster, Füße auf die Schreibtischkante, und denkt einige Minuten nach.
An der gegenüberliegenden Wand, neben der Tür zum Flur, hängt eine riesige Pinnwand aus Kork. Im Laufe einer Ermittlung füllt sie sich mit Adressen, Telefonnummern, Nachrichten, Terminen, Karten, Plänen. Daquin steht auf, mistet aus, wirft oder sortiert Veraltetes weg, schafft Platz für die kommenden Tage. Unter der Pinnwand eine Anrichte, obenauf eine hochmoderne Espressomaschine, drinnen Vorräte an ungemahlenem Kaffee und Mineralwasser, Tassen, Gläser, diverse Spirituosen und ein Plastikkorb für das schmutzige Geschirr. Hier herrscht tadellose Ordnung. Daquin macht sich einen Espresso. Ein paar Minuten Ruhe. Lässt den Blick schweifen. Ein vertrauter Ort, er fühlt sich wohl.
Kurz vor elf rührt sich etwas im Inspektorenbüro nebenan. Schlag elf kommen sie lärmend durch die Zwischentür, legere Jacken, Jeans, Turnschuhe, außer Lavorel, der stets in Blazer und dunkler Hose oder im Anzug erscheint. Romero, gutaussehender Latino, attraktiver Frauenheld, arbeitet seit neun Jahren mit Daquin zusammen. Lavorel, früher bei der Abteilung für Wirtschaftsdelikte, gehört nach zunächst sporadischer Zusammenarbeit seit vier Jahren fest zum Team. Mit seiner Nickelbrille wirkt der rundliche und langsam kahl werdende Blondkopf wie ein Bürokrat. Aber Romero und er sind Brüder im Geiste. In Stadtrandsiedlungen geboren und aufgewachsen, der eine in Marseille, der andere in Paris, sind beide in ihrer Jugend knapp an der Kriminalität vorbeigeschrammt und stolz, das nicht vergessen zu haben. Romero findet in seiner Arbeit als Inspektor ein geradezu sinnliches Vergnügen. Und Lavorel, der sich aus seiner Tätigkeit in der Abteilung für Wirtschaftsdelikte eine Vorliebe fürs Aktenstudium bewahrt hat, betrachtet seinen Beruf als eine Form der Rache: Er will, soweit er es kann, die Ungerechtigkeit der Justiz wettmachen, die die Mächtigen verschont und die Schwachen zermalmt, und es den Reichen heimzahlen. Die beiden anderen Inspektoren, Amelot und Berry, sind zwei junge Burschen in ihrer ersten Anstellung. Nach Abschlüssen in Geschichte und Politik haben sie, als sie keine Arbeit fanden, diverse Auswahlverfahren für den öffentlichen Dienst durchlaufen und landeten irgendwann bei der Polizei, ohne bisher den Unterschied zwischen ihrem Beruf und dem des Postbeamten so recht verstanden zu haben. Daquin nennt sie die Chorknaben.
Daquin macht Espresso, alle setzen sich. Er berichtet kurz von seiner Nacht im Kommissariat des 16. und der Sitzung mit dem neuen Chef des Drogendezernats.
»Wir werden also etwas Zeit darauf verwenden, uns im Rennstall Meirens diesen Senanche anzusehen. Vielleicht ist er ein Gelegenheitsdealer, der sich seinen Stoff in Holland besorgt. Wenn dem so ist, kriegen wir das schnell raus. Teilt euch die Arbeit auf. Ich meinerseits werde mich bei verschiedenen Abteilungen umhören, ob es irgendwo laufende Ermittlungen gibt, die uns etwas angehen könnten. Erste Bilanz in einer Woche hier.«
Donnerstag, 7. September 1989
Daquin braucht eine Weile, bis er zwischen Banlieues und Autobahnzubringern die Einfahrt zum Reitzentrum von La Courneuve findet. Ein weitläufiges Gelände mit Ställen, Reithallen, Dressurplätzen und ein paar Bäumen, begrenzt durch eine Autobahn, Sozialwohnungsblöcke und einen Landschaftspark. Ein kurioses Gefühl, fern der Natur im Grünen zu sein. Daquin parkt den Dienstwagen vor einem flachen Holzbau mit sechs Boxen, vor denen ein Mann in blauem Arbeitsoverall mit einem Braunen beschäftigt ist. Daquin bleibt im Wagen, beobachtet ihn. Seine Handgriffe sind präzise, er hat sie vermutlich hunderte Male exakt so ausgeführt. Das Pferd macht mit, lebhaftes Ohrenspiel, es antizipiert jede Bewegung des Mannes und hat Spaß an der Sache. Die beiden haben sichtlich einen Draht zueinander, sie arbeiten ruhig und vertrauensvoll, wie ein Paar. Nicht ganz wie das Arbeitsklima im Drogendezernat. Diese Partie ist noch nicht gewonnen. Der Mann scheint zu wissen, dass er beobachtet wird, schert sich jedoch nicht darum. Ohne Eile beendet er die Pflege des Pferdes und führt es in seine Box. Daquin steigt aus dem Wagen.
»Le Dem? Ich bin Commissaire Daquin.«
Ein mittelgroßer junger Mann, kantiges Gesicht, brauner Bürstenschnitt, hellblaue Augen, träger Blick.
Sie setzen sich an die Bar des Reitzentrums, die um diese Zeit trostlos und leer ist, vor sich zwei Tassen lauwarmen löslichen Kaffee mit Milch.
Ihn aus der Deckung zwingen, damit ich nicht im Blindflug unterwegs bin. Ihm sagen, was er ohnehin weiß, und dann je nach Stand der Dinge weitersehen.
»Ich bin mit Einverständnis Ihrer Vorgesetzten hier, weil ich Ihnen vorschlagen möchte, einer Versetzung in mein Team beim Drogendezernat zuzustimmen, nur für die Dauer einer vermutlich kurzen Ermittlung im Pferdesportmilieu und mit Aussicht auf Beförderung.«
»Kann ich Nein sagen?«
Daquin entscheidet sich für ein Lächeln. »So pauschal? Kein bisschen neugierig?«
»Weil ich meine Arbeit hier liebe. Ich lebe mit meinem Pferd, ich patrouilliere mit ihm durch den Park. Ich gewährleiste die Sicherheit der Spaziergänger, ich komme ihnen wenn nötig zu Hilfe und betreibe mehr Prävention als Verbrechensbekämpfung. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu den Kindern in der Umgebung, ich vermittle ihnen ein besseres Bild von der Polizei, nämlich das einer staatlichen Institution, die ohne Gewalt auskommt, und das ist genau mein Ding. Drogenfahndung heißt Krieg. Und Krieg führen könnte ich nicht.«
Ein Marsmensch in einer Sozialbausiedlung. Und an den muss ich geraten.
»Würde diese Versetzung Ihnen Probleme machen, was beispielsweise die Organisation Ihres Familienlebens betrifft?«
»Nein, das ist es nicht, ich bin alleinstehend.« Ohne erkennbare Gefühlsregung.
Daquin betrachtet die Tasse, die er zwischen den Fingern dreht. »Ich werde Ihnen nicht erzählen, wir seien eine gewaltfreie Truppe. Und ich verstehe gut, dass Sie eine andere Auffassung von staatlichen Institutionen haben als wir. Doch wenn Sie Ja sagen, erwirke ich am Ende dieser Ermittlung Ihre Versetzung in die Bretagne, in die Gegend, wo Sie herstammen.« Blick aus dem Fenster. An der Boxentür horcht der Braune mit gehobenem Kopf und gespitzten Ohren auf das Brausen der Autobahn. »Und mache mich dafür stark, dass Sie das Pferd mitnehmen können, mit dem Sie derzeit arbeiten.«
Wimpernzucken. Treffer.
»Das könnten Sie?«
»Großes Kommissarsehrenwort.«
Lächeln. »Ich sag Ja.«
Montag, 11. September 1989
»Meine Herren, ich darf Ihnen unseren neuen Kollegen vorstellen. Er ist ein Berittener, wie man wohl sagt. Er wird unser Experte sein. Er kommt von einer Einsatzstaffel der Schutzpolizei in La Courneuve«, Blick zu Lavorel und Romero, wie erwartet ist er ihnen gleich sympathisch, »und wird in eurem Team mitarbeiten.« Dann wendet er sich an Le Dem. »Zwei Dinge: In meinem Büro wird nicht geraucht. Und niemand trägt seine Dienstwaffe. Sie können sie ins Büro nebenan oder in den Schrank legen und beim Gehen wieder an sich nehmen. Und jetzt Kaffee für alle und an die Arbeit.«
Romero geht zur Espressomaschine. »Wenn du dich beim Chef anbiedern willst, solltest du deinen Kaffee stark und schwarz und ohne Zucker mögen.«
Le Dem lächelt. »Ich mag ihn dünn und sehr süß. Sei’s drum.«
Alle setzen sich, und Romero erstattet Bericht darüber, was das Team bislang unternommen hat. Daquin macht sich an seinem Schreibtisch Notizen.
»Wir haben Meirens problemlos gefunden und Senanche identifiziert und auch einiges über den Verteilerring in Erfahrung gebracht. Morgens verkauft Senanche Drogen an Jugendliche, die die Pferde zum Training reiten, vermutlich Freunde von Olivier Deluc. Den haben wir dort nicht mehr gesehen. Vorgehensweise: Sie kommen mit dem Wagen, parken vor den Stallungen und geben Senanche den Schlüssel. Während sie mit den Pferden zu tun haben, legt Senanche das Kokain ins Handschuhfach und nimmt sich das Geld. Das Ganze ist gut eingespielt. Die Wagen sind auf die Eltern zugelassen. Als da wären Jambet und Wilson, beide hohe Führungskräfte, der eine bei Parillaud, der andere bei EDF, und Duran, venezolanischer Diplomat. Wir haben auch die Liste der Besitzer für Sie aufgetrieben, die ihre Pferde bei Meirens im Training haben, sie liegt in der Akte.
Zweiter Verteilerring: das Café in der Nähe, wo Senanche mehrmals täglich hingeht und von wo aus er sämtliche Telefonate erledigt. Wir lassen den Anschluss seit drei Tagen abhören. Ich habe Ihnen die interessantesten Gespräche auf Kassette überspielt, ist auch in der Akte. Sie werden sehen, dass Senanche viele Anrufe erhält und tätigt, bei denen es eindeutig um Verkäufe geht, die Kunden sind alles Männer, nur eine Frauenstimme. Die gehandelte Drogenmenge scheint größer zu sein als die am Morgen. Lieferorte sind offenbar die Rennbahnen. Senanche hat den Rennstall Meirens aber nie verlassen. Was den Lieferanten angeht …«
»Nicht so schnell. Bleiben wir noch kurz bei den Konsumenten. Die scheinen zunächst mal stark aufs Rennbahnmilieu konzentriert?«
»Ja.«
»Amelot und Berry, Sie graben da ein bisschen weiter. Leichter Job. Wenn Sie die Abhörbänder mit den Rennprogrammen abgleichen, sollte eine Liste der mutmaßlichen Konsumenten dabei herauskommen.«
Lavorel zieht ein Gesicht. »Warum beißen Sie sich an den Jockeys oder am Stallpersonal fest? Das ist nicht Ihr Stil.«
»Tun Sie nicht naiver, als Sie sind. Die reichen Sprösslinge behalten wir für uns, man weiß nie, wofür es gut ist. Sollten wir die Hilfe anderer Dienste benötigen, um tiefer in die Drogenringe vorzudringen, müssen wir den Kollegen im Gegenzug etwas anbieten, und dann liefern wir ihnen die Jockeys. Ich will außerdem nähere Informationen über Jambet, Wilson, Duran und wenn möglich über die Pferdebesitzer. Und Amelot und Berry prüfen für alle Fälle auch, ob es Berührungspunkte mit der Akte Paola Jimenez gibt. Können wir dann zum Lieferanten übergehen? … Schießen Sie los, Romero.«
»Viel haben wir nicht. Für einen Gelegenheitsdealer verkauft Senanche zu viel. Er wohnt auf dem Gelände und verlässt den Rennstall nur, um ins Café zu gehen. Im Café haben wir ihn aus nächster Nähe überwacht, es ist praktisch ausgeschlossen, dass er sich dort eindeckt. Was uns zurück zum Rennstall bringt. Die Drogen werden offenbar dorthin geliefert.«
Daquin wendet sich an Le Dem. »Wer kann regelmäßig einen Reitstall betreten, ohne Verdacht zu erregen?«
»Abgesehen von den Stallburschen, dem Stallmeister und dem Trainer morgens die Jockeys, ein paar Amateurreiter, die Besitzer, Fachjournalisten. Im Laufe des Tages die Leute, die Pferdefutter und Stroh liefern und den Stallmist abholen. Die Veterinäre, die Hufschmiede. Und die Fahrer der Transporter, die die Pferde zu den Rennplätzen bringen. Bestimmt habe ich welche vergessen.«
»Das sind eine Menge Leute.« Einen Moment nachdenken. Daquin geht zur Espressomaschine und schaltet sie ein. »Ich mache mich auf zum Chef und sage ihm, dass wir einen Ansatzpunkt haben und weitersuchen. Um gerichtliche Schritte einzuleiten, ist es noch viel zu früh. Für Sie, Romero, Lavorel und Le Dem, ändert das nichts, Sie machen mir den Lieferanten ausfindig. Wer will Kaffee?«