Kitabı oku: «"Man treibt sie in die Wüste"», sayfa 3
Das Leben in Anatolien
Mein Unterfangen, die Aufzeichnungen der ersten beiden Jahre ihres Aufenthalts in der Türkei fast vollständig zu erschließen, verfolgte auch ein weiteres Ziel. Der Leser soll sich einen Einblick verschaffen können in den Alltag des neuvermählten Schweizer Ehepaars, welches das Leben in eine weltentrückte Gegend der Türkei verschlagen hatte, samt der Schwierigkeiten, die mit dem Krieg zusammenhingen und die selbst für Fritz neu waren. Dabei kam Fritz mit Vorkenntnissen ins Land und kannte auch die Sprachen: Sein Arabisch war gut, er konnte auch etwas Türkisch. Doch war für die aus einer bürgerlichen Familie stammende, vornehme und gebildete Werdenbergerin alles fremd: Land und Leute, Sitten und Bräuche, das raue Klima, die Landessprachen und vieles mehr. Es galt nun zu verfolgen, wie die kühne Schweizerin die so ungewöhnlichen Umstände bewältigte, was ihr gefiel, was missfiel, und wie sie sich allmählich den neuen Verhältnissen anpasste. Und all dies kann man – selbst wenn man keinen Zugang zu ihren ausführlichen Briefen hat – ihren knappen, aber regelmäßigen Tagebuchnotizen entnehmen.
Schon ihre ersten Aufzeichnungen in der Türkei zeigen Clara als lebenstüchtige Frau. Im ersten Monat ihrer Ankunft sehen wir, wie sie Butter aus- und Früchte einkocht, draußen Wäsche bügelt, den eigenen Wein herstellt und, wenn es sein muss, ihr Bad im Erdölfass nimmt. Natürlich nicht ohne Hilfe, denn Fritz hat sie mit dem nötigen Dienstpersonal versorgt. Sie hat die Haushalthilfe Kohar32, die Diener Joggel33 und Mussa34. Außerdem hat das Ehepaar einen armenischen Gärtner samt Familie und auch Bekir, den türkischen Wächter, im Tagebuch «Begtschi»35. Gleich am Anfang im Juni 1915 beginnt Clara das Personal «mühsam mit Gesten und dem Wörterbuch in der Hand» anzulernen, aber dadurch auch selbst Türkisch zu lernen. Wir sehen, mit welcher Kreativität sie ungeachtet des Mangels an so vielen Dingen des täglichen Bedarfs zuerst ein Haus in Entilli und nach fünf Monaten ein zweites in Keller zu ganz «heimeligen» Wohnstätten herrichtet. Ihr großes Anpassungsvermögen kann man solchen Sätzen entnehmen wie «Im Stübli ist es warm und heimelig. Es muss zwar überall Geschirr untergestellt werden» (27. November, 1915). Doch es geht, denn sie hat schon Schlimmeres erlebt: «Es tropft auf meinem Bett» (12. November, 1915).
Zu Beginn ist Clara ganz benommen von der wilden Schönheit der kilikischen Berglandschaft, in der vieles sie an ihre heimatliche Alpennatur erinnert. Begleitet von Mussa, Joggel oder eines Kawassen36 geht sie täglich auf Wanderungen durch die Gegend, häufig auf der Suche nach seltenen Pflanzensamen und verschiedenen wilden Alpenblumen, und alle Namen sind ihr bekannt: Zyclamen, Krokus, Narzissen, Iris und Azaleen, Anemonen, Löwenmaul, Primeln und Orchideen. Wenn Fritz frei hat, machen sie zu zweit Ausritte oder Wanderungen, erkunden die Gegend, interessieren sich für Ethnographisches und Historisches im altertümlichen Kilikien. Zuweilen besuchen sie eines der vielen Kurdenhäuser in der Gegend, und Clara, beeindruckt von kurdischen Ritualen, beschreibt in ihrem Tagebuch und in ihren Briefen ihre Hochzeiten und Begräbnisse. Von ihrem Fenster aus oder von der Veranda ihres auf einer felsigen Anhöhe stehenden Häuschens kann sie fremdländische Szenen beobachten: Karawanen mit Kamelen, Araber mit schönen Pferden, Beduinen- und Zigeunerlager und vieles mehr. Begeistert schreibt sie darüber im Tagebuch und in ihren Briefen nach Hause. Doch Keller ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt mit einer Etappenstraße, die sich durch die Ebene zieht, und bald zeigt dort das Kriegsgeschehen sein hässliches Gesicht: reger Militärverkehr, «Ulanen, Kavallerie, Infanterie». Transporte «von deutschem Militär mit großen Geschützen», Durchzug von englischen und indischen Gefangenen mit Vorführung von erbeuteten englischen Fahnen, Jagd nach Deserteuren mit Schießereien und unbegrabenen Toten und vieles mehr. Das alles bedrückt Clara. Am 1. August 1915, dem Feiertag der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dringt der Krieg auch in ihr privates Leben ein, und sie schreibt: «Mein kleiner Tisch [draußen] ist von einer Kugel durchbohrt.»

Türkei 1915. Clara mit einem bewaffneten Kawassen und Pferd.
Die unangenehmen Besonderheiten der Gegend, etwa die «schrecklich wilde Musik der Eingeborenen» beim Fest eines Tunneldurchschlags (15. Juni 1915) oder die Art und Weise, in der die Toten «laut und pietätlos» beerdigt werden, dass es «einen friert» (7. November 1915), oder die grausame Behandlung von Tieren (vgl. Pferdedressur am 14. Dezember 1915), hätte Clara wohl hinnehmen können. Auch hatte sie wohl verschiedene mit der Kriegszeit zusammenhängende Schwierigkeiten erwartet. Was sie jedoch nicht vorauszusehen vermochte, waren die täglich an ihrem Häuschen vorbeiziehenden «Deportationszüge»37 der zwangsumgesiedelten Armenier sowie die unten in der Ebene sich immer wieder bildenden Sammellager, in denen erschöpfte, hungrige und durstige armenische Frauen, Kinder und Alte – seltener Männer, denn diese waren schon früher abgesondert und umgebracht worden – übernachteten und wo ungeheures menschliches Elend herrschte. Drei Jahre lang mussten die Neuvermählten aus der Schweiz tagaus, tagein mit wundem Herzen zusehen, «wie so manche Lichtlein unten in felsig steiler Schlucht erloschen»,38 während sie oben in ihrem abgelegenen Häuschen ihren Alltag lebten: Gäste empfingen, Feste feierten, Eltern wurden und in ihrem «heimeligen Stübli» Familienglück genossen.
Ein weiterer Anlass ständiger Besorgnis für das Ehepaar war das Schicksal der armenischen Bauarbeiter bei der Bagdadbahn. Von ihrem Mann hatte Clara erfahren, wie sehr bisher der Bau der Bagdadbahn von der Beteiligung der armenischen Bauarbeiter profitiert hatte und wie schwer nun deren Bau von den Übergriffen gegen diese Fachkräfte betroffen war. Früher hatte Fritz über fünfzehntausend Armenier unter sich, heute musste er immer mehr Armenier gehen lassen und sie durch ungeübte türkische Soldaten, indische Gefangene u.a. ersetzen lassen. Clara hört täglich von ihrem betrübten Mann sowie von den «Herren» – so nennt Clara die europäischen Ingenieure beim Bau der Bahn –, wie erfolglos ihr Einsatz für ihre armenischen Schützlinge ist. Diese ehrwürdigen Herren wie Oberingenieur Johannes Winkler, Walter Morf, Franz Köppel und andere Fachleute für den Bau der Bagdadbahn sind häufig bei den Sigrist-Hiltys zu Gast, und manche von ihnen, wenn sie auf Durchreise sind, werden bei ihnen beherbergt. Es gibt viele aufregende Besprechungen im Haus, wobei man «nicht wenig über die trostlosen Zustände [schimpft]» (7. Juli 1916), vor allem über die armenischen Arbeitskräfte, die täglich ausgewiesen und ins Verderben geschickt werden, viele von ihnen samt Familie.39 Man erzählt, dass die deportierten Bauarbeiter oft nicht einmal an ihr «Endziel», nach Katma oder Der el-Zor, gelangen. Sie werden unterwegs von speziell beauftragten türkischen, häufig auch deutschen Soldaten ermordet. Dazu berichtet Clara am 17. Juni 1916: «Deutsche Soldaten, die es mit angesehen, halten ihre Entrüstung nicht zurück: ‹Ein Hund war da nicht zu schießen›, sagen auch die Vollziehenden, und dann: ‹Wenn das die deutschen Soldaten daheim wüssten, würde keiner sich dazu hergeben, hier mitzutun.›»
Zuweilen, fast im Namen ihres Mannes, berichtet Clara in ihrem Tagebuch über Dinge, über die ihr Mann wegen seiner Position nie zu berichten gewagt hätte. Wie etwa, dass Fritz in einem Gespräch mit seinem kurdischen Diener sagte, dass er nicht begreife, warum «die Kurden ihren alten armenischen Nachbarn keine Hilfe leisteteten» (15. Juni 1916). Aus Claras Tagebucheinträgen geht deutlich hervor, dass Fritz seinen armenischen Arbeitern und ihren Familien zur Seite stand, wo er nur konnte, und wenn es sein musste, auch unter Zuhilfenahme seiner türkischen Beziehungen. Clara berichtet jedes Mal mit Stolz über die Wohltätigkeiten ihres Mannes, darüber, wie er die gefährdeten Armenier tatkräftig unterstützt, ausgewiesene Familien in letzter Minute mit Geld und Nahrung versorgt, Kranke hospitalisieren lässt und vieles mehr. Als zu ihrer armenischen Gärtnerfamilie, die am 15. Juni 1916 unter den speziellen Schutz des Sigrist-Hofes gekommen war, einen Tag darauf Gendarmen in ihren kleinen Stall eindrangen und die verheiratete Tochter abholten, war es Fritz, der sie abends wieder freikriegte. «Diese Arbeit ist nervenaufregend», schließt Clara. Nicht immer jedoch kann Fritz nach seinem Willen handeln, denn das Vorgehen der Türken gegen die Armenier wird immer brutaler. Am 16. März 1917 schreibt Clara: «Wieder werden die Armenier gesammelt. Fritz vermag die Sütçü-Familie40 nicht zu retten.»
Wenn sich unten im Tal zur Nacht ein Sammellager der Deportierten bildet, gehen Clara und Fritz häufig dorthin, um die Zustände von Nahem zu besehen. Da Hilfe untersagt ist, können sie sehr wenig tun. «Beschattet von Ängsten, Mitleid und Wut, nicht wirksamer helfen zu können»41, kehren sie jedes Mal ratlos heim, und Clara grübelt in ihrem Tagebuch: «Man lebt in einer eigentümlichen Welt. Dieser Ort, die Ruhe und der Frieden selbst. Dann daneben das Militär, hier die Bahnarbeiter und die Ausgewiesenen» (4. November 1915).
1916. Claras erste Schwangerschaft fiel in eine äußerst schwierige Zeit. Die Gewalttaten gegen die Armenier nahmen in diesem Jahr in der Amanusgegend ungeheure Ausmaße an. Einerseits die täglich vom Norden her vorbeiziehenden Todesmärsche, andererseits das immer größer werdende Problem der Vertreibung der Bahnarbeiter und die anschließenden Brutalitäten gegen sie und ihre Familien. Claras Tagebuch aus dieser Zeit bringt zahlreiche Eintragungen zu diesem Thema, erschütternde Szenen begleiten sie überall: während ihrer Spaziergänge und Ausritte, bei ihren Besuchen der Baustelle ihres Mannes. Auch andere Augenzeugen tragen ihr immer wieder herzzerreißende Berichte zu. Ihr Mann, ihr einziger Trost, verlässt das Haus «in aller Herrgottfrühe» und kehrt erst spät zurück, meist erschöpft und seelisch ausgelaugt wegen seiner zunehmenden Verluste an armenischen Fachkräften. Trotz allem erträgt Clara diese Schwierigkeiten in stoischer Ruhe. Sie bemüht sich, ihre Niedergeschlagenheit mit ihren Lieblingsbeschäftigungen im Haushalt und in der schönen kilikischen Berglandschaft zu bannen. Ablenken von den tragischen Eindrücken kann sie sich auch mit wohltuenden menschlichen Kontakten: die täglichen Besuche von durchfahrenden Kollegen und Freunden, die bei der gastfreundlichen Clara Unterkunft und Verköstigung finden, die gemütlichen Tee- und Plauderstunden mit den Gemahlinnen der europäischen Kollegen ihres Mannes.

Keller / Fevzipaşa 1917. Clara mit Baby «Karlfrideli».
Am willkommensten, «ein Segen», wie sie schreibt, waren jedoch für Clara während dieser Zeit die Besuche der deutschen Missionarin und Krankenschwester Paula Schäfer. Ohne Schwester Paula wäre Clara während ihrer Schwangerschaft ohne jedwede medizinische Beratung geblieben. Bis zu den letzten Tagen herrschte bei den Sigrists Ungewissheit in Bezug auf den Frauenarzt und den Ort ihrer Niederkunft. Schließlich gebar Clara am
26. Januar 1917, mitten in den Kriegswirren, im kleinen und weltabgeschiedenen Berghäuschen in Keller ihren ersten Sohn Karlfrideli42 oder Karl Fritz. Ihre Entbindung verlief unter der Betreuung des deutschen Oberstabsarztes Dr. Klages und der deutschen Krankenschwester und Freundin der Familie Paula Schäfer. Auch ihr Mann Fritz half mit. Die Geburt war schwer und dramatisch, aber ohne Komplikationen.
Vom 26. Januar an nehmen im Tagebuch liebevolle Aufzeichnungen zu den täglichen Fortschritten von Kalrfrideli und zu den Höhen und Tiefen im Leben des neuen Erdenbürgers einen großen Raum ein.
Insekten und Seuchen
Claras Tagebuch teilt uns auch mit, wie die geschulte Krankenschwester aus Gründen der Hygiene und Gesundheit in ihrer neuen Umgebung Sauberkeit und Ordnung etabliert, Krankheiten vorbeugt und ausheilt, Insekten bekämpft und sogar Skorpione und Taranteln vernichtet. Auch hier notiert sie alles emsig :
«Ganze Heuschreckenschwärme kommen wieder übers Land» (20. September 1915).
«Abends schwirrt es von Heuschrecken und Käfern und Faltern, alles kommt zum Licht.» Oder: «Schreckliche Moskitonacht» (24. Sept. 1915).
«Ich entdecke Läuse. Sofort wird geputzt und zur Wäsche bereit gemacht» (19. September 1917).
«Jagd auf Sandfliegen» (5. Oktober 1915).
«Schreckensnacht mit vier Wanzen.» (27. Oktober 1915)
«Der 8. Skorpion tot; diesmal im Schlafzimmer» (18. August 1916).
Viel alarmierter ist sie, wenn sie entdeckt, dass Insekten Karlfridelis Bettchen bewohnen. Am 26. Juni 1917 notiert Clara: «Ich finde Wanzen in Büeblis Bettchen und dasselbe wird in der Badewanne ausgebrüht.» Zuweilen bewundert man Claras Tapferkeit: «Ich nähe im Büdeli, da fällt mir auf einmal etwas vom Dach auf die Arbeit, und wie ich nachsehe, sind es ein Skorpion und eine Heuschrecke im Zweikampf. Als ich das Grausen überwunden, gehe ich mit der Feuerzange dahinter» (13. August 1917).
Unter diesen Umständen wurde Clara immer zäher und konnte etwa gelassen zusehen, wie ihr Mann Vipern erschlug, auf Schlangen schoß, Fallen für Schakale stellte und allerlei Ungeziefer vernichtete.
Clara graute es vor den verschiedenen Ungeziefern. Sie wusste, dass eine einzige kleine Laus ein Flecktyphuserreger sein könnte, dass Mücken die Malaria übertragen und Fliegen die Ruhr und andere ansteckende Infektionskrankheiten verbreiten. Auch war ihr bewusst, dass die vertriebenen und geschwächten Armenier für diese Krankheiten am anfälligsten waren und die Seuchen gleichzeitig auch verbreiteten. Mit Entsetzen beschreibt Clara das einzige für die Verhältnisse «normale Begräbnis», das sie in der Stadt Aleppo sah: «Ein kleiner achtjähriger Junge fällt beinahe ganz aus seinem Sarg heraus, Schwärme von Fliegen kriechen ein und aus. (…) Große Epidemien sind vorauszusehen» (28. September 1915).
Die unmöglichen hygienischen Verhältnisse in der ganzen Gegend führten tatsächlich zu Seuchen und Epidemien: Flecktyphus, Malaria, Influenza, Cholera, Ruhr, die ägyptische Augenkrankheit (Trachoma) u.ä. Bei den Sigrists wurden diese Infektionskrankheiten zu einem wichtigen Gesprächsthema während ihrer täglichen Zusammenkünfte. Anfang 1916 sprach man schon von Europäern aus ihrem Bekanntenkreis, die sich mit dieser oder jener Krankheit angesteckt hatten. Am häufigsten waren es Ärzte, die erkrankten. Am 24. Januar 1916 notiert Clara: «Dr. Farah zum Mittagessen da. Er kommt von Bagtsche, wo Dr. Konos am Flecktyphus erkrankt ist.» Dann am 9. Februar 1916: «Nun erkrankt auch noch Dr. Badier am Flecktyphus, der unsern Doktor in Entilli ersetzt. Also ist für die Strecke keiner mehr zu haben. Da und dort sind neun Fälle.» – «Rundum hat fast alles Fieber», heißt es am 3. Juli, und am 7. September 1916 war es Frau Wittig, die Frau des deutschen Ingenieurs von Fritz, der es elend ging, und der Doktor meinte, sie habe Typhus.
Die Südost-Türkei war von der Cholera-Epidemie am stärksten betroffen. Am 5. Oktober 1915 berichtet Clara von den ersten Cholerafällen, und am 22. Mai 1916 vermerkt sie, dass wegen Cholera selbst in Aleppo schon die Schulen geschlossen seien. Dr. Schilling43, der in den Jahren 1915–1916 in der Amanus-Gegend stationierte deutsche Sanitätsarzt, trägt Folgendes vor: «Dr. Schiff und ich fanden die Dörfer des Amanus stark durchseucht, anscheinend durch die von Norden durchziehenden Truppen. Eine Infektionsquelle schien der schmutzige Straßenort Keller zu sein, drei Stunden oberhalb Islahiye, wo an der Straße ein Rinnsal von einem fließenden Brunnen aus verlief und, stark verunreinigt, stets reichlich zum Trinken, Waschen, Spülen gebraucht wurde.»44 Von demselben Brunnen ist wohl in Claras Tagebuch die Rede: «Die ersten Cholerafälle durch armenische Deportierte gestern abend hierher gebracht. Sie winden sich und sterben direkt neben dem Brunnen des Dorfes. Es ist uns beiden zum Davonlaufen» (25. Juni 1916). Und wer – statt der Sigrists – läuft davon? Der türkische Kommandant! Am 26. Juni 1916 notiert Clara entsetzt: «Der Kommandant hat zusammengepackt und ging auf plötzlichen Befehl, oder aus Angst vor der Cholera? Diesen gesammelten Armeniern, die alle choleraverdächtig waren, sagte er, sie sollten gehen, wohin sie wollten. Alles stob auseinander. Eine Frau war nachts schon in das Dorfhaus gegangen, wo sie starb. Fritz sagte einem Türken ruhig, dass solche Häupter des Gesetzes bei uns [in der Schweiz] gehängt würden.»
Zum Glück folgten bald darauf Impfungen und Quarantänen, und die Eheleute Sigrist-Hilty blieben von den vielen Seuchen verschont.
Eine glückliche Ehe
Allen Gewalten zum Trotz waren Clara und Fritz während ihres dreijährigen Aufenthalts in der Türkei ein glückliches Ehepaar. Zwar kommt in Claras Notizen ihr Liebesglück nur gelegentlich zum Ausdruck, doch stillschweigend ist es immer da. Meist wird es in der Blumensprache ausgedrückt, Clara freut sich, wenn Fritz ihr einen blühenden Zweig oder einen Herbststrauß nach Hause bringt, und vermerkt das in ihrem Tagebuch. Aber auch selbst ist sie oft auf Blumensuche, und prachtvolle Sträuße schmücken zu jeder Jahreszeit ihr Haus. Am 2. März 1916 heißt es: «In meinem Stübli duftet eine Blumenfülle. Das türkische Waschbecken in Messing ist ganz gefüllt mit Narzissen.» Man fühlt Claras Zufriedenheit, wenn man in ihrem Eintrag vom 26. April 1916 liest: «Fritz weiß aber doch meine vielen Blümeli auf dem Tisch still zu würdigen.»
Clara legt Wert darauf, dass die christlichen Feste, soweit es geht im fremden Land, gefeiert werden. So vergeht schon im ersten Jahr ihres Aufenthalts in der Türkei die ganze Adventszeit von 1915 mit «Weihnachtsarbeiten». In den Wochen vor Weihnachten «duftet es im Hüsli nach Tannen», auch nach Gewürzen, die für die Weihnachtsguetzli gemörsert werden, und nach gebackenen Hausleckerli. Am 22. Dezember richten sie mit zu zweit handgemachtem Schmuck einen Christbaum, während im Garten eine Weihnachtsgans geschlachtet wird. Zu Weihnachten gibt es dann einen schönen Schmaus und einen fröhliche Austausch von «kleinen Überraschungen» sowie die Lektüre der Weihnachtspost von Zu Hause. Für die Neuvermählten schließt das Jahr 1915 am 31. Dezember mit einem Glas Punsch bei brennendem Tannenast und Weihnachtsbaum und mit dem Eintrag: «So still, glücklich und in Dankbarkeit.»

Herbst 1915. Clara und Fritz in ihrem Haus in Keller.
Clara erlebt das berufliche Leben ihres Mannes intensiv mit, und Fritz hält sie ständig auf dem Laufenden. Sie verbringt oft Stunden bei ihrem Mann im Büro.45 Sie sieht sich meist als Teil der Bahnbelegschaft, ist mit allen befreundet, und wenn sie über die traurigen Bahnangelegenheiten berichtet, schließt sie sich mit «wir» und «unser» ein: «Wir sollen noch 1000 arbeitende Armenier haben», oder: «Nicht einmal Waisenmädchen bekommen wir frei»: oder «Unsere Soldaten begraben die Toten.»
Clara hat Verständnis dafür, dass ihr Mann lange Stunden auf der Strecke verbringt, selbst wenn es ihr nicht ganz recht ist. Sie weiß, dass Fritz innerhalb einer bestimmten Frist die Arbeit seiner Sektion abschließen muss und dass diese «wie ein Schmuckkästchen» aussehen soll (22. Oktober 1916). Am liebsten hat sie es, wenn Fritz in der Nähe arbeitet und sie ihm «mit dem Zeiß46 zugucken» kann. Manchmal reitet sie gegen Abend mit einem der Diener Fritz entgegen, um ihn von der Strecke abzuholen. Sonntags und sonst nach Feierabend reiten sie zu zweit bis zum Baugelände, und Fritz führt Clara über Viadukte, durch neue Einschnitte für die Bahnstrecke und durch Tunnel. Wenn es zu heiß wird – «35 Grad im Zimmer» –, gehen sie in den Tunnel, um sich abzukühlen. Begeistert beteiligt sich Clara an Festlichkeiten des Betriebs aus Anlass eines Tunneldurchschlags oder Geleiselegens. Am schwersten fallen ihr die Dienstreisen von Fritz, wenn er länger fehlt und sie «wieder Strohwitwe» wird. Nachdem sie aber das «kleine Schätzli» bei sich hat, ist es nicht mehr so schwer.
Ab und zu lässt die sonst kühne Clara erkennen, wie sehr sie um ihres Mannes Leben zittert. Am 24. November 1916 schreibt sie: «Ich warte bis 2h auf Fritzens Heimkommen, zuletzt in wirklicher Angst.» Wenn es um «Fritzens Heimkommen» geht, kann Clara sehr ungeduldig werden. Am 1. August 1917 schreibt sie: «Der ganze Tag ein Warten auf Fritz. Abends gehen wir ihm sogar entgegen, er kommt aber nicht; schon ist’s halb sieben und mir fängt’s an mächtig angst zu werden; da tönt sein Pfiff von der Straße her, Gottlob, und der Abend ist schön.»
Clara und Fritz sind beide gastfreundlich, und es fehlt bei ihnen nie an Gästen. Clara verbringt Stunden in der Küche, und sie scheint das Kochen zu genießen, natürlich mit Kohar, der kurdischen Dienerin. Bei den Sigrists ist die Speisetafel immer reichlich gedeckt, und es gibt Platz für viele. Fritz, stets gesellig und kontaktfreudig, bringt häufig Kollegen zum Tafeln mit nach Hause, was er Clara vorher per Kabel mitteilt. Bereitwillig richtet dann Clara das Essen her und ist immer eine liebenswürdige Gastgeberin. Selten zeigt sie ein Zeichen der Unzufriedenheit oder Müdigkeit, auch wenn acht Personen unangemeldet kommen wie am 9. Juli 1917. Dann heißt es lediglich: «Mein Häusli ist übervoll.» Nur ein einziges Mal, am 27. September 1916, ist Clara irgendwie ermattet, und sie klagt. «Viel Küchenarbeit. Kohar wäscht. Nach Tisch setze ich mich gemütlich zu Frau Wittig, um auszuruhen, da lässt mich Fritz rufen und es heißt Nachtessen richten. Oberst Fouad Ziya Bey47 übernachtet hier. Schüli müed.»48 Dieses einzige Mal war also Clara «sehr müde.» Das sah ihr gar nicht ähnlich. Ob es am Gast lag?
Natürlich sehnt sich Clara manchmal auch nach Zweisamkeit, denn «das Abendstündli mit Fritz alleine ist das Schönste». Später, schon mit Sohn Karlfrideli, fühlt man sich zu dritt sogar besser: «Stiller Sonntag ohne Besuche. Alle drei zufrieden und glücklich» (26. August 1917).
In ihrem Tagebuch tritt Clara als eine intelligente und selbstbewusste Frau hervor, die von allen, und vornehmlich von ihrem Mann, respektiert wird. Beide haben Interesse an der schönen Literatur, und das Verzeichnis der während ihres dreijährigen Aufenthalts in der Türkei gelesenen Bücher49, die meist Clara ihrem Mann vorliest, spricht für sich. Auch finden beide Zeit zum regelmäßigen Briefeschreiben. In der Freizeit gehen die Eheleute oft ihren Vorlieben nach. Während Fritz ein leidenschaftlicher Jäger ist, verbringt Clara ihre Freizeit mit Malen und ist darauf bedacht, über dem Malen ihre Pflichten nicht zu vernachlässigen. Und nicht zu vergessen: Jeden Abend führt sie beim Schein einer Petroleumlampe Tagebuch mit Feder und Tinte. Und es ist bewundernswürdig, dass sie während der drei Jahre in der Türkei, und an ereignisreichen Tagen umso mehr, immer Zeit zur Führung ihres Tagebuchs fand.