Kitabı oku: «Der Mantel der Vergangenheit», sayfa 2
»Die suchen das tote Schwein. Es kann sein, dass sie mich verhaften. Die werden mich ins Polizeipräsidium bringen, und wenn es sehr schlecht läuft, muss ich ins Gefängnis. Wenn ich gefragt werde, habe ich ohne deine Zustimmung und Hilfe geschlachtet, merke dir das. Dann können sie dich nur als Zeugin befragen.«
Die Polizisten hielten dem Hund einen mit Schweineblut getränkten Lappen unter die Nase und schickten ihn auf die Suche. Hasso lief los, die Nase nur kurz über der Erde. Die Leine zwischen ihm und dem führenden Polizisten spannte sich, so schnell verfolgte der Hund eine Spur, die ihn in Richtung Schweinestall laufen ließ, dann drehte das Tier abrupt ab und näherte sich zügig dem Misthaufen. Er bohrte die Nase tief in den Mist, verharrte dort, hob den Kopf und bellte. Das war‘s. Einer der beiden Polizisten nahm eine Mistgabel, der andere die Schaufel. Nach wenigen Minuten kamen die Säcke zum Vorschein, die sofort geöffnet wurden.
»War das dein Schwein?« Der Polizist zeigte auf den Fund.
»Ja«, bestätigte Harry leise.
»Dann verabschiede dich von deiner Frau, Molter, wir nehmen dich mit ins Präsidium.«
»Packen Sie ein paar Sachen für Ihren Mann ein zum Wechseln. Wie lange das Verhör dauern und wann er verurteilt wird, weiß man nicht«, forderte einer der Polizisten mit harter Stimme Regina auf, die fassungslos dastand.
Sie rannte ins Haus, wobei ihr die Tränen über die Wangen rannen. Agnes und Martina, die gerade am Frühstückstisch Platz nehmen wollten, rissen die Augen auf.
»Mama, was ist denn mit dir, du weinst ja. Was ist los?«
»Ich kann euch das nicht so schnell erklären, Kinder. Ich muss für den Papa ganz schnell Sachen einpacken. Die Polizei ist da. Bleibt bitte hier, wir gehen gleich raus.« Sie lief zum Schrank, warf schluchzend einige Kleidungsstücke in eine Tasche und betrat zusammen mit den Kindern erneut den Hof. Dort warteten die Polizisten mit Harry vor dem Polizeiauto.
Harry nahm seine weinende Frau in den Arm. »Ich komme bestimmt bald zurück. Sei vorsichtig. Wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich an Günther. Er ist der einzige, der was für euch tun kann, wenn sie mich ins Gefängnis sperren und du belästigt wirst. Ich liebe dich.«
»Ich will mitfahren zum Präsidium. Sie können dich doch nicht einfach wegbringen«, schrie Regina unter Tränen. Die Polizisten zogen sie von Harry fort. In diesem Moment liefen die beiden Mädchen auf Harry zu. Die Polizisten griffen seinen Arm und drängten ihn zum Auto. Harry wehrte sich, blieb stehen. Er wollte nicht ohne Abschied von seinen Kindern ins Auto steigen.
Diese klammerten sich an ihn, tränenüberströmt, schluchzend.
»Papi, Papi, bleib hier, warum nehmen die dich mit? Papi!«.
Harry versuchte, sie zu beruhigen. »Ich komme wieder, ganz bestimmt!«
Die Polizisten ließen ihn los.
Er durfte die Mädchen umarmen und ihnen einen Kuss geben, dann drückten sie ihm den Kopf herunter und schoben ihn ins Auto.
»Ich komme zurück!«, rief er ihnen durch die noch offene Tür zu.
Regina stellte sich zu den weinenden Kindern und nahm sie in die Arme. Das Auto fuhr los. Auf der Rückbank sitzend konnte er durch das kleine Rückfenster seine Familie sehen, Regina und die Mädchen, die am Hoftor standen und deren Gestalten immer kleiner und kleiner wurden bis er sie nicht mehr sehen konnte.
3
Düsseldorf, 20. März 1943 – Gestapo-Leitstelle
Sie brachten Harry Molter zur Gestapo-Leitstelle in die Prinz-Georg-Straße. Ein Beamter führte ihn ins Vernehmungszimmer und zeigte zum Tisch. »Setz dich!«, forderte er Harry barsch auf. Harry folgte ihm und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
Der Raum wirkte schäbig, außer dem Schreibtisch und zwei Stühlen sah er noch einen Aktenschrank und einen Stuhl mit Schreibablage für den Protokollanten, der sich aber nicht im Zimmer aufhielt. Ein verstaubtes Fenster ließ wenig Licht herein. Hitlers Porträt an der Wand erschien ihm riesengroß. Am liebsten hätte Harry sich davon abgewandt gesetzt. Der Gestapo-Beamte, ein schlanker Mann mit kurzen blonden Haaren, etwa in seinem Alter, nahm ihm gegenüber Platz, knallte eine Akte zwischen sie und musterte ihn mit einem Grinsen. Ohne sich mit Namen vorzustellen begann er das Verhör:
»Na, wieder einer, der ein Schwein schlachtet, ohne das anzumelden? Du meintest wohl, wir kommen nicht dahinter, was? Dass ihr Brüder das noch nicht gemerkt habt, wir haben nicht nur zwei Augen, wir haben viele Augen. So einem wie dich, der den hungernden Menschen und vor allem den tapferen Soldaten das Fleisch stiehlt, den Männern, die für das Vaterland kämpfen, sich jeden Tag dem Feind entgegenwerfen, dem sollte man …, aber Hauptsache, deine Familie hat genug zu fressen, was? Gott sei Dank gibt es treue Kameraden, die so was melden. Ja, und da haste gestaunt, dass der Hasso was gerochen hat, nicht wahr? Du hast nämlich die Blutspur des Schweins nicht gut genug vernichtet, warst dir zu sicher. Wenn man den Hals nicht vollkriegt, dann fällt man auf. Unser Führer sieht alles.« Sein stechender Blick fixierte ihn. »Hast du was dazu zu sagen?«
Harrys Herz pochte vor Zorn und Angst. Ich muss vorsichtig sein, nahm er sich vor, wer weiß, was sonst Regina und den Kindern blüht? »Sie sehen nicht älter aus als ich, aber vielleicht haben Sie Hunger noch nie am eigenen Leib erfahren. Für ein Fünftel des Schweins, das man als Bauer selbst behalten kann, bekommt man weniger Lebensmittelkarten. Um eine vierköpfige Familie zu ernähren, reicht das nicht. Die Kinder wachsen und Fleisch …«, der Gestapo-Beamte unterbrach ihn barsch: »Die Kinder der Soldaten wachsen auch. Was du getan hast, ist eine Straftat. Recht ist, was dem Volk nützt. Hat man dir das nie beigebracht?«
»Als Bauer arbeite ich nicht erst seit Kriegsbeginn für die Bevölkerung. Alle profitieren von unserer Arbeit. Ja, ich habe zum ersten Mal ein Schwein illegal geschlachtet, ohne das der Steuerbehörde zuvor zu melden. Warum? Weil wir Bauern weniger Fleischmarken bekommen als andere Bürger. Meine Kinder, die zur Schule gehen und lernen müssen – wie denn, mit Hunger im Bauch und …«
»Halt endlich dein Maul, Molter!« Der Beamte sprang hoch und baute sich vor ihm auf: »Was bildest du dir denn ein? Du bist ein Volksschädling, Bauer hin, Bauer her. Wer sich mit solchen Handlungen wie Schwarzschlachten gegen Gesetze des Reiches stellt, der muss mit den Folgen rechnen. Das gilt auch für deine Familie, ich hoffe du verstehst, was ich meine.«
»Nein, verstehe ich nicht, Herr …?«
Der Gestapo-Beamte reagierte nicht auf Harrys Wunsch, seinen Namen zu erfahren. »Deine Frau, Regina heißt sie doch, nicht wahr?« Er öffnete die Akte, die vor ihm lag. »Kontakte zu Sozis, ah …«, murmelte er und blätterte weiter, »sieht gut aus, deine Frau, die wird bestimmt nicht lange allein schlafen. Es gibt Stimmen in meiner Partei, die meinen, wer dem Führer nicht folgt, so wie du und sie, die muss man doch mal fragen, ob die denn noch Deutsche sind? Das gilt auch für deine Frau. Nur zwei Kinder, das sieht der Führer nicht so gerne. Arische Menschen sollten sich schon bemühen, die wundervollen Ideen des Führers umzusetzen und die arische Rasse zu vermehren. Da hat sie ja auch noch was zu tun.« Mit diesem Satz verzog ein Grinsen sein Gesicht.
»Du weißt, was ich meine, sie hat so schönes Haar und große Augen. Bestimmt blau, oder? Das schreit doch nach einem weiteren Kind für den Führer.«
Harry sprang auf. Ihm war egal, was mit ihm passierte, aber seine Frau und die Kinder … »wehe, wenn Sie meiner Familie etwas antun«, schrie er, um im nächsten Augenblick innezuhalten. »Ich werde dich finden, das schwöre ich!«, fügte er leise hinzu. Er wollte sich beruhigen. Setzte sich wieder.
Der Beamte lachte auf und schlug Harry ins Gesicht. Aus dessen Nase tropfte Blut. Er wischte es mit seinem Jackenärmel ab. Diesem Schwein würde er keine Schwäche zeigen.
»Also, ich gehöre nicht zu denen, die alleinstehende ungehorsame Frauen belästigen«, fuhr der Kommissar fort, »aber für manche Kollegen kann ich nicht garantieren. Ich bin ja nur ein Kriminalkommissar, der die Vernehmungen macht und Gesetze zu achten hat. Wieso ist sie eigentlich nicht ins Arbeitslager gekommen, als man von ihren Kontakten zu den Sozialdemokraten erfahren hat?« Er schaute in die Akte. »Das war 1932. Hast du dir mal überlegt, wer sie damals beschützt haben könnte? Ach, das kann ich selbst herausfinden, wenn ich will. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wichtig für dich müsste sein, wer sie schützen kann, während du im Knast bist? Neulich hat jemand in Kleve, auch ein Volksschädling wie du, ebenfalls ein Bauernfritze, versucht, die Kriegswirtschaftsgesetze zu missachten. Der wandert jetzt für zwei Jahre in den Knast. Wenn du einen Rat willst, dann gib deine Straftat zu, unterschreibe dein Geständnis, und dann gehst du in die Zelle zurück. Deine Frau wird dann nur als Zeugin verhört, obwohl sie ja dabei gewesen sein muss. Wir wollen deine Familie nicht zerstören. Aber wenn du nicht unterschreibst, wird auch deine Frau beschuldigt werden. Morgen kommt der Untersuchungsrichter und wird dir dann zeigen, wie dein Leben weiter geht, mein Freund. Stell dich schon mal auf längere Zeit im Gefängnis ein.«
Er machte eine Pause, beobachtete Harrys Reaktion. Dieser saß nach seinem Gefühlsausbruch zusammengesunken im Stuhl. Das hätte mir nicht passieren dürfen, hämmerten die Gedanken in seinem Kopf. Der Gestapo-Beamte schob ihm ein Protokoll zur Unterschrift über den Tisch. »Hier, unterschreibe das, das ist dein Geständnis. Kannst du das lesen, oder muss ich es dir vorlesen?«
»Was soll die Frage? Natürlich kann ich lesen.«
»Morgen reden wir weiter, jetzt unterschreibe schon.«
Während Harry unterschrieb, fiel ihm auf, dass der Schriftsatz bereits eine andere Unterschrift, die des Kommissars, trug. Die musste schon vor diesem Verhör dort gewesen sein. Der Text schien ein Standardtext für Vergehen wie Schwarzschlachten sein. Es gelang ihm gerade noch, den Namen zu lesen, mit dem der Beamte unterschrieben hatte: Augsburger. Den Namen würde er niemals vergessen, schwor er.
Ein zweiter Polizist kam und legte ihm Handschellen an. Beim Hinausgehen würdigte er den Kommissar keines Blickes mehr. Er wurde in eine Zelle gebracht. Er hämmerte seinen Zorn und seine Machtlosigkeit mit den Fäusten an die Zellenwand, bis seine Handkanten bluteten. Sein Kopf dröhnte und drückte vor Schmerzen, als platze er jeden Augenblick.
Wie weit war es mit ihm gekommen? Vorige Woche hatte er sich noch mit anderen Bauern zum Bierchen getroffen, sie sprachen über die bevorstehende Gemüseernte und den großen Fleischmangel, der allen zu schaffen machte. Natürlich auch über die letzten Bombennächte. Erst recht sparten sie nicht mit Kritik an ihrem Ortsbauernführer Günther Schmitz. »Den Nazis so in den Arsch zu kriechen, den erkennt man ja nicht wieder. Der arbeitet doch nur noch für die Partei, sitzt im Büro und lässt seine Frau, die Marianne, mit Zwangsarbeitern schuften, die von den Nazis auf den Hof gebracht werden. Ich sage euch, das machen die nicht mehr lang, im englischen Radio hieß es, dass mehr und mehr Luftangriffe von den Engländern und den Amis kommen werden und die Wehrmacht im Osten hohe Verluste habe«, flüsterte Otto. Die Einschätzung seines Nachbarn war nur für ihren kleinen Kreis bestimmt.
Der und die beiden anderen hielten all die Zeit zu ihm, verteidigten ihn vor jenen Bauern, die in die Partei eingetreten waren und Harrys Parteilosigkeit störte, so als hätten sie selbst Nachteile dadurch. Fast alle, die Schweine aufzogen, schlachteten mitunter schwarz. Aber nie war vor ihm einer deswegen denunziert worden.
So wanderten seine Gedanken im Kreis, bis sie ihn wieder zu seiner ohnmächtigen Angst um Regina und seine Mädchen führten. Es würde seine Schuld sein, wenn ihnen etwas zustieße. Regina nahm vor einigen Jahren ein paar Mal an Treffen der Sozialdemokraten in Düsseldorf teil. Deshalb legte man wohl damals die Akte über sie an. Er dachte nach. Was könnten die Nazis noch über sie gesammelt haben? Nur die Teilnahme an drei oder vier Versammlungen 1932 machte sie kaum zur Volksverräterin. Die Art, wie der Kommissar über sie gesprochen und das Bild in ihrer Akte mit diesem lüsternen Blick verschlungen hatte, ließ ihn schaudern.
Regina wollte ihn vom Schlachten abbringen, sie stritten sich sogar deswegen, aber er musste sich ja unbedingt durchsetzen. Er kannte doch die Gefahren, die das mit sich bringen würde. Politik interessierte ihn nicht. Ihm wurde übel, und er erbrach Galle in den Toilettentopf. Er hatte den Tag über ja noch nichts gegessen oder getrunken. Er ging zur Tür und klopfte laut dagegen. Das musste er mehrmals machen, es dauerte lange, bis jemand kam und die Klappe öffnete. »Was willst du?«
»Wasser!«
Wortlos verriegelte der Wärter das Fenster. Nach einer gefühlten Ewigkeit sperrte er es wieder auf und reichte ein Glas Wasser hindurch. Ohne ein Wort zu sagen, stieß er die Öffnung abermals zu. Harry trank hastig das Wasser. Es rann kühl seine Kehle hinunter, ohne seinen Durst gänzlich zu löschen. Vor Erschöpfung fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Düsseldorf, 21. März 1943 – Gestapoleitstelle
Schwaches Tageslicht drang durch das vergitterte Fenster, das nur einen kleinen Ausschnitt des wolkenverhangenen Himmels freigab. Die Klappe in der Zellentür wurde geöffnet, und jemand reichte ihm Wasser und zwei Scheiben Brot herein.
»Beeil dich mit Essen, um neun will der Herr Kriminalkommissar Augsburger noch mit dir sprechen. In zehn Minuten hole ich dich ab.« Der Wärter schloss die Luke. Der Name Augsburger trieb Harrys Herzschlag an. Er wusch sein Gesicht und die Hände an dem kleinen Waschbecken in der Zelle und verrichtete seine Notdurft. Er trank nur das Wasser. Ein paar Bisse ins trockene Brot genügten ihm, Hunger spürte er nicht mehr. Kurz danach öffnete sich die Zellentür. Ein Wärter trat mit einem knappen »Guten Morgen« ein. Dann nahm er Harrys Arm und dirigierte ihn aus der Zelle hinaus zum Vernehmungszimmer. Augsburger empfing ihn im selben Zimmer wie tags zuvor.
»Na, wie hat das Frühstück geschmeckt? Brot mit Schweinebauch wäre besser gewesen, nicht wahr, mein Freund?« Hell auflachend klopfte er sich auf die Schenkel. »Die Hochzeitsnacht allein in der Zelle. Ja, ich habe in der Akte gelesen, ihr hattet gestern den elften Hochzeitstag.« Seine Lippen verzogen sich wieder zu jenem Grinsen. »Aber nach so langer Ehe ist es mit der Liebe bestimmt nicht mehr so doll, nicht wahr? Da kann man doch stattdessen eine Nacht in einer unserer hübschen Zellen verbringen, ohne was zu vermissen, ist doch so, oder?«
Er wartete keine Antwort ab, fuhr plötzlich in milderem Ton, fast schon freundlich fort: »Ich möchte dir helfen. Der Günther, dein Freund, oder soll ich sagen, dein ehemaliger Freund, hat mich gestern noch angerufen und gefragt, ob ich nicht was für dich tun könne, du seist doch kein übler Straftäter, der dem Führer habe schaden wollen mit dem Schwarzschlachten. Und so ein guter Bauer, du habest im Dorf nie schlecht über die Politik des Führers gesprochen, auch wenn du kein Parteigenosse bist. Ich habe dem Günther gesagt, sicher könne ich was tun, aber dann hätte ich auch was gut bei dir. Das hat er eingesehen. Wir sind uns schnell einig geworden. Günther wird auf deine Familie aufpassen, damit Regina nichts Unerfreuliches passiert. Du verstehst schon, was ich meine, oder? Ich kann ja nicht täglich auf deinem Hof nach dem Rechten schauen, habe ja genug zu tun. Aber ich mache dir einen Vorschlag: Du meldest dich freiwillig zur Wehrmacht, es werden Soldaten für den Endsieg gebraucht. Dann musst du nicht ins Gefängnis. Hier, ich lese dir mal die Kriegswirtschaftsverordnung vor, gegen die du verstoßen hast. Er legte ein Blatt auf den Tisch und begann zu lesen: »§1 Abs. (1) Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseite schafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden. Da siehst du, wie schwer deine Tat wiegt und was dir dafür blühen kann. Erfahrungsgemäß gibt es Richter bei den Sondergerichten, die das sehr hart bestrafen. Wenn du aber meinem Rat folgst, kommst Du stattdessen für kurze Zeit in eine Ausbildungseinheit der Wehrmacht und wirst dann dahin geschickt, wo du gebraucht wirst. Du wirst sozusagen vom Schädling zum Helden für Volk und Vaterland. Wir nennen das Frontbewährung. Offiziell! Mit hoher Wahrscheinlichkeit gibt es aber hinter der Front genug Arbeit. Hast ja keine soldatische Erfahrung. Und ich sorge dafür, dass du spätestens nach sechs Monaten wieder zurück sein wirst bei deiner Frau und den Mädchen. Dann bist du ein freier Mann, niemand wird von der Strafsache erfahren, in deiner Akte wird kein Eintrag darüber sein. Das ist doch besser, als ins Gefängnis zu gehen, zu den anderen Verbrechern, die dich als Volksschädling behandeln werden. Wer weiß, ob du aus der Ulmer Höh lebend raus kommst? Die Wärter dort …«, er zog die Augenbrauen hoch, »du weißt schon, hast es bestimmt schon gehört, brauch ich dir nicht erklären, spricht sich ja herum.«
Der Kommissar machte eine Pause und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Harry verlor jegliche Farbe aus dem Gesicht. »Günther wird deine Regina schon aus alter Freundschaft beschützen.«
Harry überlegte. Warum wollte dieser Mann ihm etwas ersparen? Was hatte Günther denn überhaupt mit diesem Menschen zu tun? Eine Hand wäscht die andere?
»Du hast jetzt zwei Stunden Zeit, dir das zu überlegen. Höchstens zwei Stunden, nicht länger. Dann lass ich dich holen. Ich lege dir ein Blatt hierhin, und wenn du dich entschieden hast für die Wehrmacht, dann stelle den Aufnahmeantrag. Da muss drinstehen, dass du dich freiwillig meldest. Dann können wir uns das andere Verfahren ganz ersparen. Und unser Richter, der für dich zuständig ist, freut sich über jeden neuen Soldaten. Ich hoffe, du hast mich verstanden!«
»Kann ich darüber mit meiner Frau sprechen?«
»Nein, kannst du nicht. Du musst schon selbst entscheiden.« Damit wandte Augsburger sich um und verließ grußlos den Raum.
In Harrys Kopf drehte sich alles. Klar denken fiel ihm schwer. Könnte er sich doch nur mit Regina beraten. Zwei Stunden Zeit, um solch eine schwer wiegende Entscheidung zu fällen! Bisher entschieden sie sämtliche wichtigen Dinge zusammen. Sie waren nicht immer einer Meinung, konnten aber jedes Mal Kompromisse finden, wenn das notwendig gewesen war.
4
Düsseldorf-Bilk, März 1951
Das ehemalige Wohnhaus in der Neckarstraße 11 war nur noch eine Ruine. Die Seitenwände und die vordere Hausfassade hatten den Bombenangriff überstanden. Die Rückseite war bis auf die erste Etage zerstört, das Dach weggerissen bis auf verbrannte Reste. Die frühere Eingangstür ließ sich nicht mehr schließen. Durch den Spalt drückten sich Kinder in den Innenhof und liefen von dort aus über acht Stufen hinab in die Kellerräume. Im Hof oder gar in den Kellerräumen zu spielen, verboten die Eltern natürlich. Es sei zu gefährlich. Aber sie konnten es nicht verhindern. Die Kinder und Jugendlichen kannten viele Wege, in das Trümmerhaus zu gelangen, ohne erwischt zu werden.
So auch die besten, gleichaltrigen Freundinnen Rosa und Esther. Beide besuchten sie die Katholische Volksschule und teilten die gleichen Leidenschaften: Fußball, Völkerball und sonstige Spiele, die man zusammen mit anderen Kindern draußen spielen konnte. Beide vertrauten einander, tauschten Geheimnisse aus. Die Zahl der Familien, die im Hafenviertel wohnten, nahm nach Kriegsende stetig zu. Daher konnten Rosa und Esther sicher sein, neue Spielgefährten auf der Straße und im Trümmerhaus anzutreffen.
Die älteren Jungen trugen gammelige Matratzen in die Keller und machten es sich darauf gemütlich. Hier rauchten sie gesammelte Tabakreste und Stumpen. Man lungerte einfach nur herum. Die Themen, über die sie sich unterhielten, wechselten meist vom allgemeinen Fußball zu speziellen Ansichten über den besten deutschen Torwart Toni Turek bei der Fortuna Düsseldorf und endeten mit Bemerkungen zu den Mädchen aus der Clique. Über ein anderes Thema, die Heimkehr ihrer Väter aus dem Krieg, sprachen sie kaum miteinander. Da verarbeitete jedes Kind, jeder Jugendliche seine eigenen Erfahrungen, gute wie schlechte. Man wollte sich nicht schämen, wenn häufiger Streit das Familienleben nach der Heimkehr des Vaters prägte.
»Gut, dass du da bist«, begrüßte Rosa ihre Freundin, die vor dem Trümmerhaus schon auf sie wartete. Sie umarmten sich. Eine beste Freundin zu haben, fand sie wunderbar.
»Was sollen wir denn jetzt machen? Wozu hast du Lust? Sollen wir mal gucken, wo die Jungs sind? Vielleicht können wir mit denen Fußball spielen«, fragte Esther. »Nein, lass uns lieber zur Brache gehen und uns dort auf die Steine setzen. Ich muss dir was ganz Unheimliches erzählen.« Rosa fasste ihre Freundin an der Hand, bevor sie antworten konnte, und zog sie mit sich in den Trümmerhof. Niemand außer ihnen war dort. Sie gingen in Richtung Brache.
»Jetzt sag schon, was ist denn passiert?« Esther war gespannt auf eine neue Geschichte. Sie kamen an der Brache an. Auch keiner zu sehen. Sonst spielten um diese Uhrzeit meist Kinder hier. Aber es fiel ein leichter Nieselregen. Sie setzten sich auf einen Steinbrocken, der am Boden lag.
»Esther, ich muss dir was sagen. Was ganz Wichtiges, du musst mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst.«
Esthers Augen wurden groß. »Was denn, ein Geheimnis?«
Rosa erzählte ihr von der Gestalt auf dem Speicher. Esther war beeindruckt. Ihr gruselte allein beim Gedanken daran, so etwas erleben zu müssen. Sie glaubte Rosa sofort. »Hast du die Gestalt denn danach noch einmal gesehen?«
»Nee, ich bin ja nur heute Mittag nochmal auf den Speicher gestiegen, dort war niemand. Aber ich weiß nicht, ob ich so jemandem noch einmal begegnen will. Das war so aufregend, und ich weiß ja nicht, was die oder der auf dem Speicher wollte.«
»Hast du jetzt noch mehr Angst, da hoch zu gehen?«
»Nur ein bisschen. Heute Mittag bin ich ganz langsam die Treppe hoch gegangen. Meine Mutter glaubt mir immer noch nicht.«
»Das mit dem Pinkelpott finde ich lustig«, kicherte Esther, »und stell dir mal vor, wie die blöde König im Nachthemd auf dem Podest ausrutscht und in die Pipipfütze fällt …« Beide Mädchen prusteten los.
»Sagst du mir, wenn du die Gestalt noch einmal siehst? Ich will die dann auch sehen.«
»Aber ob die noch mal zu uns auf den Speicher kommt, weiß ich ja nicht. Wenn die mir noch mal begegnet, dann müssen wir herausfinden, wer das ist. Ich habe ja gehört, dass sie geatmet hat. Das kann ja kein Geist gewesen sein.«
»Wenn das ein Mensch gewesen ist, war das bestimmt ein Mann.«
Rosa nickte. »Kann sein. Wenn der nicht auf dem Speicher schläft, wo könnte der denn dann schlafen?«
»Vielleicht in Hauseingängen oder in Kirchen? Rita hat mal erzählt, dass im Trümmerhaus in der Erftstraße jemand gesehen worden ist, der dort eine Zeit lang übernachtet hat.«
»Aber der Eingang ist ja jetzt zugenagelt worden. Wir müssen halt aufpassen und uns umhören. Und wir sollten die älteren Jungs fragen, ob die schon mal in Neckar 11 einen gesehen haben, der da geschlafen hat. Ich muss dich aber noch was fragen: Hast du schon mal den alten Mann gesehen, der so oft hier herumschleicht, als ob der was sucht?«
»Ja«, erinnerte sich Esther, »ab und zu habe ich den schon gesehen. Der hat eine komische Frisur, so gelbes Haar mit einem Zopf hinten.« Beide lachten, auch Rosa konnte sich an diesen Zopf erinnern.
»Ja, das ist er, den meine ich. Der sieht von hinten aus wie eine Frau.«
»Mein Papa hat den auch gesehen, als wir vorige Woche durch die Gilbachstraße gingen und hat den Kopf geschüttelt«, antwortete Esther. »Der ist bestimmt vom anderen Ufer, den haben sie auch vergessen zu vergasen«, sagte er.
»Was meinte er denn mit vergasen?«, wollte Rosa wissen. »Weißt du, was das ist … vergasen?«
»Nee, weiß ich auch nicht, irgendwas mit Gas jedenfalls«, sagte Esther. »Ich habe das auch schon mal gehört, als ein Nachbar so was zu meinem Vater gesagt hat, als die über den polnischen Mann gesprochen haben, der über uns wohnt und kaum deutsch spricht. Frag doch deinen Vater mal, was damit gemeint ist. Weißt du denn, wo der Mann wohnt?«
»Weiß ich nicht, warum willst du das denn wissen?« fragte Esther.
»Wir könnten herausfinden, wo der wohnt. Vielleicht hat der ganz in der Nähe eine Wohnung, in der Gilbachstraße vielleicht? Sollen wir ihn jetzt immer den Gelben nennen?« Rosa sah Esther an. Die nickte.
»Der ist mir schon mal im Trümmerhof entgegen gekommen und meinte, ich solle abhauen, ich hätte da nix zu suchen. Und der guckte mich mit so zusammengekniffenen Augen an. Hast du mal diese Augen gesehen? Da kriegt man Angst. Ich glaube, die sind auch ganz gelb. Machst du mit, den genau zu beobachten? Alleine traue ich mich nicht. Stell dir vor, der sieht mich im Keller und schlägt mich dann vielleicht oder bringt mich sogar um.«
»Meinst du, das würde der machen? Das ist ja spannend.« Esther strahlte. Nach einem langweiligen Wochenende nun so etwas Aufregendes. Am liebsten wollte sie sofort aufstehen, den ›Gelben‹ suchen und beobachten, die Polizei rufen … »Ja, ich mache mit!« Das klang begeistert. »Aber was ist, wenn der eine Pistole hat? Mein Vater besitzt ein Schweizer Messer, soll ich das mitbringen?«
»Ja toll«, Rosa klatschte in die Hände, »hat der auch eine Taschenlampe?«
»Ja, hat er.«
»Bringst du die beim nächsten Mal mit? Dann haben wir zwei Lampen.«
Esther nickte, und Rosa entwickelte einen Plan:
»Dann müssen wir jetzt nur überlegen, wie wir ihn beobachten. Der darf uns ja nicht sehen. Wir sollten uns auf die Lauer legen, irgendwo im Gebüsch da vorne«, Rosa zeigte auf den Ausgang zur Gilbachstraße. »Und wir könnten auch in den zweiten Kellerraum gehen und suchen, was da noch sein könnte. Ich habe neulich, als ich im hinteren Raum stöberte, zwei silberne Esslöffel gefunden, mit eingeritzten Buchstaben im Löffelstil: Ein L und ein A. Vielleicht entdecken wir ja noch mehr Wertvolles. Rosa gefiel die Vorstellung, dort unter den Trümmern Reichtümer zu finden, die niemandem gehörten.
Mittlerweile regnete es leicht. Das machte das Sitzen ungemütlich. Sie standen auf und gingen in Richtung Gilbachstraße. Dabei erzählte Rosa ihrer Freundin andere Neuigkeiten der letzten Tage.
»Hast du von Winnie gehört? Der ist vom Eisenbalken in der Ruine Erftstraße gefallen. Meine Mutter hat sich sehr aufgeregt und geweint, als sie davon erfuhr. Sie kennt die Mutter vom Winnie gut.«
»Warst du dabei, als das passiert ist?«
»Nee … ich habe da gerade das Baby von Jasines verwahrt, die im Keller von Neckar 23 wohnt, die kennst du doch«, antwortete Rosa. »Aber die Jungs, die dabei gewesen sind, erzählten mir, wie die Mutter von Winfried geschrien hat, als man sie zur Unglücksstelle brachte und sie ihren Winnie da so liegen sah. Der sei ganz bleich gewesen und hätte im Blut gelegen«, fuhr Rosa fort. »Sie stürzte sich auf ihn, wollte ihn an sich ziehen und sein Gesicht streicheln, hat der Rudi erzählt, aber der Arzt und die Feuerwehrleute haben sie weggerissen und zum Rettungswagen gebracht. Da hat sie weiter geschrien. Dann gab der Arzt ihr eine Spritze. Sie wurde ins Martinus-Krankenhaus gebracht. Jetzt ist der Eingang zum Trümmerhaus mit Brettern zugenagelt. Schade. Bleibt nur noch unsere Neckar 11.«
»Und Winnie?«
»Der ist tot.«
»Wirklich? Warum ist der denn auf den Balken gestiegen?«, fragte Esther.
»War eine Mutprobe, machen die doch oft, die großen Jungs. Lass uns jetzt aber nicht mehr darüber sprechen«, bat Rosa. »Treffen wir uns morgen nach der Schule im Keller?«
Sie waren fast am Ende der Brache angekommen. »Du … es ist ja noch hell, lass uns doch jetzt mal schnell in den zweiten Keller gehen und suchen«, schlug Esther vor.
Rosa nickte ihr zu. Sie drehten um und liefen zum Rand der Ruine. Es war leicht, über die Steinhaufen zum schmalen Durchgang zu gelangen, der auf den Innenhof führte. Schnell erreichten sie ihn und stiegen hinunter in den hinteren Kellerraum.
»Guck mal, hier lagen die Silberlöffel herum. Vielleicht finden wir noch etwas.« Rosa zeigte in den Raum auf den Fundort der Löffel. Für solche Suchaktionen trug Rosa meistens die kleine Taschenlampe in der Rocktasche. So auch heute. Beide suchten im Lichtkegel der Lampe den Raum ab. Im hinteren Drittel lagen größere Steinbrocken aufeinander, dazwischen alte Decken, zerrissene uralte Kleidungsstücke, vom Staub bedeckt, manche von Ratten angenagt. Auch jetzt hörte sich ein Geräusch so an, als versuche eine Maus oder Ratte das Weite zu suchen.
Als Rosa sich bückte, sah sie wieder ein kleines rundes silbrig scheinendes Ding auf der Erde liegen. Sie hob es auf und staunte … es war ein Knopf, wie der, den sie auf ihrem Weg zum Speicher gefunden hatte. »Esther«, rief sie aufgeregt, »guck mal, was ich gefunden habe.«
Esther kam aus der anderen Ecke und betrachtete den Knopf. Sie drehte ihn um. »Hier ist was eingeritzt. M O T Z, was bedeutet das wohl?«
Das Geräusch näher kommender Schritte aus dem vorderen Keller ließ sie innehalten.
Rosa und Esther drehten sich um. Eine Person blieb im Durchgang zum hinteren Kellerraum stehen, schaute sie an. Rosa leuchtete mit der Taschenlampe in seine Richtung und erkannte den alten Mann, den ›Gelben‹. Als er die Kinder erblickte, wandte er sich kurz um und ging dann zurück durch den ersten Keller in Richtung Treppenaufgang. Esther lief hinterher und prallte gegen ihn, als der Mann plötzlich stehenblieb. Nun ging alles ganz schnell: Der Gelbe versetzte Esther einen leichten Schubs, sie fiel hin. Er rannte weg, die Treppen hoch und hinaus auf den Hof. Dort stolperte er und wäre fast gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen und lief weiter über die Steine zur Brache. Esthers Herz pochte. Sie rappelte sich auf und folgte ihm in den Hof, als sie plötzlich ein rotes Büchlein auf dem Boden liegen sah. Ihre Wangen glühten.