Kitabı oku: «Der Mantel der Vergangenheit», sayfa 3
»Guck mal, der hat was verloren.« Esther hob es auf. Das kleine Buch mit rotem Buchdeckel musste dem Mann beim Stolpern aus der Manteltasche gerutscht sein.
»Mach mal auf!« Rosa, die ihr gefolgt war, hüpfte von einem Bein aufs andere, gespannt wie noch nie.
Esther öffnete das Buch. Es bestand nur aus fünf Seiten, alle weiteren hatte jemand herausgerissen. Der Einband trug einen Adler auf der Vorderseite. Sie blätterten die zweite Seite auf.
»NATIONALISTISCHE ARBEITERPARTEI DEUTSCHLAND«, las Esther vor.
»Mitglied: Richard Augsburger, Wohnhaft: Neckarstraße 11, Düsseldorf«, las sie weiter. Ihr verschlug es fast die Sprache.
»Boah … guck mal, das ist ja die Adresse von hier, vom Trümmerhaus.«
Sie blickten sich erstaunt an.
»Komm schnell, das müssen wir den anderen zeigen«, rief Rosa aufgeregt. »Vielleicht sind Rita und Walter ja auf der Straße.«
Sie klappten das Buch zu und verließen den Hof durch den Ausgang zur Neckarstraße.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lungerte eine Gruppe älterer Nachbarskinder vor einem der Hauseingänge herum. Zu ihnen gehörte die vierzehnjährige Rita, Esthers Schwester. Sie hatte schon einen heimlichen Freund, Walter, mit dem sie oft eng umschlungen im Hafen spazieren ging. Alle wussten das. Er war sechzehn und stand auch dabei, zusammen mit seinem Freund Stefan.
Diese Größeren besaßen die Arroganz der Pubertät von Leuten, die, wie sie sagten, schon allerhand mitgemacht hätten. In gewisser Weise war das richtig, denn der Krieg und die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch hatten ihnen die Kindheit gestohlen und sie mit dem brutalen Zwang zum Überleben viel zu rasch älter werden lassen. Sie rauchten, tranken Bier, konnten alles irgendwie besorgen, wollten ein paar Mark verdienen und taten so, als kannten sie das Leben in- und auswendig und als könne sie nichts mehr zum Staunen bringen. Das Wichtigste für sie war Fußball, die Fortuna, Toni Turek und das Stadion. Auch wenn sich Rosa und Esther bei den Großen wohlfühlten, bekamen sie oft, vor allem von Stefan und Walter, zu spüren, dass sie nicht ernst genommen wurden. Dann lachten die beiden Jungs über die Kleinen und den Kinderkram in ihren Geschichten. Doch heute glaubten Rosa und Esther, sie mit ihrem Fund beeindrucken zu können.
»Sollen wir euch mal zeigen, was wir gerade im Hof vom Trümmerkeller gefunden haben?« Rosa zog stolz das rote Büchlein und den Knopf aus ihrer Jackentasche.
»Auweia, das ist doch ein Parteibuch der Nazis«, rief Stefan aus, »mein Vater hat auch so eins. Im Schrank versteckt! Die darf man heute nicht mehr zeigen, hat er gesagt. Aber in ein paar Jahren könne man die für viel Geld verkaufen.«
Rita war neugierig geworden. »Lass mal gucken, das habe ich noch nie gesehen.«
Stefan gab ihr das Buch. Sie blätterte darin herum. Es war Mitgliedsbuch und Personalausweis in einem. Wieso lag ein rotes Parteibuch im Trümmerhof? Vor einigen Tagen war sie mit Stefan und Walter noch dort gewesen, aber da hatte kein Buch gelegen, der leuchtend rote Einband mit Adler und Hakenkreuz wäre ihnen aufgefallen.
»Mensch, das ist ja wahnsinnig. Das gehörte einem Herrn Richard Augsburger. Guckt mal, ein Foto von dem ist da drin, mit Hakenkreuz an der Jacke. Der sieht jung aus. Das Buch ist von 1932.«
»Wir haben noch etwas gefunden, den Knopf hier. Da steht auch was drauf: M O T Z.«
Rosa legte den Knopf in ihre Handfläche, so dass die anderen ihn sehen konnten.
»Das ist doch ein Knopf von einem Soldatenmantel«, erklärte Walter. Er kannte solche Knöpfe vom alten Mantel seines Vaters. »Verkauft ihr mir das Parteibuch? Ich sammle so was.«
Rosa schüttelte den Kopf. »Das Buch brauchen wir noch. Das ist nämlich wichtig. Der Mann auf dem Foto sieht so ähnlich aus wie der Gelbe, der ist nur älter als der auf dem Foto und hat einen gelben Pferdeschwanz.«
»Hä? Der Gelbe? Wer ist das denn? Erzählt mal.«
Rita war gespannt. Was hatten denn die beiden Kleinen mit einem Mann mit langen gelben Haaren zu tun? Sie wusste, dass Rosa und Esther manches Mal fantastische Geschichten erzählten über fremde Leute, die ihnen verdächtig vorkamen. Dann beobachteten sie die Person und sammelten sogenannte Beweise dafür, dass ein Verbrechen, wie sie es nannten, im Gange war. Die Geschichten wirkten oft übertrieben. Dumme Kindergeschichten, also kaum zu glauben. Aber das rote Buch lag in ihrer Hand, und das bewies, dass es diesmal keine Fantasien der beiden waren.
Stefan sah sich das Buch noch einmal an. »Rosa, was macht denn der sogenannte Gelbe im Trümmerkeller?«
Rosa zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Der sucht was. Ich habe da auch schon Silberlöffel gefunden«, erklärte sie.
Walter griff nun zu dem Büchlein. »Und wo habt ihr den Gelben sonst noch gesehen?«
»Im Trümmerhof, aber der Mann geht immer zur Gilbachstraße raus, klettert hinten vom Hof über die Steine, die da herumliegen und läuft raus auf die große Wiese hinter dem Gestrüpp.«
»Wenn euer Gelber wirklich ein Nazi gewesen ist und hier wohnte und nun zur Gilbach hinaus schleicht, dann könntet ihr doch mal herausfinden, ob der jetzt dort in der Gegend wohnt. Ihr müsst aber vorsichtig sein. Kapiert? Der kann gefährlich sein. Wer weiß, was der sucht?«
Stefan hatte schon einiges über die Nationalsozialisten gehört und gelesen. Manchmal erzählte sogar sein Vater davon, jedoch nicht gern. Es hieß immer nur, die Nazis seien scharfe Hunde gewesen und hätten mit jedem, der den Mund aufmachte, kurzen Prozess gemacht. Oder es hieß, das war die schlimme Zeit. Allerdings lebte sein Vater doch auch in dieser Zeit. Er spürte, dass niemand etwas Genaues sagen wollte. Daraus schloss er, ohne es wirklich zu verstehen, dass von einem Typen wie dem Mann mit den gelben Haaren eine Gefahr ausgehen musste.
Er redete weiter zu den Mädchen: »Ein Nazi, der sich im Keller seines ehemaligen Wohnhauses herumtreibt, könnte etwas suchen, was er in der Kriegszeit dort versteckte. Vielleicht auch Waffen. Dieser Keller ist ja als Unterkunft sogar noch fast bewohnbar, wenn man sonst kein Dach über dem Kopf hat, so wie einige andere im Viertel auch. Also Vorsicht, verstanden, ihr Dötze?«
»Ja, ja … wir sind ja keine kleinen Kinder mehr, schon gar keine Dötze«, fauchte Rosa zurück. »Krieg dich wieder ein, ich habe es ja nicht böse gemeint«, entschuldigte sich Stefan.
»Wenn der Gelbe uns was tun will, rufen wir euch. Wir sind vorsichtig, versprochen. Aber nichts den Eltern sagen! Wir müssen jetzt auch gehen. Tschühüüs!«
Rosa nahm das rote Buch und den Knopf, und die Mädchen gingen die Straße hinunter, setzten sich auf die hohe Bordsteinkante, die den Fahrweg säumte. Das war der Treffpunkt für die jüngeren Mädchen der Nachbarschaft. Sie packten ihre Glanzbilder aus und saßen nicht lange dort, als auch Brunhilde und ihre Kusine sich mit ihren Bildern dazu gesellten. Das Tauschgeschäft konnte beginnen.
Rita und die beiden Jungen standen noch eine Weile zusammen und sprachen über die Kinder und ihren Fund.
»Lasst uns mal ein Auge auf die beiden haben. Wer weiß, was das für ein Typ ist, dieser Gelbe«, schlug Rita vor. Unsere Eltern müssten auch Bescheid wissen. Was meint ihr?«
Die beiden Jungs stimmten ihr zu. Wirst du es deinen Eltern sagen?«
»Ja, aber erst werde ich heute Abend mit Esther noch mal darüber sprechen«, entgegnete Rita. Ich muss gleich zum Turnen. Also, macht’s gut. Treffen wir uns Samstag im Trümmerkeller um drei? Ich bringe was zu Trinken mit.«
»Auch was für Männer oder mehr so ein Mädchengebräu?« Walter sah Stefan an, und beide lachten.
»Lasst euch überraschen, ihr harten Kerle«, frotzelte Rita. Walter allerdings warf sie eine Kusshand zu.
5
Düsseldorf, April 1951
Er torkelte durch Bilk. Trübe Gedanken verführten zum Trinken, wie so oft schon. Für billigen Fusel reichte sein Geld gerade noch, die paar Kröten, die er durch Hilfstätigkeiten im Obdachlosenasyl verdiente.
Am Erftplatz traf er vier Kumpane. Einige Stunden standen sie zusammen und tranken.
»Was ist eigentlich mit deiner Hand passiert, Horst? Krieg oder was?«, fragte er den Mann neben sich, den er bereits von solchen Trinkgelagen kannte.
»Natürlich Krieg, wovon sonst?«, antwortete dieser und blickte auf den Stumpf, an dem ehemals seine linke Hand gewesen war.
»Amerikanischer Granatsplitter. Aber die Nationalität der Waffen ist ja scheißegal, das Resultat immer das Gleiche.«
Mit seinen dreißig Jahren der jüngste auf dem Platz, fand er als einhändiger Dachdecker keine Arbeit mehr. Jetzt bekam er nur eine niedrige Rente als Kriegsversehrter. Gott sei Dank arbeitete sein Bruder als Maurer, und der steckte ihm regelmäßig etwas Geld zu. Mit diesen kleinen aber wiederkehrenden monatlichen Almosen war er reich im Vergleich zu den drei anderen. Sie lebten ebenfalls ohne festen Wohnsitz, ohne Familie.
Daraus ergaben sich auch die Themen, über die sie sprachen. Essen, Schlafen, Sicherheit. Das, was für sie am Nächsten lag. Selbst im Obdachlosenasyl gab es keine Gewähr vor Kleiderklau. Manchmal konnte die Decke, die man am Morgen zurückließ, um sie nicht durch die Stadt schleppen zu müssen, nicht mehr aufgefunden werden. Es ging nur ums Überleben. Über Politik schwiegen sie. Das konnte leicht zu Streit und Gewalt führen. Einen weiteren Tag zu überstehen, das war wichtig. Dafür brauchte man seine Energie.
Der Schnaps, den sie sich herumreichten, war bald ausgetrunken, und der Mann fühlte sich nur noch müde. Er verabschiedete sich von seinen Zechgenossen. Er benötigte eine Schlafmöglichkeit nicht weit von hier, weil das Laufen sehr beschwerlich war. Mit dem schmerzenden Fuß konnte er nicht bis zur Unterkunft in der Stadtmitte gehen. Tags zuvor trat er in der Altstadt in einen rostigen Nagel, die dünn gelaufenen Sohlen seiner Schuhe boten keinerlei Schutz. Der Nagel bohrte sich in den Ballen, drang tief ein, und die Wunde entzündete sich sofort. Er sah sich um, kannte sich in diesem Bezirk ja aus. Früher, vor dem Krieg, fuhr er oft von Hamm durch das Hafenviertel mit dem Rad zur Altstadt. Im Trümmerhaus Neckarstraße 11 konnte er in den letzten Monaten auch schon mehrmals übernachten. Die alten Matratzen und Lumpen im zweiten Kellerraum würden bestimmt noch dort sein.
Er humpelte zum Eingang und trat in den Trümmerhof. Ein strenger Geruch wehte ihm entgegen. Als er über die Stufen hinab in den Keller gestiegen und die nach Urin stinkende Matratze vor sich liegen sah, wurde ihm trotz der Wirkung des Alkohols bewusst, wie tief er mittlerweile gesunken war.
Jeden Tag lief er wie ein Gespenst durch die Stadt. Mit verschlossenen, gesenkten Augen ging er oft wie gehetzt. Ziellos, freudlos, ohne Freunde und Familie, die ihm hätten helfen können. Mut fassen, Hoffnung schöpfen. Um sich aus dieser Lage befreien zu können. Er stank, trug den alten Soldatenmantel auf links gedreht. Der Blick zurück verstellte den Blick nach vorn. Das wusste er. Aber nur die Gedanken an die Familie, an die Arbeit, die Felder, die er einst liebte, nur an das ‘Damals‘ gab ihm noch einen Halt. Die Gegenwart bot ihm nichts, sie zeigte sich fremd und bedrohlich. Deshalb floh er in die Erinnerungen, ganz in sich zurückgezogen. Wie ein Mensch, dessen Leben seit langem mit tiefer Schuld verbunden ist. Und mit der Angst vor erneuter Strafe, wie damals wegen des geschlachteten Schweins. Durch die Ereignisse der letzten acht Jahre fühlte er Sicherheit und Heimat nur im Rückblick auf das Verlorene.
Tagsüber sah er nicht die Fortschritte bei der Trümmerbeseitigung, die funktionierende und drängende Geschäftigkeit in den Straßen. Einige Brücken wurden erneut aufgebaut. In den Gesichtern der Menschen sah man wieder Zukunft. Man hörte das Lachen und die Gespräche, die sich um die kleinen Dinge des Lebens drehten.
In dieser neuen Welt verschoben sich seine Koordinaten. Er kehrte in eine Gesellschaft zurück, die nichts mehr wissen wollte von Krieg, von Hitler oder vom Endsieg. Wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Das große Schweigen dämpfte sämtliche Geräusche. Und die sogenannten Helden verloren ihre Strahlkraft. Sein Äußeres verkörperte sein Inneres. Das alles verhinderte den Kontakt zu anderen Menschen, verhinderte, den Faden zu finden, der sein Wegweiser hätte sein können. Er gehörte nicht mehr dazu. Wollte er es denn überhaupt? Nicht einmal das konnte er beantworten. Niemand stellte ihm Fragen.
Natürlich könnte er zu einigen Dingen etwas sagen, traute sich aber nicht mehr für seine Meinung einzustehen. Manchmal verspürte er riesige Wut, die er sich selber nicht erklären konnte. Häufig siegte allerdings die Angst, und er fühlte sich schuldig, nur noch schuldig. Er fürchtete jede Ansprache, sah Strafe auf sich zukommen. Wofür, das wusste er, verstand es aber dennoch nicht. Deshalb wollte er lieber in seinem inneren Gefängnis bleiben, statt nochmals von Polizisten, Ärzten, Beamten eingesperrt zu werden. Manchmal wollte er aufhören zu leben, konnte aber keinen Mut für diesen Schritt finden. Dann betrank er sich. Schlief und aß zu wenig, scheute die Menschen. Bis sich sein Körper meldete … das Jucken der Haut in ungewaschener Kleidung. Hunger, Durst, irgendetwas, das ihn weckte und aus seiner Lethargie riss.
Wünsche und Sehnsüchte stiegen in sein Bewusstsein und forderten ihn auf, sich zu bewegen. Das Aufraffen und der nicht enden wollende innere Zwiespalt kosteten so viel Kraft. Wer würde das ändern können? Blieb er nüchtern, verengte sich sein selbstgeschaffener Fluchtraum, die Tagträume verloren ihre Farbe, und sein Kopf rief ihn zur Ordnung und Verantwortung. Er musste etwas zu Ende bringen und etwas wiederfinden. Seine Familie und sich selbst. Und es drängte die ebenso reale wie ungewisse Freiheit.
Vorgestern, das Mädchen auf dem Speicher, das ihn mit weit aufgerissenen Augen angestarrt und zuerst geschrien hatte vor Angst, als sei es dem Tod begegnet, das reagierte doch ganz natürlich und logisch auf ihn. Andere Menschen, die ihm täglich über den Weg liefen, schwiegen, gingen an ihm vorüber, meideten den direkten Kontakt mit ihm. Vielleicht würden die auch am liebsten Schreien vor Angst und Zorn über diesen Menschen, der so aussah wie das personifizierte Kriegsende.
Während ihn diese Gedanken quälten, suchte er im Halbdunkel nach der Liegekuhle für seinen geschundenen Körper. Den Mantel zog er aus, um sich damit zuzudecken. Alkohol und Dunkelheit machten seine Hände fahrig. Er bemerkte nicht den Knopf, der sich beim Versuch, den Mantel zu öffnen, löste und auf die Erde fiel. Er ließ sich auf die Matratze fallen. Innerhalb einer Minute schlief er ein.
Am nächsten Morgen spürte er noch stärkere Schmerzen in seinem Fuß als am Vorabend. Er entdeckte den tiefen Schnitt im Ballen. Die Umgebung der Wunde sah rot und geschwollen aus. Er versuchte aufzustehen und zu laufen, aber der Schmerz jagte durch seinen Fuß bis in die Wade. Dass er nichts zu essen besaß, bereitete ihm keine Sorgen. Im Krieg war das Alltag gewesen. Nur den Durst nahm er wahr. Er beschloss, liegen zu bleiben. Irgendwann würde der Schmerz nachlassen. Dann könnte er zum Obdachlosenasyl gehen.
6
Düsseldorf, 21. März 1943, Vormittag
Regina Molter traf zur Zeugenbefragung in der Gestapo-Leitstelle ein. Der Kommissar war auf das Gespräch vorbereitet. Sie musste beteiligt gewesen sein an der Schlachtung, davon ging er aus. Nachdem er vor einem Tag auf ihre Akte stieß und das Foto von ihr sah, glaubte er sich zu erinnern, dieser Frau mit der auffallend roten Lockenfrisur schon einmal begegnet zu sein. Dann fiel es ihm ein.
Es war 1937 auf einem Sommerfest im Hofgarten in Düsseldorf gewesen, den die Abteilung »Der Mensch«, eine Sektion der landwirtschaftlichen Berufsorganisation ›Reichsnährstand‹, hatte durchführen lassen. An solchen Festveranstaltungen erwartete man, dass die Bauern der Kreis- und Ortsbauernschaften mit ihren Familien und Landarbeitern teilnahmen. Günther Schmitz als Ortsbauernführer hatte ihn damals dazu als Hauptredner eingeladen. Er sollte über die erfolgreiche Erziehung der Kinder in der Hitlerjugend und im Bund Deutscher Mädchen sprechen, hinsichtlich der Aufgaben, die daraus den Familien erwuchsen, theoretisch wie praktisch.
Mit flammenden Worten schilderte er die Disziplin und Begeisterung, die schon bei den Pimpfen und noch stärker und bewusster bei den großen Jungs entwickelt wurden. Er nahm an vielen Gruppenabenden, in den Ferienlagern, beim Singen an den Feuern teil. Die Uniformen, die Fahnen, die Treueschwüre gegenüber Führer, Volk und Vaterland, all das fühlte er warm und klar in seinem Herzen, und die Worte flossen leicht.
Die Partei brachte den Kindern schon jene Eigenschaften bei, die sie brauchten, um später gute Volksgenossen, Handwerker, Bauern und Soldaten zu werden. Die Eltern könnten sicher sein, dass Gehorsam und Treue sich auch zuhause zeigen würden, betonte er, denn sind nicht Familie, Volk und Führer eine unzerstörbare Einheit geworden!?
Mit Strenge behandelte er das Thema Reinhaltung des Blutes und referierte über die Konsequenzen bei Überschreitung der Rassengrenzen. In diesem Sinne thematisierte er die Erbgesundheit. Für manche Bürger vielleicht ein schwieriges Thema, mit dem er sich auch schon persönlich hatte auseinandersetzen müssen. Für ihn bedeutete die Euthanasie einfach den Weg, den ein Volk gehen müsse, um gesund und leistungsstark zu bleiben. Hier ereiferte er sich, wie jedes Mal, wenn das Thema zur Sprache kam.
Er brauchte diesen Eifer, um sich selbst anzuspornen, denn die Erinnerung an seinen jüngeren Bruder holte ihn immer wieder ein: Ein geistiger Krüppel, zwar freundlich und guter Dinge, jedoch zurückgeblieben und dann oft diese Anfälle, schrecklich. Er würde niemals alleine leben können. Die Mutter hing an dem Jungen mit einer Affenliebe – er aber war hin- und hergerissen. Wie konnte so ein Sprössling aus seiner Familie entstehen? Der Kleine liebte ihn, seinen großen Bruder. Er fühlte Widerwille und schämte sich seiner. Seine Kameraden und seine Vorgesetzten durften hier keine Schwächen sehen. Gerade für ihn galt es eine klare Haltung zu zeigen und mehr als alle anderen den konsequenten Weg der Reinhaltung des Blutes und der starken Volksgemeinschaft zu verfolgen.
Auch wenn die eigenen Familienbande mit Schmerz und Härte dafür zerschnitten werden mussten. Es galt, ein neues Reich zu schaffen. Mit geistigen und psychischen Krüppeln? Sie trugen zwar keine Schuld für das Versagen ihrer Erzeuger, die sie in die Welt setzten. Aber sie konnten doch nicht erwarten, dass die Soldaten und die deutschen Menschen die wenige Nahrung mit ihnen teilen sollten. Sie, die ihr Bestes gaben, um dem Führer zum Sieg zu verhelfen. Früher oder später lag es an ihm für den Bruder eine Lösung im Sinne der Idee eines starken deutschen Volkes zu finden.
Er hatte sich gut vorbereitet damals, trug enthusiastisch den Willen der Partei vor. Sie war seine Heimat geworden. Die Ideale von Männlichkeit, Gesundheit und eisernem Willen standen Seite an Seite mit einem sportlich trainierten Körper von Jugend an.
Selbst jetzt erschauerte er, beim Gedanken an den fast frenetischer Beifall, als er seinen nationalpatriotischen Vortrag beendete.
Dann aber stand eine junge Frau mit roten Locken auf und rief: »Ich erziehe meine Kinder selbst, dazu brauche ich keine Partei. Wir Eltern wissen doch am besten, was unsere Kinder brauchen.« So etwas war überraschend und bisher noch nie nach einer seiner Reden vorgekommen. Dass diese Frau in aller Öffentlichkeit das Erziehungsprogramm der Partei in Frage stellte, zeugte von Mut, aber auch von Aufsässigkeit. Und damit nicht genug. Sie machte weiter. »Menschen und besonders Kinder mit Behinderungen als unwertes Leben zu betrachten, das kommt einer Gotteslästerung gleich. Gott hat gesagt, lasset die Kinder zu mir kommen, damit hat er alle Menschen gemeint, denn wir alle sind Kinder Gottes.«
Als sie sich wieder auf ihren Stuhl setzte, blieb es zunächst sehr still im Publikum. Aus zwei Ecken hörte man verhaltenes Händeklatschen. Ihre Meinungsäußerung durfte er nicht übergehen, er musste darauf reagieren. Sonst würde er sich morgen Kritik anhören müssen und von Parteigenossen als schwach beurteilt werden.
»Eine interessante Meinung, die Sie da äußern, die eine klare Antwort erfordert. Wenn Sie schon Gott erwähnen: Der ist doch im Himmel. Dann sollen die Kindlein zu ihm kommen, hat er gesagt? Ja, und genau das wollen wir ja tun. Wir wollen sie auch zu ihm bringen. Wir wollen sie nur nicht so lange leiden lassen, wie Gott das vielleicht vorgehabt hat.«
Im Saal entstand Unruhe. Eine andere Frau stand auf, nahm ihre zwei kleinen Kindern an die Hand, ging zur Tür und zischte leise beim Hinausgehen: »Das Geschwätz kann man ja nicht mehr mit anhören.« Schlagartig spürte er die vorsichtige Aufmerksamkeit der Zuhörer und ging in die Offensive:
»Melden Sie sich morgen im Präsidium bei mir«, rief er der Frau mit den roten Locken in scharfem Ton zu, worauf es viele Heil-Hitler-Rufe gab. Die Rufenden waren mit erhobenem gestreckten Arm aufgesprungen, um als treue Parteimitglieder wahrgenommen zu werden.
Das musste er ihr zubilligen, feige schien sie nicht zu sein. Solche Frauen interessierten ihn. Durchgehen lassen durfte er ihr die frechen Worte aber nicht. Er traute ihr zu, dass sie seiner Aufforderung nicht folgen und am kommenden Tag nicht erscheinen würde. Für diesen Fall wollte er persönlich Kontakt zu ihr aufnehmen, Günther Schmitz könnte ihm dabei helfen. Sie gehörte zu dessen Bezirk.
Doch bei diesem Wunsch blieb es damals, denn Günther Schmitz antwortete auf seine Nachfrage nach der jungen Frau mit den roten Locken: »Vergiss es, die Regina ist verheiratet und hat zwei Kinder, an die wirst du nicht herankommen.«
Das konnte er nun ändern. Seit er zum ersten Mal ihr Foto in der Akte gesehen hatte, erzeugte allein der Gedanke an sie Spannung. Zweifellos käme er bei ihr zum Ziel, so wie immer. Nicht in dieser Situation, aber es würden sich weitere Kontakte ergeben.
Mit Harry kannte er seine Pläne bereits. Der saß jetzt in seiner Zelle und dachte darüber nach, ob er seinem Rat, sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden, folgen sollte. Das würde der machen, dessen war er sich sicher. Schon die Angst um seine Familie sollte Molter zum Wehrdienst treiben. Seinen Plan, ihn an die Front zu schicken, wollte er nicht gefährdet sehen. Dafür konnte er seine Kontakte bei der Wehrmacht nutzen.
Während er noch darüber nachdachte, klopfte es an die Tür. Er schaute auf seine Uhr. Punkt Zwölf Uhr dreißig. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit schätzte Augsburger sehr. Auf sein Herein trat ein Polizist ins Zimmer, gefolgt von einer schlanken, blass aussehenden Frau. Ihre dunkelblauen Augen rahmten Schatten ein. Die roten Haare zu einem Dutt hochgesteckt. Ihre Bekleidung wirkte, als käme sie direkt von der Feldarbeit. Die weit geschnittene Hose wies an den Beinen Schmutz auf, der Pullover schien zwei Nummern zu groß in undefinierbarer Farbe. Statt Arbeitsstiefel trug sie allerdings normale Straßenschuhe.
»Herr Kommissar, das ist Frau Molter«, stellte der Polizist die junge Frau vor. Augsburger stand auf, ging um den Tisch herum und reichte ihr die Hand. »Guten Tag, Frau Molter.«
Regina nickte unmerklich mit dem Kopf zur Begrüßung. Zögernd nahm sie seine Hand.
»Mein Name ist Augsburger. Bitte setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken? Ich kann nur Wasser anbieten, der Krieg – Sie wissen ja.«
Regina lehnte ab und setzte sich. Augsburger sah sie an. Zwischen dem Bild in der Akte und heute lagen zehn Jahre, sie sah jetzt erheblich älter und mitgenommen, aber immer noch attraktiv aus. Ob sie sich an ihn als Redner bei dem Sommerfest damals erinnerte?
Er begann das Gespräch: »Frau Molter, ich frage Sie jetzt als Zeugin, nicht als Verdächtige. Ihr Mann, Harry Molter, hat in der Nacht vom 18. auf den 19. März eine Sau geschlachtet. Ist das richtig?«
Regina nickte nur. Der Kommissar kam sofort zur Sache: »Das Schlachten ohne Genehmigung ist eine Straftat nach § 1 der Kriegswirtschaftsverordnung von 1939. Das wissen sie auch, nicht wahr?«
Regina nickte abermals.
»Ich weiß natürlich, dass viele Bauern das machen und das leider nur als Mundraub ansehen. Aber ihr Mann, Frau Molter, ist angezeigt worden. Und dann müssen wir die Straftat verständlicherweise verfolgen. Das werden Sie verstehen, oder?« Bei dem Wort ›oder‹ hob sich die Stimmlage, und die Schärfe der Aussprache veränderte sich.
Regina stand kurz davor, ihren Tränen Lauf zu lassen, deshalb nickte sie abermals nur kaum sichtbar.
»Tja, man hat halt nicht nur Freunde.« Augsburger atmete tief durch. »Ich habe Ihrem Mann vorgeschlagen, sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden, statt ins Gefängnis zu gehen.«
Von Reginas Aufschluchzen ließ er sich einen Moment unterbrechen, um dann fortzufahren: »Das Gefängnis Ulmer Höh kennen Sie bestimmt. Ich meine natürlich nicht von innen.« Er schaute sie durchdringend an: »Da würde es Ihrem Mann sehr schlecht ergehen. Als Volksschädling bekommt er da Sonderbehandlungen, Sie verstehen?« Beim letzten Wort zog er seine Augenbrauen hoch, während er sie beobachtete. »Die Wärter sind da kaum kontrollierbar. Unsere guten Männer sind an der Front, auf die müssen wir hier als Aufseher verzichten. Wissen Sie, ich kann doch die Menschen verstehen, die aus Hunger so etwas machen, was im ersten Augenblick nur wie eine Bagatelle aussieht. Und wenn sie dann, wie Sie und Ihr Mann, auch noch an der Quelle sitzen – also direkt am Schweinestall«, er lachte laut auf und schlug sich dabei mit einer Hand auf den Schenkel, »dann scheint die Versuchung doch groß zu sein. Sie möchten Ihren Kindern auch mal eine größere Portion Fleisch geben. Welche Eltern möchten das nicht? Aber – wie der Führer ganz richtig verfügt hat», hier schwoll seine Stimme wieder an, »unsere Soldaten sind so zu ernähren, dass sie den Sieg erkämpfen können. Ihr Bauern sitzt auf eurer Scholle, zieht Wurzelgemüse und Kohlköpfe aus dem Boden und lasst den Soldat, der an der Front kämpft, einen guten Mann sein!«
Er beobachtete sie genau. Wie mochten seine Worte auf diese sonst so selbstsichere Frau wirken, die im Augenblick jedoch wie ein Häufchen Elend vor ihm saß. Ein wenig tat sie ihm auch leid. Aber Gefühle hatten jetzt und hier nichts zu suchen. Günther Schmitz müsste ihm mehr über diese Frau erzählen. Der kannte sie ja schon Jahre lang, seit der gemeinsamen Kindheit.
»Ich werde dem Staatsanwalt keine Anzeige gegen Sie vorlegen. Ich habe Ihrem Mann versprochen, dass ich Sie und die Kinder unter meinen persönlichen Schutz stelle. Ich kann da einiges tun, habe da meine guten Kontakte. Und ich kann diese Kontakte auch dafür nutzen, dass Ihr Mann nicht ins Gefecht muss. Es gibt ja auch hinter der Front genügend Aufgaben. Übrigens, der Günther Schmitz wird immer an Ihrer Seite sein, das hat er mir gegenüber beteuert. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, der hat sich für Sie und Ihren Mann außergewöhnlich stark eingesetzt. Wissen Sie, ich möchte nicht, dass Ihnen wegen Ihrer lang zurückliegenden Kontakte zu den Sozis noch was passiert. Im Übrigen gibt es ja kaum noch welche von denen. Die Akte«, er zeigte auf die vor ihm liegenden Schriftstücke, »wird aber in meinem Schreibtisch unter Verschluss bleiben. Dann kann niemand Sie deswegen erneut unter Verdacht stellen. Es gibt ja noch versprengte Nester von Widerstandskämpfern, die auch vom Ausland aus agieren. Was meinen Sie dazu?« Regina wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie identifizierte sich mit den Ideen der Sozialdemokraten und empfand Solidarität mit ihnen. Die Treffen besuchte sie aber nur ein paar Mal, während ihrer Ausbildung zur Köchin, die sie vor der Hochzeit mit Harry abschließen konnte. Sie musste in jener Zeit von jemandem gesehen und angeschwärzt worden sein. Dass es eine Akte über sie gab, war für sie neu. Sie wurde auch nie vorgeladen. Jetzt wünschte sie sich nur eins. Sie wollte mit Harry sprechen.
»Was soll ich dazu sagen? Seit damals pflege ich keine Kontakte mehr zu Sozis. Und warum soll ich denn glauben, dass Sie Einfluss darauf nehmen können, wohin mein Mann von der Wehrmacht geschickt wird? Man hört doch, dass die Männer dringend an der Ostfront gebraucht werden.«
»Ach … glauben Sie das doch nicht. Das ist doch reine Propaganda, Frau Molter, wer erzählt denn so was? Die Russen haben hohe Verluste. Die haben wir in höchstens drei Wochen besiegt. Nein, will ich gar nicht wissen, wer solche Lügen verbreitet … und woher Sie solche Informationen haben. Der Führer und wir alle sind eine große Gemeinschaft. Ich weiß, wen ich ansprechen kann bei der Wehrmacht. Also, sind Sie damit einverstanden, dass ich Sie als Zeugin benenne und Sie nicht einem Sondergericht zuführe?« Er schaute sie an.
Regina zuckte die Schulter. »In dieser Lage habe ich doch keine Wahl. Ich werde als Zeugin unterschreiben. Aber kann ich jetzt mit meinem Mann sprechen? Das ist ganz wichtig.« Ihre Stimme klang belegt.
Augsburger nickte. »Kurz, meinetwegen. Wenn er sich für den Wehrdienst entscheidet, dann wird er noch heute Nachmittag zur Kurzausbildung überstellt, bevor er dann eingesetzt wird. Ich muss mich nur erkundigen, ob er nicht gerade beim Arzt ist, er muss noch untersucht werden, bevor die ihn auf die Reise schicken.« Er wählte eine Nummer am Telefon und fragte nach Molter. »Ach, schon beim Arzt? Ich sagte doch, ihr solltet den Termin so legen, dass die Frau noch mit ihm sprechen kann. Ach, der Arzt … verstehe … ja, ja, immer das Gleiche, nicht wahr? Gut. Heil Hitler.« Sogar beim Telefonieren hob er den rechten Arm zum Gruß. Er wandte sich an Regina: »Tut mir leid, ihr Mann ist schon beim Arzt, wie lange das dauert, weiß man nicht. Er muss ja tauglich sein, das erfordert einige Untersuchungen. Ein Fahrer wird sie nach Hause bringen, und wenn ihr Mann wieder hier ist, lasse ich Sie erneut abholen, ist ja nicht weit bis Hamm. Einverstanden?« Regina konnte nicht sprechen, weil sie krampfhaft versuchte, ihre Tränen zurück zu halten. Die ganze Nacht hatte sie sich auf ein Wiedersehen mit Harry vorbereitet und gehofft, ihn zu sehen. So viele Dinge wollte sie ihm sagen. Vor diesem Kommissar durfte sie nicht weinen. »Sie müssen noch die Zeugenaussage unterschreiben«, erinnerte Augsburger und schob das Blatt über den Tisch. Darin stand, dass sie Tathergang und Täter beim Schlachten bezeugen könne. Sie unterschrieb, wobei doch ein paar Tränen auf das Papier fielen. Aber sie musste auch an ihre Kinder denken, die jetzt mehr denn je ihre Mutter brauchten.
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