Kitabı oku: «Nicht mehr Ich», sayfa 4

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Der Abendsegen

Ohne viel Zögern unterschrieben wir den sogenannten »Abendsegen«. Mit dieser Unterschrift bekundeten wir unsere Bereitschaft, täglich gegen 21.00 ein langes Gebet zu sprechen, dessen Text uns Sr. Ottilie auf eng bedruckten kleinen Kärtchen mitbrachte. Er handelte von unserer Dankbarkeit für »das große Geschenk des Glaubens« und für das Glaubensbeispiel »von Mutter« und enthielt die Bitte, dem Charisma der Königsfamilie und der »Heiligen Kirche« treu zu bleiben und »mutig« davon »Zeugnis abzulegen«. Das Gebet hieß deswegen »Abendsegen«, weil alle Patres und zahlreiche befreundete Priester der Königsfamilie jeden Abend gegen 21.00 diejenigen segneten, die dieses Gebet sprachen – über alle räumlichen Abstände hinweg. Durch diesen Segen sollte ein unsichtbares Band über die ganze Welt gesponnen werden, das segnende und gesegnete Mitglieder und Freunde der Königsfamilie miteinander verband. Mir gefiel diese Idee, auch wenn mir der Text des Gebetes zu lang und für ein Gebet viel zu umständlich formuliert erschien. Aber nicht nur den Abendsegen, auch alles andere, was von der Königsfamilie kam, betrachteten wir als sehr kostbar. Stapelweise erhielten wir Heftchen mit Vorträgen, die Patres der Königsfamilie gehalten hatten und die mit Titeln wie »Erlösung vom Selbstmitleid«, »Die wahre christliche Nächstenliebe« oder »Erneuert euer Denken« überschrieben waren. Sie schienen eine gute geistliche Nahrung zu sein, weil sie sich nicht darauf beschränkten, blumige Formulierungen aneinanderzureihen, sondern auch sehr klare Forderungen enthielten, die ein greifbares Fortkommen im geistlichen Leben versprachen. Außerdem gab es auch Hefte, die bei schwierigen Themen klare Orientierung gaben, wie beispielsweise zum interreligiösen Dialog, zum Internet oder zur künstlichen Fortpflanzung. In deutlichen Worten, die man vom eigenen Pfarrer kaum so zu hören bekam, legten sie die »Lehre der Kirche« dar. Es schien uns, als hätten wir einen Schatz entdeckt.

Noch häufiger als die Königsfamilie bei uns zu Gast war, war ich nun zu Gast bei der Königsfamilie. Viele Wochenenden und praktisch alle Schulferien verbrachte ich bei den Schwestern. Ich war so oft dort, dass es mir im Nachhinein kaum möglich ist, einen Besuch vom anderen zu unterscheiden. Die Niederlassungen der Königsfamilie wurden gewissermaßen zu meinem zweiten zu Hause. Im Herbst 2002 kam ich das erste Mal zu den Schwestern in München, die dort zu fünft ein schönes ehemaliges Pfarrhaus mit Garten bewohnten. Im Erdgeschoss lagen die Küche, das Wohnzimmer, ein Büro und ein kleines Empfangszimmer. Im ersten Stock befanden sich die Zimmer der Schwestern und unter dem Dach im zweiten Stock die Kapelle, die Sakristei und weitere Schwestern- und Gästezimmer.

Sr. Ottilie war die Verantwortliche in diesem Haus, von wo aus sie in ganz Bayern unterwegs war und die Kontakte der Königsfamilie pflegte. Ganz besonders interessierte sie sich für neu ernannte Bischöfe, Regenten in Priesterseminaren und für die theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität. Obwohl sie selbst keinen theologischen Abschluss hatte, bewertete sie scheinbar fachmännisch die Qualität der einzelnen Dozenten, deren Vorlesungen sie sich regelmäßig anhörte. Wer ihr gut genug vorkam, wurde zu den Schwestern eingeladen. So waren dort immer wieder Pfarrer, Seminaristen, Professoren und sogar Bischöfe zu Gast. Sie zelebrierten die Messe in der Hauskapelle, bekamen ein gutes Essen vorgesetzt und wurden beim Tischgespräch weiter auf ihre Kirchlichkeit und Lehramtstreue abgeklopft. Diese Prozedur bekam ich anfangs nie in ihrer ganzen Ausführlichkeit mit. Die Gäste, bei denen ich mit am Tisch saß, waren meistens schon besser mit der Königsfamilie bekannt und sollten durch die Anwesenheit einer jungen Kandidatin beeindruckt werden, denn Berufungen gelten in bestimmten kirchlichen Kreisen als eine Art Prestige-Objekt. Nur ein Gast, den ich bei meinen Aufenthalten in München öfter als einmal zu sehen bekam, hatte es nicht mehr nötig, beeindruckt zu werden: der frisch zum Kardinal kreierte Dogmatiker Leo Scheffczyk. Er war schließlich nicht nur ein Freund, sondern sogar Mitglied der Königsfamilie. Ich staunte nicht schlecht, als ich das hörte. Offenbar gab es gar nicht so wenige Kardinäle und Bischöfe, die Mitglieder der Königsfamilie waren. Die meisten behandelten ihre Mitgliedschaft zwar diskret, sodass außer den Verantwortlichen der Königsfamilie niemand davon wusste. Aber es gab auch Ausnahmen: Kardinal Peter Erdö, Erzbischof von Budapest, und Kardinal Cahal Daly, Erzbischof von Armagh in Irland, sowie natürlich Bischof Philip Boyce von Raphoe in Irland, der seit den 1970er-Jahren geistlicher Begleiter von »Mutter« gewesen war. Sie machten aus ihrer Zugehörigkeit zur Königsfamilie kein großes Geheimnis.

Sr. Ottilie – erste Übergriffe

Bei allen meinen Besuchen war Sr. Ottilie praktisch die einzige Person, mit der ich sprach. Die anderen Schwestern sah ich nur in der Kapelle oder am Tisch. Mit Sr. Ottilie saß ich in den Stunden dazwischen zusammen. Sie schien für mich zuständig zu sein. Sie ließ sich Briefe von mir schreiben, die sie, wenn ich auf Besuch war, hervorholte und mit mir besprach. Das kam mir zwar seltsam vor und war obendrein unangenehm, aber ich dachte mir, wenn ich erst einmal eingetreten bin, werde ich eine richtige Ausbildnerin bekommen, eine, mit der ich mich zweifellos besser verstehen werde. Denn Sr. Ottilie verstand mich nicht, sie behandelte mich wie ein Kind, das noch viel lernen müsse. Sie lächelte spitz, wenn ich etwas sagte, als halte sie mich für naiv. Ja, manches Mal hatte ich das Gefühl, dass ein subtiler Machtkampf zwischen uns stattfand, in dem sie auf jeden Fall die Oberhand behalten wollte. Das tat sie auch, denn ich wollte ja meine Berufung nicht aufs Spiel setzen, auch wenn ich manches Mal kurz davor war, meiner Wut freien Lauf zu lassen.

Vor allem an eine solche Situation kann ich mich gut erinnern: Sr. Ottilie und ich kamen aus dem Gesprächszimmer und gingen miteinander die Treppe hinauf bis vor mein Zimmer. Ich hielt einen Stapel mit einigen Heftchen in der Hand, die sie mir zu lesen gegeben hatte und wollte in mein Zimmer verschwinden. Die Türklinke hielt ich schon in der Hand. Da kam Sr. Ottilie auf meine Kleidung zu sprechen. Wie gesagt, ich kleidete mich, für mein Gefühl, ohnehin schon wie eine Schwester. Ich trug einen langen schwarzen Rock mit einem leichten weißen Karomuster, darunter Nylonstrumpfhosen und dazu einen langärmeligen weißen Pulli mit einem Kragen und Reißverschluss. »Du musst dich wärmer anziehen«, sagte sie, und bevor ich begriff, was geschah, schob sie mich in mein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und griff unter meinen Pulli. »Was hast du denn da drunter an?«, fragte sie. Diese Berührung war mir extrem unangenehm. Und die offensichtliche, als Fürsorge getarnte Grenzverletzung irritierte mich. Ich war mir deutlich der Wut bewusst, die mich in diesem Moment überkam und in der vieles, was sich in den letzten Monaten aufgestaut hatte, nach oben kochte. Dennoch brachte ich kein Wort heraus und stand starr, völlig überrumpelt mitten im Zimmer, während Sr. Ottilie, die meinen Pulli nach oben geschoben hatte und mein Unterhemd zwischen ihren Fingern hielt, auf mich einredete. Sie würde mir ein paar warme Unterhemden mitgeben.

Kurz darauf war sie verschwunden. Ich fühlte mich beklemmt. Ein Gefühl, das keineswegs besser wurde, als sie mir nach der Abendanbetung einen Stapel unglaublich dicker, langärmeliger Baumwollhemden in die Hand drückte, mit der Anweisung, diese mit nach Hause zu nehmen und ab sofort zu tragen. Ich machte sogar noch eine freundliche Miene und bedankte mich. Tatsächlich fühlte ich mich gedemütigt. Jahre später dachte ich, dass dies vielleicht der erste in einer langen Reihe körperlicher Übergriffe war, ein Test, was ich alles mit mir machen lassen würde, wie verfügbar ich wäre, ein erster Schritt hin zur ultimativen Katastrophe. Damals war ich einfach nur froh, den Moment irgendwie überstanden zu haben und daheim der Kontrolle von Sr. Ottilie entzogen zu sein. Ich trug die Unterhemden nur, wenn ich zu Besuch kam.

Es gab aber auch Gelegenheiten, bei denen ich das Gefühl hatte, dass auch noch andere Personen mich prüfen sollten. Ich erinnere mich an ein Mittagessen mit P. Klemens, dem Neffen von Mutter Marozia und Verantwortlichen der Priestergemeinschaft im Mutterhaus. Dieser große schlanke Mann mit den leicht ergrauten Haaren saß mir mit fachmännischer Freundlichkeit gegenüber, während Sr. Ana, die neben mir saß, als eine Art Gesprächsassistentin fungierte. Sie gab mir fortwährend Stichworte. »Erzähl doch, wie dein Vater dir Psalmen vorgelesen hat, als du klein warst.« Dies und das sollte ich erzählen, und P. Klemens hörte freundlich zu. Das Essen kam zu seinem Ende, er verabschiedete sich, und ich fragte mich, wozu dieses Gespräch gut gewesen war. Der Verdacht, es wäre eine Art Test gewesen, ließ sich nicht völlig abschütteln.

Gespräch mit Mutter Marozia

Irgendwann wollte auch Mutter Marozia mit mir sprechen. Es war ja völlig klar, dass sie als International Verantwortliche der Schwesterngemeinschaft der Königsfamilie sich ein Bild von mir machen wollte. Vor dem Gespräch mit ihr war ich ziemlich nervös. Sie erwartete mich an einem Nachmittag im sogenannten großen Empfangszimmer des Mutterhauses. Es lag der Pforte gegenüber und hatte eine zweite Tür auf den Kreuzgang hinaus. Ich kannte den Raum schon. Durch seine Höhe, die großen Fenster und den Stuck an der Decke wirkte er besonders repräsentativ. Mutter Marozia pflegte ihre Gäste und Gesprächspartner hier zu empfangen. Sie war mindestens einen halben Kopf kleiner als ich. Ihre leicht rundliche Figur steckte immer in einem Kostüm, das sich von den weiten und unansehnlichen Röcken und Blusen der gewöhnlichen Schwestern vor allem dadurch abhob, dass es ihr auf gewisse Weise stand.

Das mit Abstand Bemerkenswerteste an ihr war aber ihr Gesicht. Ihr Blick war durchdringend. Um ihren Mund hatte sie einen ungeheuer entschlossenen und dominanten Zug, der dadurch zu entstehen schien, dass sie die Backenzähne aufeinanderbiss und dabei leicht die Lippen spitzte. Ihre Erscheinung hätte etwas Vornehmes haben können, wenn nicht die fieberhafte Dominanz, die ihr Wesen beherrschte, jede Form von Eleganz verunmöglicht hätte. Sie war eine Getriebene. Als ich später Fotos aus ihre Jugend sah, auf denen sie ihre damals noch langen Haare zu einem großen Dutt zusammengebunden hatte, war ich erstaunt über die Veränderung, die diese Frau durchgemacht hatte. Als sie jung war, hatte sie noch einen Glanz in den Augen, ein strahlendes rundes Gesicht, eine gewisse mädchenhafte Liebenswürdigkeit. Als ich sie vor meinem Austritt das letzte Mal sah, war sie eine in sich zusammengefallene und wegen ihrer Wahnhaftigkeit abgeschobene alte Frau.

Als ich ihr beinahe zehn Jahre früher das erste Mal gegenübersaß, war sie zunächst einfach die Oberin, in deren Augen ich bestehen musste. Sie redete in einem fort, und alles, was sie sagte, unterstrich sie mit ihrer erregten Stimme, erhobenen Augenbrauen und einem bedeutungsvollen Blick aus ihren funkelnden Augen. Keinem ihrer Worte hätte man zu widersprechen gewagt. Sie begann damit, dass sie auf ein Vorkommnis während des Mittagessens einging. Das Mittagessen war eine oft genutzte Gelegenheit, Nachrichten und Ankündigungen zu verbreiten. Die Pförtnerin erhob sich und sagte, sie wolle der Gemeinschaft ein »Zeichen der Zeit« mitteilen: »An der Pforte hat heute jemand eine Schachtel Pralinen für uns abgegeben. Jede ist einzeln verpackt und in jeder Verpackung steckt ein Zettel mit einem Spruch. Als wir eines geöffnet haben, was lesen wir da: Teufel, ich liebe dich!«

Die Stimmung im Raum war schlagartig von betroffenem Schweigen geprägt, unter das sich ein geradezu alarmiertes Murmeln mischte. Sie hätte kaum etwas Schrecklicheres sagen können. Da tönte die Stimme eines jungen Fraters durch den Raum, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht sagte: »Naja, es heißt ja immer, wir sollten die Pforte entlasten. Ich melde mich freiwillig zum Verzehr der Schoki!«

Lautes Lachen war die Antwort aus der Ecke, in der die Patres saßen. Natürlich erinnerte ich mich daran, als Mutter Marozia wenige Stunden später darauf zu sprechen kam. Ihr Anliegen schien besonders darin zu bestehen, den jungen Frater, für den sie deutlich Sympathie zu hegen schien, zu entschuldigen. »Gott weiß, wo er sich noch bekehren muss. Aber wenn einer die Gnade hat, die ganze Gemeinschaft zum Lachen zu bringen, ist das auch ein Geschenk«. Ich behielt den jungen Frater in den folgenden Monaten im Blick. Er hieß Alwin. Und die Gabe, die Gemeinschaft zum Lachen zu bringen oder auch einfach nur die Stimmung im Saal zu drehen und sich allgemeiner Panikmache zu entziehen, schien er wirklich in großem Maße zu besitzen.

Mutter Marozia fuhr fort, indem sie mich fragte, wie es denn in der Schule voranginge. Ich kam kaum dazu, ein paar Worte zu meinen Abiturfächern zu sagen. Als ich meinen Geschichts-Leistungskurs erwähnte, hatte sie das Stichwort, um zu einem Buch über das Leben der Gründerin überzugehen, das gerade geschrieben wurde. Ich hätte sicher von der Westfront im ersten Weltkrieg in Flandern gehört? Für eine Antwort, die über ein Kopfnicken hinausgegangen wäre, ließ sie mir keine Zeit. Die Gründerin habe ihre Kindheit in Flandern verbracht und ihre Familie musste während des Weltkriegs fliehen. Sie habe von klein auf ein besonders schweres Schicksal gehabt, voller Entbehrungen und Krankheiten. So wie Mutter Marozia von ihr sprach, musste sie ein ganz außergewöhnliches Kind gewesen sein, hochbegabt und fromm zugleich, kränklich und von ungeheurer Willensstärke. Sie hätte nie gewollt, dass ein Buch über sie geschrieben würde, außer es diente dem Charisma. Mutter Marozia sprach viel vom Charisma. Manches von dem, was sie sagte, kannte ich schon. Sie sprach vom Hochmut der heutigen Zeit, von der Überheblichkeit der modernen Gesellschaft, die sich von Gott abgewendet hatte, und von der großen Gnade, dass die Königsfamilie eigene Priester hatte und ein eigenes Inkardinationsrecht.

Dann, ich weiß nicht mehr wie, kam Mutter Marozia auf die »große Gnadengabe der Jungfräulichkeit« zu sprechen. »Wir müssen so dankbar sein, dass Gott uns zu einem jungfräulichen Leben berufen hat, als seine Bräute«.

Soweit stimmte ich ihr innerlich zu. Als sie dann aber begann, über das »Martyrium der Ehe« zu sprechen, das so viele arme Frauen durchmachen mussten, wurde mir unwohl. Ihr Blick verdunkelte sich, ihr Oberkörper war leicht vorgebeugt, sie blickte mir intensiver in die Augen und sprach, als ob etwas über sie gekommen wäre. »Männer haben ein viel größeres sexuelles Bedürfnis als Frauen. Darum müssen Frauen in der Ehe viel leiden. Sie müssen ihren Männern zur Verfügung stehen.« So oder so ähnlich redete und redete sie. Sie schien wie besessen von diesem Thema. Und ich war schockiert. Warum sagte sie das? Was wollte sie mir gegenüber mit diesen Worten erreichen? Woher nahm sie diese Überzeugung? Ich verließ das Empfangszimmer mit einem mulmigen Gefühl und ging die knarzende Holztreppe hinauf in mein Zimmer, während ich ein wenig meine Gedanken und Empfindungen sortierte. Neben dem Schock und den Fragezeichen, die ihre letzten Ausführungen in mir verursacht hatten, war ich ein wenig frustriert, weil ich selbst überhaupt nicht zu Wort gekommen war und Mutter Marozias Interesse an mir sich in Grenzen zu halten schien. Dennoch hatte sie mich und meine Reaktionen die ganze Zeit über sorgsam im Auge behalten. Vielleicht, dachte ich mir, hat sie so mehr über mich erfahren, als mir bewusst ist. Schlussendlich überwog die Erleichterung, dass ich auch diesen Test offensichtlich gut überstanden hatte.

Einladung nach Rom

Im Herbst erfuhr ich, dass ich gemeinsam mit meinem großen Bruder eingeladen war, die Tage nach Weihnachten in Rom zu verbringen. Ich konnte mein Glück kaum fassen! In Rom hatte ich die allerschönsten Erfahrungen mit der Königsfamilie gemacht. Nun sollte ich gleich ein paar Tage dort verbringen. Als wir gegen Abend, am Ende einer langen Zugfahrt, in der Stazione Termini ankamen, holte P. Christoph uns ab. Schon die Autofahrt durch Rom war ein Erlebnis. Wir wurden mit ebenso großer Souveränität wie Geschwindigkeit durch den chaotischen römischen Straßenverkehr chauffiert, machten einen Zwischenstopp an der Piazza di San Pietro und kamen dann über große Kreuzungen und kleine Schleichwege bis ins Ausbildungshaus der Gemeinschaft. Das war neben der Piccola Casa das zweite Haus der Königsfamilie in Rom. Es war ein gewöhnlicher römischer Palazzo aus roten Steinen, mit mehreren Balkonen auf jeder Etage, umgeben von einem relativ großen Garten mit Palmen, Zypressen und Zitronenbäumen. Als die Haustür sich öffnete, begrüßte uns zunächst eine sehr zierliche kleine Schwester mit einem breiten, schüchternen Lächeln und einem freundlichen »buona sera«. Ihr Name war Sr. Theresia. Ich gewann sie sofort lieb. Zuerst hielt ich sie für eine Italienerin. Später erfuhr ich, dass sie Österreicherin war. Nach dem üblichen kleinen Empfangskaffee im sogenannten Grande Soggiorno, dem großen Empfangszimmer, wurden wir auf unsere Zimmer gebracht.

Ich wohnte in einem Zimmer in der ersten Etage, im Ingresso 1, einer der beiden Schwesternwohnungen. Die Wohnungen im zweiten und dritten Stock bewohnten die Brüder. Das Haus gefiel mir. Weil es ein Wohnhaus war, hatte es keine Klosteratmosphäre, aber es war genauso akkurat und aufgeräumt wie jede Niederlassung der Königsfamilie. Vor allem die Ästhetik war eine andere als in Österreich. Alles wirkte etwas eleganter und sommerlicher. Die geschwungenen Wände im Eingangsbereich, die Holztüren, farbige Fließen am Boden, Vorhänge in bunten Farben, einige Möbel aus edlem Holz und schließlich auch die Hausbewohner schienen etwas Offeneres und Fröhlicheres an sich zu haben. Die folgenden Tage verbrachten mein Bruder und ich mehr oder weniger getrennt. Es gab quasi für jeden von uns ein eigenes Programm.

Die Tage vergingen wie im Traum. Nur wenige Erinnerungen sind geblieben. Frater Anthony, ein junger Engländer mit rötlichem Haar, hatte in den Tagen vor unserer Ankunft ein von ihm selbst geschriebenes und inszeniertes Theaterstück aufgeführt, »Cullodum’s Moor«. Das Echo dieses Erlebnisses klang noch in den Tischgesprächen nach. Dass es in der Königsfamilie auch Mitglieder gab, die einen Sinn für Literatur und Kunst hatten und dass diese buchstäblich eine Bühne bekamen, machte einen großen Eindruck auf mich. Gerne hätte ich einige Worte mit ihm gewechselt und ihn nach dem Inhalt seines Stückes gefragt. Das gelang mir erst beim Abschied, als er nur mehr lächelnd antworten konnte: »Next time«. Dieses nächste Mal sollte nie kommen. Auch Sr. Theresia sollte ich in der Königsfamilie nicht mehr wiedersehen. Dafür sollten andere Dinge, die ich in diesen Tagen erlebte, in den folgenden Jahren mit größter Zuverlässigkeit immer wiederkehren, vor allem das Weihnachtsliedersingen, das bei diesem ersten Besuch besonderen Eindruck auf mich machte.

Nach dem Sonntags-Mittagessen wurden etwa DIN-A4-große Liederhefte verteilt, die Weihnachtslieder in den verschiedensten Sprachen enthielten: Latein, Englisch, Französisch, Niederländisch, Italienisch, Ungarisch, Slowenisch, sogar einige afrikanische Lieder waren dabei. Jeder durfte sich ein Lied wünschen, das dann von der ganzen Gemeinschaft mehrstimmig gesungen wurde. Jede Stimmung schien der Gemeinschaft zu gelingen, von alpenländisch, volkstümlich, über musicalhaft bis choralmäßig, gleich ob fröhlich, melancholisch oder kitschig-romantisch. Dieses gemeinsame Singen war ein starkes Gemeinschaftserlebnis. Ich fühlte mich aufgehoben und zugehörig, obwohl ich in den vergangenen Tagen niemanden aus dieser Runde persönlich kennengelernt hatte, mit niemandem wirklich gesprochen, niemandem von mir erzählt hatte. Die Tage vergingen mit Beten, Arbeiten, Ausflügen, Singen und Essen. Die Freundlichkeit der Patres, Brüder und Schwestern war überschwänglich, aber immer unpersönlich.

Ich kehrte von Rom sehr beglückt nach Hause zurück. Diese Tage im milden Klima des Südens unter jungen und fröhlichen Gottgeweihten, die verschiedene Sprachen sprachen und mich schon wie eine von ihnen behandelten, hatten die Kraft alle Schatten zu vertreiben, die das ein oder andere frühere Erlebnis mit der Königsfamilie auf meine Vorfreude geworfen hatte. Die Aussicht, bald in einem dieser Häuser wohnen zu dürfen, beflügelte mich. Etwas Schöneres konnte ich mir nicht vorstellen, und ich hielt mich für besonders gesegnet, weil Gott mich gerade in die Königsfamilie berufen hatte. Aber im Frühjahr 2003, einige Monate vor dem geplanten Eintritt, schien es dann doch, als ob Sr. Ottilie mit ihrer Ankündigung des Berufungskampfes recht behalten sollte.

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