Kitabı oku: «Die dünne Frau», sayfa 3
Er begann seine Erzählung mit der Eröffnung, er sei von seinen Eltern verstoßen, enterbt und zum Teufel gejagt worden. Wieder ein Familienstammsitz verloren? Dieser entpuppte sich als Gemüseladen in Tottenham. Ich sah die armen Eltern mit ihren verarbeiteten Händen vor mir, wie sie den aus der Art geschlagenen Sohn mit Kohlköpfen zur Tür hinausbombardierten, abriegelten und ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« anbrachten. Aber warum?
Sein Vergehen war interessant. Mami und Papi konnten sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn praktizierender Atheist war.
»Praktizierend?«
»Ich war Mitorganisator einer Protestversammlung vor der Halleluja-Erweckungskirche. Das ist eine von diesen giftigen engstirnigen Sekten, die Ketzer immer noch am liebsten auf dem Scheiterhaufen verbrennen würden. In diesem Fall hatten sie sich geweigert, ein kleines Kind in geweihtem Boden zu bestatten. Wenn das Religion sein soll, kann ich darauf verzichten.«
»Deine Eltern sind fromm?«
»Sehr. Vater ist orthodoxer Jude und Mutter stramme Katholikin. Eines muss man den beiden lassen, sie führen eine großartige Ehe. Seit vierzig Jahren verzehren sie sich in missionarischem Eifer und versuchen, sich gegenseitig zu bekehren. Wir haben eine Mesusah in der Haustür und auf dem Kaminsims eine Jungfrau Maria. Mutter behauptet, sie habe Vater schon vor Jahren beim Haarewaschen getauft und er nennt sie vor seinen Freunden immer Ruth, obwohl sie Magdalene heißt.«
»Dann staune ich, dass sie bei dir so schnell aufgegeben haben. Hinter deiner Vertreibung muss doch mehr stecken als nur die Halleluja-Erweckungs-Demo. Was für Sünden hast du noch begangen?«
Ben hielt nach der Kellnerin mit der Rechnung Ausschau und sagte dabei in liebenswürdigem Tonfall: »Und ich staune, dass du beim Gehen nicht über deine Nase fällst. Wie kommst du dazu, mir Missetaten zu unterstellen?«
Fasziniert beobachtete ich, wie die Kammerzofe auf seinen leisesten Wink hin angedackelt kam. Mit nervtötender Langsamkeit steckte sie das Geld ein, das ich hingelegt hatte. Endlich verzog sie sich schweifwedelnd.
»Heraus damit!«, rief ich. »Die Spannung schlägt mir auf den Magen. Was hast du angestellt, die Tochter vom Bürgermeister entführt? Die Leihbücher nicht zurückgegeben?«
»Mein Kardinalfehler war, als einziges Kind geboren zu werden. Meine Eltern hatten alles auf eine Karte gesetzt. Als ich zur Welt kam, war Mutter fast vierzig. Danach war es aus mit dem Kinderkriegen.«
Hatte wahrscheinlich Angst, die arme Frau. »Dann ist deine Mutter nicht mehr die Jüngste?«, soufflierte ich listig.
»Sie geht auf die siebzig zu.«
Also war Ben an die dreißig, in meinen Augen das beste Alter, vor allem für ledige Männer.
»Was weiter?«, fragte ich.
»Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe ein Buch geschrieben, ein sehr … anschauliches Buch, sehr … avantgardistisch.« Er suchte nach dem passenden Wort. »Sehr … sinnenfreudig.«
»Mit diesem Adjektiv schmücken sich eigentlich Weinkenner und Frauen mit meiner Figur. Vielleicht wäre pornografisch treffender?«
»Der Ansicht bin ich durchaus nicht.« Seine schwarzen Brauen senkten sich in jener arroganten Manier, die Lore-Roman-Helden auf der Stelle zu verwegenen Teufelskerlen macht. Bentley Haskell dagegen sah aus wie ein kleiner Junge, der seinen Ball wiederhaben will.
»Hat das Meisterwerk schon das Licht der Öffentlichkeit erblickt?«
»Bitte keinen Hohn. Ich arbeite an der zweiten Fassung.«
»Ah ja. Der Ruhm lässt also noch auf sich warten. Aber deinen Eltern musstest du es sofort unter die Nase halten, noch bevor es gedruckt ist! Was ist an solcher Ehrlichkeit bewundernswert? Wolltest du zwei alten Leuten neue Schimpfwörter beibringen?«
Ben war verletzt. »Ich dachte, es gefällt ihnen. Außerdem musste ich ihnen was entgegensetzen. Sie verlangten, ich sollte bei Onkel Solomon arbeiten. Er hat ein Restaurant am Leicester Square.«
»Ins Familienunternehmen einsteigen, hört sich doch gut an.«
»Sicher, es war ja auch mal das, was ich wollte. Ich bin in den besten Hotels Europas und der Vereinigten Staaten ausgebildet worden, bis zum Chef. Aber dann letztes Jahr in Paris hat mich das Schreibfieber gepackt und ich habe meine Kreativität in andere Bahnen gelenkt. Es reizt mich nicht mehr, für den Rest meines Lebens am Herd zu stehen.«
Ein Koch? Gab es für mich kein Entrinnen vom Essen? Mitgefühl für jemand, der einem Cordon Bleu fröhlich den Rücken kehrt, war mir nicht gegeben. »Auch nur halbtags für Onkel Solomon zu arbeiten«, sagte ich scharf, »hätte sich natürlich nicht mit deinem künstlerischen Gewissen vertragen. Ich nehme an, du haust in einer zugigen Mansarde?«
Ben faltete seine Serviette und warf sie auf den Tisch. »Ich bin nicht am Verhungern, dank der Kultivierten Herrenbegleitung und dank Frauen wie dir.«
»Du meinst ›sinnenfreudige‹ Mauerblümchen.« Schwerfällig erhob ich mich und ergriff meine Tasche. »Aber du bist so beschissen verklemmt, dass du dich nicht traust, es auszusprechen.«
»Wie redest du!« Seine entrüstete Stimme folgte mir zum Ausgang. »Meine Mutter hat mir immer verboten, mit Mädchen zu spielen, die fluchen.«
Der Mann war nicht mal komisch. Wir traten aus der Gasthaustür in die schneidende Kälte, nur unser Schweigen war eisiger. Beim Losfahren fiel ihm die Wärmflasche ein. Er riss das Auto herum und verschwand wieder im Wirtshaus.
Die zweite Hälfte der Fahrt war doppelt so beschwerlich wie die erste. Die Nacht hatte sich um uns geschlossen, und unsere Scheinwerfer bohrten sich vergeblich in brodelnde Nebelschwaden – wir sahen keine drei Meter weit. Ben war ein guter Fahrer, aber selbst er hatte Schwierigkeiten, nicht im Graben zu landen. Je näher wir der Küste kamen, desto rauer und salziger wurde der Wind. Schnee wehte von den Bäumen und formierte sich zu dicken weißen Polstern. Wahrscheinlich war es gut, dass Ben und ich nicht miteinander redeten. Tante Sybil erwartete uns gegen sieben. Jetzt war es fast halb zehn. Wir fuhren durch das schöne Städtchen Walled Minsterbury und blieben auf Nordostkurs.
»Wenn wir Chitterton Fells erreicht haben, kannst du mich dann zum Haus deines Onkels dirigieren?« Bens Stimme brach das lange Schweigen mit solch einem Krächzer, dass ich schlaftrunken vor Kälte gegen das Lenkrad kippte und uns ins Schleudern brachte.
Ben benutzte ein Wort aus seinem Buch (ich konnte es ihm nicht mal verübeln), stieß mich grob mit dem Ellbogen weg und lenkte mühsam wieder geradeaus. »Bevor du uns beide umbringst – weißt du den Weg?«
Das war meine Bewährungsprobe. Leider bin ich eine von den Unglücklichen, die selbst unter normalen Umständen ihre eigene Haustür nur mit einem guten Stadtplan finden, und dies waren keine normalen Umstände. Ich konnte kaum Ben sehen, geschweige denn einen Wegweiser. »Es wird dir zwar nicht gefallen«, bemerkte ich im Plauderton, »aber ich war mit zwölf das letzte Mal hier … Knurr mich nicht an!« Ich stierte ins Dunkel. »In solchem Wetter strecken Leute ihre Hand aus und sehen sie nie wieder.«
»Vielen Dank«, kam es höhnisch von dem Unsichtbaren. Das Auto hopste hoch, rutschte aus und glitt ganz langsam gegen einen Baum oder Telegrafenmast oder irgendein anderes vertikales Hindernis, das in den schneegeschwängerten Nebelschwaden nichts zu suchen hatte.
Nicht oft, aber gelegentlich ist es ein Vorteil, viel zu wiegen. Jetzt trug ich redlich dazu bei, das Auto aus dem Graben zu schieben, zu ziehen und zu locken. Meine Anstrengungen brachten mir ein widerwilliges Lob ein. Ben nannte mich »Kumpel«! Eine Stunde später – meine Füße waren inzwischen zwei Scheiben Tiefkühlfisch – hatten wir das eigenwillige Vehikel auf die Straße gehievt. Schnaufend und schniefend stiegen mein Weggefährte und ich wieder ein.
Ich war zwar darauf vorbereitet, dass meine Wärmflasche an Unterkühlung gestorben war, aber zu meinem Schreck starb nun auch die Batterie. Der Motor gab einen asthmatischen Huster von sich, stotterte zweimal und verröchelte. Kein Horoskop hatte mir vorausgesagt, dass der Tag so enden würde. Unter einem viel zu dünnen Mantel klatschte mir ein nasser, zerfetzter Rocksaum um die Knöchel, und so stapfte ich eine öde Landstraße entlang, am Arm eines Mannes, der mir noch vor wenigen Stunden wildfremd gewesen war.
»Durchhalten«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne, »irgendein Dorf erreichen wir bestimmt noch vor Ablauf des Jahrhunderts.«
Ein Baum ragte uns plötzlich entgegen und ein dürrer Zweig griff nach meiner Wange. Das war zu viel. Ich war fertig – eine gebrochene Frau.
»Licht in Sicht!«, schrie Ben. Er brach in wildes Kriegsgeheul aus und warf mich fast um, aber dies war nicht der Augenblick für Vorwürfe. Zu unserer Rechten tauchte ein Haus auf, ein nächtlicher Spuk mit funkelnden gelben Augen. Unwillkürlich umarmten wir uns als zwei Kameraden, die tödliche Gefahren bestanden hatten.
»Auf geht’s, Ellie!« Er drückte meine Hand und wir kämpften uns weiter voran. Wenige Minuten später standen wir vor einem windschiefen Eisentor. »Das Ende der Wildnis!«, jauchzte er.
»Mehr als das«, sagte ich. »Kein Brieftaubenpärchen hätte uns übertreffen können. Das ist Merlins Schloss.«
4
»Man sollte meinen«, grollte Ben, »dass ein Haus dieser Größe sich eine Klingel leisten kann.«
»Geduld! Onkel Merlins Großvater, der Erbauer dieses mittelalterlichen Phantasiegebildes, hatte eine Abneigung gegen das Naheliegende.« Ich stapfte hinter ihm her durch den Matsch über das Schlossbrückchen und fühlte mich wie eine Tiefseetaucherin, die nach ihren Landbeinen sucht. »Irgendwo links von dir ist ein Wasserspeier, so ein Teufelskopf. Das ist der Türklopfer.«
»Das hier? Das habe ich für Fäulnisschwamm gehalten! Was mache ich damit? Knalle ich ihm eine?«
»Dummbeutel! Du reißt ihm die Zunge raus und guckst, wie er mit den Augen rollt.«
Ben zog eine Fratze und tat wie geheißen. Frierend traten wir von einem Bein aufs andere, während sich im Haus scheppernder Lärm erhob, als ginge ein Stapel Geschirr zu Bruch.
»Wer ist da?«, fragte eine misstrauische Stimme.
»Tante Sybil? Ich bin’s, Ellie!«
»Geh du vor«, sagte Ben wohlerzogen. »Falls du eins über den Schädel kriegst, kann ich Hilfe holen.«
Ein Riegel knarrte und ein fahler Lichtstreif wurde langsam breiter. »Meine Liebe! Wir hatten schon aufgegeben, auf dich zu warten. Onkel Merlin ist vor einer Stunde zu Bett gegangen.« Tante Sybil spähte kurzsichtig in die Nacht. »Und das ist sicher dein Bekannter. Kommt rein, bevor der Wind die Tür wegbläst. Guter Gott! Ihr seht ja aus …«
»Bitte«, Ben streckte meiner verwirrten Tante die Hand entgegen, »kleiden Sie es nicht in Worte. Wir wissen, dass wir aussehen wie wildernde Vampire.«
Inzwischen standen wir in der Empfangshalle, einer düsteren Höhle, von deren Wänden Gaslampen flackerndes Licht auf hungrig grinsende, mottenzerfressene Fuchsköpfe warfen.
»Ach du jemine.« Tante Sybil gab mir einen ihrer schlaffen Küsse. »Ein heißes Bad für jeden von euch wäre wohl das Beste, aber der Boiler macht uns Kummer. Der alte Jonas, unser Gärtner, der so was in Ordnung halten soll, fühlt sich elend. Ärgerlich, aber jedes Ding hat zwei … sonst hätte es uns passieren können, dass er sich mitsamt seinen dreckigen Stiefeln im Salon niederlässt, als gehörte er zur Familie. Kennt seinen Platz nicht und Merlin ist viel zu nachsichtig mit ihm. Tja dann, will einer von euch vorher nach oben« – sie machte eine Anstandspause – »oder kommt ihr lieber gleich in den Salon ans Kaminfeuer?«
Obwohl meine Besuche viele Jahre zurücklagen, erinnerte ich mich lebhaft an die grässliche Kälte in den oberen Regionen und stimmte für sofortige Wärme.
»Gute Idee«, meinte auch Ben, zog den Mantel aus und legte ihn mit meinem zu dem unordentlichen Haufen auf dem Intarsientisch. »Ich glaube, ich fange an zu schimmeln.«
»Merlin wird so enttäuscht sein, eure Ankunft versäumt zu haben.« Tante Sybil ging voran. Von hinten sah sie aus wie ein kleines empörtes Nashorn, ihr dunkles Seidenkleid warf verkniffene Falten. Schlechtes Wetter war bei Tante Sybil keine Entschuldigung für Unpünktlichkeit.
Als Kind hatte mich der Salon immer an eine Leichenhalle erinnert. Die Zeit hatte ihn nicht verschönt. Wie in der Halle flackerte trübes Licht von einer Gaslampe und vereinzelten Kerzen. Dunkle schwere Möbel ließen keinen Fußbreit Boden frei. Eine passende Zutat war auch das Gemälde über dem Kamin – ein holdes Mägdelein auf ihrem Totenbett, die Lippen zu einem Lächeln verklärt, in der wächsernen Hand eine Rose, während im Hintergrund ein Klagechor schluchzte. Meine Verwandtschaft hatte sich im Halbkreis um den Kamin drapiert wie Schauspieler in einem viktorianischen Melodrama. Aber es war genau andersrum. Sie waren das Publikum – die Akteure waren Ben und ich.
»Großer Gott, Ellie!«, näselte Tante Astrid so steif wie ihre Fischbein-verstärkte Taftbluse. »Was hast du mit dir angestellt?«
»Sieht aus wie eine übergroße ertrunkene Ratte«, steuerte Freddy wenig einfühlsam bei. Der musste reden! Wie er sich am Kaminsims lümmelte, hätte man ihn mit einem schmutzigen Lappen verwechseln können, wäre nicht der goldene Totenkopf an seinem Ohrläppchen gewesen.
Ich beschloss, das Verfahren abzukürzen. »Schön!«, sagte ich und zerrte Ben in die Mitte des Zimmers. »Wie ihr seht, bin ich völlig durchgeweicht, aber leider in der Wäsche nicht eingegangen. Können wir jetzt artig Guten Tag sagen?«
»Musst du so streitlustig sein, Schatz!« Vanessa ringelte sich wie drei Ellen Fallschirmseide aus dem Stuhl empor, der dem Feuer am nächsten stand, und richtete ihre strahlenden Topasaugen auf Ben, der zu seiner Schande dümmlich griente. »Willst du uns nicht deinen reizenden Freund vorstellen?«, schmollte sie. »Oder ziehe ich voreilige Schlüsse? Sogar pitschnass ist er nicht dein üblicher Typ, Ellie, Liebes.«
Da der einzige Mann, mit dem Vanessa mich bislang gesehen hatte, der Gepäckträger von Charing Cross war, beschloss ich, mich in würdiges Schweigen zu hüllen. Sollte Ben sich doch selber vorstellen. Er schien ganz glücklich, Konversation machen zu dürfen. Reihum Hände schüttelnd pflichtete er bei, dass das Wetter abscheulich sei, und schwang dann wie ein Pendel zurück zu meiner bildhübschen und charakterlosen Cousine. Ben brauchte sehr bald einen Rüffel, denn Ranschmeiße an den Feind stand nicht in seinem Vertrag.
Mein Retter war der leutselige, beleibte Onkel Maurice. Er langte nach der Karaffe mit Portwein, goss welchen in ein reichlich schmutziges Glas und fragte dabei mit seiner Stentorstimme, ob er mich nun seit zwei oder seit drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich hörte nicht zu. Der Mann von der Kultivierten Herrenbegleitung lieferte einen witzigen Bericht von unserer Reise, in dem ich keine gute Figur machte. Vanessa kann als vorzügliche Zuhörerin posieren, vorausgesetzt, ein Mann ist der Redner.
Das Feuer spie wie ein müder alter Vulkan mehr Rauch als Wärme aus. Aber da er sehr dicht davor stand, begannen Bens Hosenbeine zu dampfen und – dem Glimmen seiner Augen nach – seine Gedanken gleichfalls. Tante Sybil murmelte gequält etwas von Roastbeef-Schnittchen und Tee und verfügte sich in die Küche, wobei sie die Tür nur anlehnte.
»Diese Zugluft«, erschauerte Tante Astrid, »ist noch mal mein Tod.«
»Hab dich nicht so, Tantchen!« Freddy war in die Hocke gegangen und wippte auf den Fußsohlen. »Wenn dein Ischias, dein Hexenschuss, dein Sodbrennen und andere ausgewählte Leiden dich noch nicht zur Strecke gebracht haben, dann wird eine Verkühlung es kaum schaffen. Hat Mami nicht letzten Monat erzählt, du hättest so hässliche Hämorrhoiden?«
»Musst du so ordinär sein!« Tante Astrid richtete sich empört auf.
»Entschuldigung, Tantchen! Hatte ganz vergessen, wie schlecht es sich darauf sitzt«, erwiderte Freddy fröhlich, während er mit beiden Händen an seinen Bartbüscheln zupfte.
»Herrgott noch mal, Frederick«, bellte Onkel Maurice, »hör auf, an dir rumzurupfen. Man könnte meinen, du bist in der Mauser. Und wenn es nicht zu viel verlangt ist, dann steh entweder auf oder setz dich ordentlich hin. Hör auf, herumzuhopsen wie ein Springteufelchen! Du machst mich seekrank.«
Freddy stand auf, zeigte aber keine Reue. Er stupste mich schelmisch in den Bauch. »Schon mal versucht abzunehmen, Ellie?«
»Schon mal versucht, Arbeit zu finden, Freddy?«
Er schaute mich vorwurfsvoll an. »Certainement! Aber die Arbeitgeber sind nie bereit, meine Bedingungen zu akzeptieren – ich arbeite von zwölf bis eins mit einer Stunde Mittagspause.«
»Welch großer Kummer muss dein Sohn und Erbe für dich sein, Maurice, und für unsere arme Lulu«, warf Tante Astrid bissig ein.
»Da wir von der liebenden Mutter sprechen«, sagte ich und blickte in die Runde, »wo ist Tante Lulu?«
»Oben, scheucht Wanzen durchs Zimmer, um sich abzuregen. Das alte Mädchen hat wieder mal Zustände.« Freddy rollte mit den Augen und pochte sich dumpf an die Brust. »Wie du unschwer erraten kannst, natürlich meinetwegen. Vanessa hat mich wieder mal in den Schatten gestellt, die Zähne sollen ihr verfaulen. Da berichtet sie deinem Galan gerade von ihrem letzten Coup. Mutter konnte es einfach nicht ertragen.«
»Lulu ist mit Migräne zu Bett gegangen«, schnaubte Onkel Maurice. Aber niemand beachtete ihn.
»Wie lautet die Sensationsmeldung, Vanessa?« Meine Stimme sollte teilnehmende Neugier ausdrücken, aber ich bin keine gute Schauspielerin. Wollte denn niemand hören, dass ich kürzlich Mrs. Hermione Boggsworth-Smith ein dänisches Sonnenstudio eingerichtet hatte?
»Ach, Mami, musstest du das ausplaudern? Du weißt doch, ich mag keinen Rummel.« Die schöne Heuchlerin sank auf die Sofalehne. Sie hob die wohlgeformten Arme über den Kopf und ließ ihre langen, schlanken Finger in einer zaghaften und zugleich betörenden Geste durch ihre schweren kastanienbraunen Locken gleiten.
»Lügnerin.« Freddy sprach fröhlich aus, was ich dachte.
Tante Astrids und (schlimmer noch) Bens Augen hingen mit einer Ergebenheit an Vanessa, wie sie nur Götzenbildern oder Goldenen Kälbern zukommt. Apropos Rindvieh, wo blieben eigentlich die Roastbeef-Schnittchen?
»Vanessa«, psalmodierte Tante Astrid, »ist in aller Form gebeten worden, Model bei Felini Senghini zu werden.«
»Bei wem?«, krächzte ich über Freddys Gelächter hinweg.
Bens entgeisterter Gesichtsausdruck gab mir zu verstehen, dass er mich für ein öffentliches Ärgernis erster Ordnung hielt. »Ellie, du machst wohl Witze! Von Felini Senghini hat nun wirklich jeder gehört!«
»Auf leeren Magen mache ich nie Witze.« Meine Stimme schwoll bedrohlich, aber ich besann mich darauf, dass dieser Mann angeblich mein Herzallerliebster war, hakte ihn besitzergreifend unter und entblößte die Zähne zu einem freundlichen Lächeln. »Ist das der Mann mit dem Olivenölteint auf den Spaghettipackungen?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Nein, ich weiß! Das ist der Opernsänger, der den Figaro zur Begeisterung des Publikums nur in Schnurrbart und Krawatte sang.«
Wie ihr großes Vorbild Königin Viktoria war Tante Astrid nicht belustigt. Über Vanessa und deren Karriere wurden keine Witze gerissen. »Es muss schwer für dich sein, Ellie, eine Cousine wie Vanessa zu haben«, schnarrte sie und schaute dabei über mich hinweg, »aber Gehässigkeit ist nie kleidsam.«
Freddy zwinkerte mir zu. »Ich mag Ellie, wenn sie kiebig ist. Nicht kleidsam ist dieser scheußliche rote Aufzug. Bist du aus einem Harem entsprungen oder ist der Scheich als Erster geflohen?«
Tante Astrid redete über uns hinweg. »Felini Senghini gilt unter Eingeweihten als der Modeschöpfer des Jahrhunderts.«
»Ellie, meine Liebe«, miaute Vanessa, »willst du mir nicht gratulieren?«
Diese Zumutung wurde mir erspart durch die Ankunft von Tante Sybil mit dem Abendbrottablett. Einen freien Platz dafür aufzutreiben, erforderte einige Findigkeit. Ben eilte zu Hilfe und schob auf dem Büfett zwei Messingleuchter und eine angelaufene Silberschale voll mit Haarnadeln, Zuckerwürfeln und einem grauen Wollknäuel beiseite.
»Was ist denn los mit dir?«, hauchte er mir ins Ohr. »Ich fange an, mich zu amüsieren.«
»Gewöhn dir das nicht an«, zischte ich zurück.
»Soll heißen?«
»Soll heißen, wenn du nicht aufhörst, dich an Vanessa ranzuschmeißen, kannst du deinem Honorar Ade sagen.«
Ben besaß die Frechheit, ein erstauntes Gesicht zu machen. Bevor er antworten konnte, schlich sich Freddy von hinten an. »Reden wir ein bisschen über euch zwei, alle blutrünstigen Einzelheiten – wo ihr euch kennengelernt habt und so.«
Ben und ich schauten uns an, für den Augenblick einte uns ein labiler Waffenstillstand. »Wo war das, Ellie?«, murmelte mein Mitverschwörer, den Mund voll altbackenem Sandwich. »Wir kennen uns … schon eine Weile, und das Drum und Dran … die Einzelheiten sind recht …«
Und dieser Mann wollte ein schöpferisches Genie sein!
»Ball der Einsamen Herzen?«, schlug Freddy vor.
Ich trat Ben fest auf den Fuß und signalisierte ihm, dass er das Fabulieren mir überlassen sollte. Er stöhnte kurz auf, vor Erleichterung oder auch vor Schmerz, denn seine Augen waren etwas glasig, als ich seelenvoll hochblickte. Zur Beruhigung drückte ich ihm noch zärtlich die Hand, was ein leises Autsch auslöste und ein Aufblitzen der weißen Zähne, das er Freddy zuliebe hastig in ein strahlendes Lächeln umwandelte.
»Ben leidet durchaus nicht an Gedächtnisschwund«, sagte ich, »aber unsere erste Begegnung fand unter recht traurigen Umständen statt. Nämlich auf einer Protestversammlung gegen Kindesmisshandlung vor der Halleluja-Erweckungskirche.«
»In der Kirche!« Tante Sybil reichte mir einen Krug mit lauwarmem Wasser, um darin die Kaffeekanne aufzuwärmen. »Wie hübsch. Das ist doch mal etwas anderes als diese Discos und Single-Bars. Welcher Konfession gehören Sie an, Mr. Händel?«
»Haskell. Gläubiger Ath–«
»Jedes Kind sollte im Glauben erzogen werden«, mischte sich Tante Astrid gewichtig ein und gab Ben zu verstehen, dass sie nicht beeindruckt war. »Warum kann nicht jeder in der Anglikanischen Kirche sein? Was der Königin gut genug ist, ist es mir allemal!«
Ich vermied sorgfältig, Ben anzuschauen. »Tante Sybil«, fragte ich, »wann werden wir Onkel Merlin sehen?«
»Wahrscheinlich nicht vor morgen Abend.« Tante Sybil versuchte, drei Leute gleichzeitig mit Kaffee zu versorgen. »Ihr jungen Leute müsst bedenken, dass der arme Merlin nicht jünger wird.«
»Nicht gerade ungewöhnlich«, murmelte Freddy.
Glücklicherweise bekam Tante Sybil diesen ruppigen Kommentar nicht mit. Sie fuhr fort: »Der Morgen macht ihm immer zu schaffen. Er sagt, das Licht tut seinen Augen weh.«
»Verwandelt sich allmählich in Dracula, was?«, witzelte mein unverbesserlicher Vetter. Er und Ben grinsten sich zu wie ungezogene Schuljungs.
»Ist das die Erklärung für das funzlige Licht überall?« Onkel Maurice ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, schweren Schrittes auf dem abgewetzten Kaminvorleger auf und ab.
»Es tut mir leid, wenn du das Gaslicht bedrückend findest.« Tante Sybil sah tief verletzt aus, als sie sich der Gruppe um den Kaminvorleger zugesellte.
Ben bot sein charmantestes Lächeln dar. »Ist eine Sicherung durchgebrannt? In einem alten Haus, das so einsam liegt, und bei dem Schneesturm würde mich das nicht wundern.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, Mr. Hamlet. Aber wir leiden keineswegs unter Strommangel. Wie ich schon sagte, mag Merlin kein helles Licht; aber der Grund, weshalb er auf dieser Etage keinen Strom benutzt, ist völlig selbstlos. Er mag etwas abgeschieden leben, aber er liest Zeitungen – nicht diese grauenhaften Skandalblätter, die Partnertausch und Geschlechtsumwandlungen herausposaunen, sondern die Times und den Telegraph. Und Merlin meint, auch er müsse einen Beitrag zur Bekämpfung der Energiekrise leisten.«
»Kokolores!«, donnerte Onkel Maurice. »Da bin ich anderer Meinung.«
Ben wandte sich um und betrachtete ihn kühl. »Ich finde, der Mann verdient Respekt.«
»Selbstaufopferung ist schön und gut«, schaltete sich Tante Astrid ein, als hätte sie selbstverständlich das letzte Wort zu diesem Thema, »solange sie nicht fanatisch wird. Wenn Weltraumraketen hin- und hersausen wie Fernlaster, dann besitzt hoffentlich niemand die Unverfrorenheit, von mir den Verzicht auf alles zu verlangen, was zum Leben einer Dame gehört.«
»Keine Sorge, Tantchen«, tröstete Freddy, »die Zeiten des Außenklos sind lange vorbei.«
»Müssen denn alle meckern?« Vanessa sprach zum ersten Mal seit langem. (Ohne Zweifel braucht es angestrengte Konzentration, um stundenlang hinreißend auszusehen.) »Ich hatte mir vorgestellt, wir verbringen alle ein himmlisches Wochenende miteinander.« Sie befeuchtete ihre schimmernden Lippen und bedachte Ben mit einem verführerischen Augenaufschlag.
»Ich meckere nicht«, sagte ich griesgrämig. »Das trübe Licht stört mich nicht. Ich mag es sogar.«
»Natürlich!«, schnurrte Vanessa. »So sehen wir nur die Hälfte von dir.«
Schweigen verdickte die Luft, und etwas Düsteres und Finsteres ergriff Besitz von meinem Hirn. »Ach ja? Deshalb muss wohl Ben gesagt haben, er könne gar nicht genug von mir kriegen, als er mir in einer Mondnacht einen Heiratsantrag gemacht hat. Oh, Liebling, tut mir leid.« Ich wandte mich zu meinem neuen Verlobten und senkte entschuldigend meine verkümmerten Wimpern. »Ich weiß, wir wollten mit der entzückenden Neuigkeit warten, bis Onkel Merlin hier ist, aber ich konnte nicht widerstehen. Will uns niemand gratulieren?«
»Du willst heiraten?«, tönte Tante Astrid, als hätte ich ein heiliges Sakrament obszön entweiht. Der Rest war erstarrt. Meine Verwandten sahen mit ihren offenen Mäulern herzlich komisch aus. Ich wollte schon lachen, da sah ich Bens Gesicht. Richtig schade, dass ihm das keinen Spaß machte. Schließlich bekommt man nicht alle Tage eine neue Verlobte, noch dazu, ohne zu fragen.
»Ach, das ist hübsch«, sagte Tante Sybil. »Ich selber war ja nie sehr aufs Heiraten aus, aber heutzutage, wo man sich ohne Weiteres scheiden lassen kann, ist natürlich alles viel einfacher. Und jetzt sind wir alle müde, also gute Nacht. Ihr müsst jeder eine Kerze mitnehmen, damit ihr die Treppe rauffindet. Rechts vom Treppenabsatz ist ein Lichtschalter. Ich sehe euch dann morgen früh.«
»Die Klasse kann abtreten!«, wisperte Freddy und langte nach der größten Kerze. Zweifellos die Macht der Gewohnheit; als Kind hatte er sich immer das Kuchenstück mit der Kirsche drauf geschnappt. Das, das ich haben wollte. An der Tür wandte ich mich um, ob Ben mir wohl folgte, um mir, sobald wir allein waren, den Hals umzudrehen, aber er sagte gerade Vanessa ausführlich Gute Nacht. Wären ihre Kerzen sich noch näher gekommen, wären beide in Flammen aufgegangen. Unter dünnem Gemurmel verspäteter Glückwünsche ging ich verzagt in die Empfangshalle und stieß prompt mit Onkel Maurice zusammen, der mir an der Treppe aufgelauert hatte. Er stellte unsere Kerzen auf ein Marmortischchen und umklammerte meine Hände mit seinen feuchten und schwammigen Fingern. Sein Gesicht hing dicht über meinem. Ich konnte seine Pomade riechen und seinen heißen, portweingeschwängerten Atem.
»Meine liebe Ellie«, sagte er, »verzeih einem alten Trottel, dass er dich so abfängt, aber da dein Vater am anderen Ende der Welt Schafe scheucht, brauchst du, meine ich, Rat und Zuwendung eines erfahrenen Mannes von Welt. Ist diese plötzliche Verlobung klug? Eine Frau von deinen herausragenden Qualitäten hat etwas Besseres verdient als diesen Mr. Haskell. Irgendwas an dem Burschen kommt mir komisch vor. Hat was von einem Araber, würde ich sagen.«
»Ach komm, Onkel, glaubst du, er wird seine Kerze fallen lassen und das Haus abbrennen, damit er das Grundstück billig aufkaufen kann?« Ben war ein Windhund, der für die Lockungen von Vanessas Fleisch nur allzu anfällig war, aber eine von uns beiden musste unserer Beziehung treu bleiben.
»Na, na, Ellie.« Onkel Maurice drückte mir wieder die Hände und gluckste tadelnd, in seine hervorquellenden Augen trat ein Glitzern. »Meinst du nicht, meine Liebe, dass du Maurice zu mir sagen kannst? ›Onkel‹ in meinen Jahren, da kommt man sich direkt alt vor. Außerdem ist es lediglich eine Höflichkeitsanrede. Wir sind nur ganz entfernt miteinander verwandt. Deine Mutter war Merlins was, Cousine zweiten Grades?«
»Irgend so was«, sagte ich und überlegte, wie ich die Flucht antreten konnte.
Onkel Maurice bekam offenbar Schwierigkeiten mit der Atmung. »Ellie«, keuchte er und kam mir noch näher. Ich konnte seine Westenknöpfe durch die rote Seide spüren. »Ein paar von meinen Freunden sagen Maury zu mir.«
Bevor ich mit »Ach ja?« antworten konnte, ging die Tür zum Salon auf und Ben kam mit Vanessa heraus, die an seinem Arm hing. Leicht betreten rückte er von ihr ab.
»Da bist du ja, Liebling«, sagte ich. »Hast du Vanessa gesagt, dass ich sie als Brautjungfer möchte?«
Meine Cousine erbleichte, Onkel Maurice ließ meine Hände los und verdrückte sich zur Treppe. Nicht ganz so gelassen wie sonst ergriff er seine Kerze und wünschte uns Gute Nacht. Vanessa rankte sich graziös hinter ihm die Treppe hoch.
Als sie fort waren, sagte Ben: »Starr mich nicht so an. Schließlich musste ich höflich zu dem Mädel sein. Mrs. Swabuchers Anweisungen waren, deine Verwandtschaft mit meinem umgänglichen Wesen zu bezaubern. Worauf sie mich nicht vorbereitet hat, ist die Verlobung, in die ich plötzlich geraten bin.«
»Mach dir keine Sorgen.« Ich zuckte die Achseln. »Sie muss nicht vollzogen werden.«
»Nichts, was mit Heiraten zu tun hat, ist komisch.«
»Quatsch. Niemand wird dich in Handschellen vor den Altar schleppen. Nur eine unschuldige Schwindelei. Außerdem hast du es dir selber zuzuschreiben, so wie du bei Vanessas Anblick zu sabbern anfingst. Das gehörte nicht zu unserer Abmachung.«
»Weißt du, was du bist?« Ben zog so heftig an seinem Schlips, dass er zu ersticken drohte. Sein Gesicht wurde zinnoberrot. »Eine Plage! Schon als ich dich zum ersten Mal sah, ein Taifun in einem roten Leichenhemd, war mir das klar, und seitdem bist du ein einziger Alptraum. Dir traue ich zu, dass du mich als Heiratsschwindler vor Gericht bringst, wenn ich unsere erfundene Verlobung löse.«