Kitabı oku: «Die dünne Frau», sayfa 5
6
Unsere Rückfahrt nach London am nächsten Nachmittag verlief frostig; das Wetter war ebenfalls kalt. Ben ließ sich immer wieder aus über meine Bekanntgabe unserer Verlobung.
»Ach, halt deinen Mund, du aufgeblasener Schnösel.« Ich hatte genug. Meine Augen tränten vor Kalte und mein linkes Bein lag im Koma. »Du ärgerst dich doch nur, weil du vor Vanessa als Trottel dastehst, der keine Bessere abkriegt. Mach dir keine Sorgen, sie wird nicht denken, dass wir miteinander schlafen. Ich habe ihr erzählt, du wärst impotent, ein Missgeschick in früher Kindheit. Als sie erfuhr, dass du Halbjude bist, hat sie es ohne Weiteres geglaubt. Die Beschneidung hört sich an wie ein einfacher Eingriff, aber manchmal rutscht eben das Messer aus …«
»Verdammt noch mal, Ellie.« Ben schlidderte elegant um eine Kurve. »Du bist unmöglich. Trotzdem hätte ich um nichts in der Welt versäumen mögen, dich kennengelernt zu haben. Es tut mir beinahe leid, dass ich von dir Geld nehme.«
»Du schaffst das schon. Auf welche Weise soll ich unsere Verlobung lösen? Wärst du zufrieden mit einer offiziellen Anzeige in der Times?«
Ben grinste. »Jetzt weiß ich, welche Sorte Bücher du liest. Meine Mutter liest den gleichen Schund.« Er senkte die Stimme in samtige Tiefen. »Meine Liebste, wir waren nicht füreinander bestimmt … Ich bitte dich, streiche mich für immer aus deinem Leben. Und denke daran, wenn du dein Kissen mit Tränen durchnässt, dass ich niemals gut genug für dich war. Eines Tages wird irgendwo draußen am fernen Horizont …«
»Was? Ein anderer Mann? Und auf den Kitzel verzichten, dass mein Leben durch hoffnungslose Leidenschaft zerstört ist? Nie im Leben. Ich kehre heim zu meiner Katze und dem Leben einer enttäuschten alten Jungfer.«
Bens kleines Auto fädelte sich durch den Londoner Verkehr. Wir kamen überraschend gut voran. Ich hatte mich fast schon an das taube Gefühl unterhalb der Knie gewöhnt, da glitt Ben in eine kleine Parklücke und stellte den Motor ab. Zurück am Queen Alexandra Place Nr. 129.
Das Zwischenspiel war vorüber. Ich bestand darauf, dass er mich nicht nach oben brachte. Wir standen am Bordstein wie Flüchtlinge, die es in die sibirische Einöde verschlagen hat, die Hände zum Abschiedsgruß ausgestreckt, meinen verbeulten Koffer zu Füßen. Wir hätten Musik gebraucht, den ergreifenden Schmerz von ›Laras Lied‹.
»Das mit dem offenen Verdeck tut mir leid«, sagte Ben, die Hände in den Taschen vergraben.
»Nicht doch. Ich fühle mich richtig knackig, wie frischer Salat.«
»Ich leide unter Klaustrophobie.«
»Unangenehm«, sagte ich. Wir schauten uns an, diese langen Augenblicke, die sich wie Gummiband ziehen, bis sie reißen. »Donnerwetter noch mal, willst du aus diesem Abschied einen Marathon machen für das Guiness-Buch der Rekorde?«
»Entschuldige.« Er hörte sich barsch an. Wir kehrten einander den Rücken, um in verschiedene Richtungen auseinanderzugehen. Als ich mich umschaute, hatte er sich nicht von der Stelle gerührt, wahrscheinlich dachte er, wie komisch ich von hinten aussah – genau wie Tante Sybil.
In meine Wohnung nach Hause zu kommen war eigentlich ganz schön. Tobias begrüßte mich mit ungewohnter Herzlichkeit und einem Raspier seiner rauen rosa Zunge. Er kam mir sogar ins Badezimmer nach und schaute zu, wie ich ein kochend heißes Bad nahm und aus einer Dampfwolke rosa schimmernd auftauchte. Tobias schloss die Augen. »Lass das«, fuhr ich ihn an. Er gähnte unverschämt und verschwand um die Tür. »Mach nur so weiter, den Schwanz einziehen und verduften, du Schleicher!«, rief ich ihm hinterher. »Wie ich das kenne!«
»Jemand zu Hause?«
Jill! Sie hatte die zermürbende Eigenschaft, plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen. Ich hätte ihr nie meinen zweiten Schlüssel geben dürfen. Nicht mal mein Spiegel hatte mich in den letzten Jahren splitternackt gesehen, also gab ich auch ihr keine Gelegenheit. Ich griff mir ein Handtuch und ging ins Wohnzimmer, um sie abzuwimmeln. Aber daraus wurde nichts, denn sie kam mit nahrhaften Geschenken. Ihre Kasserolle hätte geschmorten Tang enthalten können, nach Tante Sybils Kochkünsten würde es schmecken wie Ambrosia.
»Du bist ein Engel« – ich lächelte – »und eine liebe Freundin. Stell das hin und ich setze Wasser auf.«
»Ein neues Rezept. Frikassee von Thunfisch und Erdnussbutter.«
Wäre ich bloß auf Merlins Schloss geblieben.
Arbeit half. Ich fing früh an und blieb lange. Eine meiner anspruchsvollsten Kundinnen, Lady Violet Witherspoon, machte ihre Midlife-Crisis durch und fand Erleichterung, indem sie alle sechs Monate ihr Landhaus in den Norfolk Broads von Kopf bis Fuß umkrempelte.
Ich schickte den Scheck an die Kultivierte ab und beschloss: Das war das Ende von Bentley T. Haskell. Aber der Mann hielt sich nicht an Vorsätze. Immer wieder tauchte er in meinen Gedanken auf, mit ähnlich rücksichtsloser Selbstvergessenheit, mit der Jill in meine Wohnung spaziert kam. Tagsüber konnte ich ihn in Schach halten, aber nachts – sobald ich die Augen schloss, war er da, der Schlingel, und verströmte seinen Charme. Er war verrückt nach meinen Haaren, meinen Augen, meinen Ohren. »So zarte kleine Öhrchen«, flüsterte er dann, sein Atem strich mir warm über den Hals, und ich schmolz vor Wonne.
Was für ein Segen, sagte ich mir im kalten Licht des Tages, dass er ein so unmöglicher Mensch war, sonst hätte mich die Aussicht, nie wieder etwas von ihm zu hören, ziemlich mitgenommen.
Um zu beweisen, wie gleichgültig er mir war, ließ ich das Telefon wieder anschließen. Geld ausgeben ist auch eine Methode, sich auf Trab zu halten. An einem meiner leeren Samstage fuhr ich ins East End, kaufte einen königsblauen Morgenmantel und ließ Onkel Merlins Monogramm auf die Tasche sticken. Als Reaktion kam ein kurzes Schreiben von Tante Sybil des Inhalts, ich sollte kurz vor der Heirat mit meinem Geld eigentlich Besseres anzufangen wissen, als es für Kinkerlitzchen hinauszuwerfen.
»Die undankbaren Alten.« Leider war ich mit meinen Verwandten noch nicht fertig. Vanessa rief an. Sie wüsste ja, wie mich ihr neuester, fabelhafter Auftrag als Model entzücken würde, und wieso hätte sie von uns eigentlich noch keine Heiratsanzeige in der Times gesehen?
Das gab mir den Rest. Ich hatte ohnehin Lust, dem Stress des Großstadtlebens zu entfliehen. Am nächsten Morgen bat ich Lady Witherspoon in den Ausstellungsraum und legte ihr nahe, dass ihrem neuen Salon italienischer Einfluss durchaus wohltun könnte. Wäre es ihr recht, wenn ich einige Einkäufe dafür machen würde? In Rom?
Sie betupfte ihre feuchten Augen mit einem Spitzentüchlein und hauchte: »Wenn ich denke, dass in meinem Bekanntenkreis immer wieder über die mangelnde Einsatzbereitschaft der Arbeiterklasse geklagt wird.«
Meine Berufsehre verbot mir, Lady Witherspoons Angebot anzunehmen, alle Kosten zu tragen, aber ihr Scheck – für den ich immerhin etliche Stunden lang Dekostoffe inspizierte – erlaubte mir doch, komfortabler zu reisen als sonst. Nachdem ich in der Stadt der sagenhaften Antike und des ebenso sagenhaften Sonnenscheins eingetroffen war, ließ ich mich in einem kleinen, aber zauberhaften Hotel nieder, in dem die Aussicht hervorragend war und jede Mahlzeit ein Sonett. Angesichts so vieler Doppelkinne, die über ihren Fettucine Alfredo wippten, bekam ich langsam das Gefühl, meine Maße seien ganz akzeptabel, und ließ mir ohne Gewissensbisse Nachschlag geben. Was sogar noch besser war: Ben rutschte dahin zurück, wo er hingehörte, zwischen die Seiten trivialer Liebesromane. Ich klappte das Buch endgültig zu und stellte es mit einem winzigen Hauch des Bedauerns – jede Frau hat gerne so ihre Erinnerungen – ganz oben ins Regal in einer Ecke meines Hirns und ließ es Spinnweben ansetzen. Ich rief die Fluggesellschaft an und war auf dem Heimweg.
London Anfang April war nass und grässlich, die Bürgersteige schwarz und glitschig. Das hohe, schmale Haus am Queen Alexandra Place stand geduckt und ungehalten vor Kälte. Der Taxifahrer griff sich das Trinkgeld mit Fingern, die aus durchlöcherten Strickhandschuhen hervorlugten, und brauste im Nebel davon. Jill war nicht da, aber ich traf Tobias auf der untersten Treppe, er sah gepflegt und wohlgenährt aus. »Die einzige Person auf der ganzen Welt, die mich wirklich liebt!«, rief ich und beugte mich vor, um ihn in die Arme zu schließen. Das undankbare Katertier kräuselte die Lippen, zuckte arrogant mit dem Schwanz, als wollte er sagen »Komm du mir ja nicht wieder angekrochen, du treulose Tomate«, und schritt die Treppe hoch.
Ich konnte seinen Groll verstehen. Nach drei Wochen von Jills Küche wäre ich wahrscheinlich auch nicht mehr ansprechbar. Ich drehte den Schlüssel im Schloss und schob den Koffer mit dem Fuß über die Schwelle, da klingelte das Telefon.
»Hast du wieder auf Miss Renshaws Fußmatte gepinkelt?«, schrie ich Tobias hinterher, der in die Küche witschte. »Wenn ich mir noch mehr Beschwerden von dieser alten Giftnudel anhören muss …« Ich nahm den Hörer ab und sprach im Ton eines müden Weltreisenden: »Hallo?«
»Ellie, wo zum Teufel hast du gesteckt?«, knurrte Ben. »Ich habe Jill angerufen und sie hat gesagt, du wolltest vorgestern zurückkommen. Sie hat mir die Nummer gegeben und ich …«
Eine Frechheit von dem Mann, mir wieder zu erscheinen, kaum dass ich ihn endlich zu Grabe getragen hatte! Ich wiegte das Telefon in meinen Armen und tanzte auf der Stelle.
Er knirschte mit den Zähnen, diesen entzückenden kleinen Perlzähnen, die in all den verbotenen Träumen an meinem Ohr geknabbert hatten … »Hör zu«, sagte er übertrieben langsam, »ich weiß, dass der Klang meiner Stimme dir die Sprache verschlägt, aber würdest du für eine Minute aus dem Koma erwachen, damit wir uns vernünftig unterhalten können?«
Vernünftig? Das Wort mochte ich überhaupt nicht. Ich hörte auf zu tanzen. »Hast du den Scheck verloren?«
»Musst du immer auf dem Geld rumhacken? Ich kritisiere dich in solchen Zeiten ungern, aber ich finde das ausgesprochen primitiv. Wenn du je deine Kontoauszüge studiert hättest, was Frauen bekanntlich nicht tun, dann hättest du gemerkt, dass ich die paar Pimperlinge nie eingelöst habe.«
»Halt mal kurz die Luft an.« Ich ließ mich auf die Sofalehne plumpsen und zerquetschte beinahe Tobias, der sich herangeschlichen hatte. Nadelscharfe Krallen fuhren in meine Rückseite und ich schoss wieder hoch. »Was meinst du damit ›in solchen Zeiten‹?«
Jetzt war es an ihm zu schweigen.
Ich schubste Tobias unsanft weg und setzte mich wieder. »Bring es mir behutsam bei …« Meine Stimme kam so stoßweise wie der Atem einer neunzigjährigen Marathonläuferin. »Du und Vanessa, ihr habt euch heimlich getroffen und jetzt wollt ihr heiraten?«
»Nein.«
»Wenn das so ist …« Ich legte mir Tobias über die Schulter und kuschelte mein Gesicht in sein warmes, weiches Fell.
»Ellie, ich habe langsam das komische Gefühl, du weißt es noch gar nicht.«
»Mm?« Ich kitzelte Tobias am Kinn.
»Onkel Merlin ist tot.«
»Das kann nicht sein!«, protestierte ich. »Der Mann ist unsterblich – der ist älter als die Sintflut.«
»Todesanzeigen in der Times lügen nicht. Es tut mir ja leid«, sagte Ben, »dass ich der Überbringer dieser Nachricht bin, aber …«
»Mach daraus keine griechische Tragödie.« Meine Stimme wurde von Tobias’ Fell gedämpft. »Der Mann war für mich ein Fremder. An dem Wochenende neulich habe ich ihn zum ersten Mal seit Jahren wiedergesehen.« Ich unterbrach, um tief Luft zu holen. »Und er hat sich absolut widerwärtig benommen – vielleicht tat er mir deshalb leid … hinterher.«
»Du flennst doch nicht etwa?«, fragte Ben vorwurfsvoll. »Ach, verdammt noch mal, Ellie, du bist eine alte Heulsuse. Ich komme vorbei.«
»Danke«, schniefte ich.
Ben zu überreden, mich auf Merlins Schloss zu begleiten, war gar nicht so schwer. Ich glaube, es war sein Vorschlag – nachdem ich Tobias gut zugeredet hatte, nett zu ihm zu sein, und die Schwierigkeiten herausgestrichen hatte, mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu gelangen. Ben war wieder als Begleiter tätig.
»Was ist mit dieser Geschichte von unserer Verlobung?« Wir standen im Flur, um uns zu verabschieden, als ich dieses kritische Thema anschnitt. »Bis jetzt habe ich noch nichts unternommen, der Familie beizubringen, dass wir kein Paar mehr sind.«
»Dann werden wir mit der Maskerade wohl weitermachen müssen.« Ben wickelte sich einen langen gestreiften Schal um den Hals, der aussah wie ein Erinnerungsstück an seine Schulzeit. »Wir wollen doch der Beerdigung nicht die Schau stehlen, indem wir unseren Betrug bekannt geben. Aber ich erwarte von dir, dass du das richtigstellst, sobald die Familienkrise überwunden ist, verstanden?«
»Jawohl, mein Ehrenwort. Andernfalls soll mich der Schlag treffen.« Was für ein leichtfertiger, dummer Spruch.
»Ob Merlin auch so dachte?«, fragte Ben lakonisch, als er zur Tür hinausging.
Als wir am nächsten Mittag kurz vor zwölf durch das schiefe Eisentor den verkrauteten Kiesweg hinauffuhren, sah Merlins Schloss mehr denn je aus wie ein verwunschenes Märchenschloss, das eine streitsüchtige Fee mit einem bösen Fluch belegt hat.
Jemand hatte nach uns Ausschau gehalten. Tante Sybil, ganz in Schwarz, empfing uns an der Tür. Ihre Mundwinkel waren verkniffen, aber ansonsten war ihr Gesicht ausdruckslos.
»Das muss sehr hart für dich sein, Tantchen.« Ich versuchte, sie zu umarmen, aber sie wich zurück.
»Bitte kein Getue, meine Liebe. In Merlins und meinen jungen Tagen galt Kummer immer als etwas sehr Privates.« Ihre breite Hand strich eines der vielen Fältchen ihres Seidenkleides glatt, und ich dachte bei mir, mit ihrer grauen Haut und ihren Hängebacken sah sie mehr denn je wie ein Nashorn aus. Und dann zitterten ihr die Lippen. Das arme alte Mädchen, mit Ausnahme des Gärtners war sie vielleicht der einzige Freund, den Merlin je besessen hatte.
»War das Ende sehr plötzlich?«, fragte ich und gab Ben meinen Mantel, damit er ihn zu dem Kleiderhaufen auf dem Intarsientisch packen konnte.
»Sehr. Der Doktor kam vormittags, und nachmittags war Merlin tot. Lungenentzündung. Er starb ganz friedlich.«
»Das erstaunt mich. Von Onkel Merlin hätte ich erwartet, dass er noch auf dem Sterbebett flucht, weil er zum ersten Mal seit vierzig Jahren einen Arzt holen muss.«
»Seit fünfundvierzig Jahren.« Tante Sybil verriet unterdrückten Stolz. »Merlin war keiner, der Aufhebens von seinem Befinden machte, wie ich dir, glaube ich, schon sagte, als du endlich einmal die Zeit fandest, ihn zu besuchen.«
So etwas Ungerechtes! Es war Onkel Merlins eigener Wille, sich hier wie ein Einsiedler abzukapseln. Nie hatte er auf meine Weihnachtskarten reagiert oder das leiseste Interesse bekundet, mich zu sehen. Ben erkannte das Glitzern in meinen Augen und beschwor mich mit Gesten, ruhig zu bleiben. Die übrigen Mitglieder der Sippe hatten sich schon im Salon versammelt und scharten sich abermals um ein kümmerliches Feuer.
»Ach, Liebe, zeig mir deinen Ring.« Vanessa streckte ihre Hand nach meiner aus wie ein eifriges Kind, aber sie schaute dabei den Mann an meiner Seite an und hob fragend die sanft geschwungenen Brauen.
Ich musste es Ben – wenn auch widerwillig – lassen, er zeigte sich der Situation gewachsen und beschützte mich vor dem Feind. »Ellie und ich haben uns lang und breit über Verlobungsringe auseinandergesetzt«, sagte er glatt. »Sie bestand darauf, das Geld für etwas Praktischeres auszugeben. Was wolltest du noch?« Er drehte sich zu mir um und grinste mir verschwörerisch zu.
»Eine batteriebetriebene Heizdecke, Liebling, damit wir uns behaglich kuscheln können auf unseren Spritztouren in deinem Auto.«
»Ist sie nicht pfundig?« Sehr verliebt klang das nicht, aber der Mann gab sich Mühe.
Freddy, der auf dem Boden lümmelte und zotteliger denn je aussah, stand auf und machte eine Bewegung, als wollte er seiner Mutter den Hals umdrehen. »Hör auf, Mutter«, sagte er. »Der Sherry ist wässerig genug, den brauchst du nicht mit deinen Tränen zu verdünnen.«
»Er war zu gut für diese Welt«, wimmerte Tante Lulu. »Menschen seines Schlages verlassen uns immer als Erste!«
»Mach dich nicht lächerlich«, belferte Tante Astrid. »Der Mann war über siebzig. Der ist weiß Gott lange genug hier gewesen.«
»Ja«, pflichtete Freddy bei, »lass den Schmus, Mutter. Du wirst noch eine ganz andere Melodie singen, in ein paar Stunden, wenn das Testament verlesen wird und du feststellst, der alte Zausel hat dir nicht den Batzen vermacht, den du erwartest.« Freddy kippte den Sherry seiner Mutter hinunter und langte nach der Karaffe. »Möchte mal wissen, wer die Kohle kriegt.«
Tante Astrid setzte sich kerzengerade auf. »Dem alten Schafskopf traue ich zu, dass er alles der Wohltätigkeit vermacht hat. Aber wenn er halbwegs gescheit war, wird er sein Vermögen denen vererbt haben, die etwas damit anzufangen wissen. Vanessa und ich hatten immer schon Sinn für gehobenen Lebensstil.« Tante Astrid warf Freddy und mir einen abschätzigen Blick zu.
Vanessa wickelte eine verirrte Locke um einen langen, schlanken Finger. »Ich erwarte nicht einen Pfennig«, widersprach sie sanft.
Freddy sagte etwas sehr Ordinäres.
Tante Astrid erhob sich aus ihrem Sessel. »Wie kannst du es wagen, du widerwärtiges, ungepflegtes Subjekt, wie kannst du es wagen, meine wunderschöne Tochter zu beleidigen?«
»Und wie kannst du es wagen, meinen großen, gut gewachsenen Sohn zu beleidigen?« Tante Lulu knallte ihr Glas auf einen Stapel alter Zeitungen, die auf einem Kamintischchen herumlagen. Ihr sträubten sich die Federn wie einer wütenden Henne. »Was glaubst du, wer du bist, Gräfin Rotz? Vor mir kannst du dich nicht aufspielen! Meine Mutter konnte sich noch daran erinnern, wie dein Vater mit einem Lumpenkarren durch die Elendsviertel gezogen ist. Wenn man dich reden hört, könnte man meinen, er war Textilkaufmann! Ha! Trotz all der feinen Mädchenpensionate und eures affektierten Gehabes, du und dein Fräulein Tochter, ihr seid nichts weiter als Emporkömmlinge!«
Das Opfer dieser Attacke sah angeschlagen aus, während wir Übrigen Mühe hatten, unsere Schadenfreude zu verbergen. Onkel Maurice protestierte der Form halber, aber wir alle merkten, dass er nicht mit dem Herzen dabei war. »Na, na, meine Liebe. Nun ist aber gut, mach nicht solch Geschrei.«
»Ich werde nicht still sein!«, schrie Tante Lulu umso kampflustiger. »Wenn diese Frau auch nur eine Spur von Kinderstube hätte, wüsste sie, dass in den besseren Familien das Erbe immer der männlichen Linie verbleibt.«
»Darauf trinke ich!«, prostete Freddy süffisant und schenkte sich noch einen ein.
»Unverschämtheit«, keuchte Tante Astrid.
»Beruhige dich, Mama.« Vanessa goss ein Glas Cognac ein und reichte es ihrer zitternden Mutter. »Du regst dich auf wegen nichts. Ich bin überzeugt, Onkel Merlin hatte am Ende noch so viel Verstand, sein Vermögen den Familienmitgliedern zu hinterlassen, die es am ehesten verdienen.«
Onkel Maurice steckte seine Wurstfinger in die Westentaschen, streckte die Brust raus wie ein Pinguin und runzelte die Stirn. Offensichtlich war er im Begriff, etwas besonders Scharfsinniges zu sagen. »Über die Jahre«, orgelte er, »habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten Merlin meine profunden Kenntnisse in Kapitalanlagen zugute kommen lassen. Gewiss neigte er zeitweise zu Reizbarkeit, aber so war er eben. Und da, meiner Meinung nach, Merlin sich als Erben jemand mit Finanzerfahrung ausgesucht haben wird, halte ich mich für einen aussichtsreichen Anwärter auf das Gros …«
»Unsinn!« Tante Astrid schoss in einer einzigen Bewegung aus ihrem Sessel. Für einen Moment hatte ich die Hoffnung, sie würde Maurice ihr Cognacglas ins Gesicht schleudern. Ben amüsierte sich ebenfalls köstlich. Unsere Blicke trafen sich und er zwinkerte mir verstohlen zu.
»Du liegst ja nicht mal im Rennen«, flüsterte er. »Schade! Erbinnen finde ich besonders attraktiv.«
»Komm, Vanessa.« Leider hatte Tante Astrid beschlossen, keine Szene zu machen. »Wir werden nicht eine Sekunde länger in diesem Zimmer bleiben und uns solchen Schwachsinn anhören. Solide Anlageberatung ausgerechnet von dir, Maurice? Dass ich nicht lache! Du solltest erst mal dein eigenes Haus in Ordnung bringen. Den Gerüchten nach, die ich zufällig letzte Woche bei meinem Schneider hörte, hat dich dein finanzieller Sachverstand an den Rand des Ruins gebracht.«
»Findest du nicht«, sagte ich, »dass alle ein wenig voreilig sind, um nicht zu sagen geldgierig? Erinnere dich, Tante Astrid, du warst es, die gesagt hat, Onkel Merlin würde wahrscheinlich alles einem Katzenasyl vermachen. Vielleicht hat ihm deine Idee gefallen, obwohl ich es für viel wahrscheinlicher halte, dass er sein Geld dem einen Menschen zukommen ließ, der ihm in all den Jahren zur Seite gestanden hat, Tante Sybil.«
Genau aufs Stichwort kam sie zur Tür herein. In ihrem breitkrempigen schwarzen Filzhut, den sie sich fest aufs graue Haar gestülpt hatte, und dem dunklen, fast bis zu ihren Schnürschuhen reichenden Mantel sah Tante Sybil aus wie das Kindermädchen in einem Schauerdrama – die Sorte, wo alle Kinder zu Unholden werden und die Eltern das Haus fluchtartig verlassen müssen. »Ich denke«, sie schaute zur Uhr auf dem Kamin, »wir sollten zum Gottesdienst aufbrechen. Wer fahren will, kann das tun, ich werde zu Fuß gehen. Zur Kirche sind es nur fünf Minuten und Merlin verabscheute Automobile. Seine sterblichen Überreste werden vom Bestatter in einer Pferdekutsche befördert.« Sie fügte hinzu: »Dieses Transportmittel wurde nicht nur wegen seiner Abneigung gegen Kraftfahrzeuge gewählt, es entspricht seinen Wünschen, wie er sie schriftlich gegenüber seinem Rechtsanwalt zum Ausdruck gebracht hat. Mr. Bragg wird nach der Beerdigung mit uns hierherkommen, ihr werdet also dann Gelegenheit haben, ihn zu sprechen.«
»Na, das wird ein Spaß!«, flüsterte mir Freddy hämisch ins Ohr.
Seit unserer Ankunft hatte sich draußen dicker Nebel ausgebreitet. Unsere kleine Gesellschaft versammelte sich, um den schmalen, zerklüfteten Weg entlang der Klippen hinabzusteigen. Ein Geländer an gefährlichen Stellen hätte mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit gegeben – wenn ich mehr als einen Meter weit hätte sehen können. Binnen kurzem hatte ich mir den Fuß verstaucht und Ben nahm meinen Arm.
»Wenn du weiter so an mir zerrst«, war seine körperlose Stimme zu vernehmen, »purzeln wir beide in den Abgrund und werden von den Felsen da unten aufgespießt.«
»Was bist du für ein Pessimist, hinter jeder Ecke siehst du Gespenster.«
»Du hast vollkommen recht«, gab er friedlich zu. »Gerade eben zum Beispiel sehe ich eine gespenstische Kalesche um die Ecke kommen, gezogen von zwei schnaubenden, stampfenden Rössern und gelenkt von einem Geisterkutscher …«
»Der Kutscher sitzt auf dem Bock, wir sehen ihn durch den Nebel nur nicht«, erklärte ich geduldig und stolperte wieder – diesmal über Onkel Maurice, der stehen geblieben war. »Stell dir vor, wie der Sarg in der Kutsche klappert.« Ich drückte freundschaftlich Bens Arm, was er nicht erwiderte.
»Lieber nicht«, sagte er.
Onkel Merlin wurde in der Familiengruft beigesetzt, einem kleinen kapellenartigen Bauwerk neben der Kirche.
Die Sarkophage waren mir unheimlich, auf den älteren ruhten Marmorabbilder der Verstorbenen, an den neueren waren Messingschilder. Der Sarg wurde hereingetragen, hoch auf den Schultern der Leichenbestatter. Kein Freund, kein Verwandter stand auf, um die Last zu teilen. Onkel Merlin war tot, und niemand, mich eingeschlossen, empfand viel dabei. Warum konnte er nicht draußen auf dem Friedhof begraben werden, wo über ihm das Gras im Winde wehen würde? Ich drehte mich um und sah den alten Gärtner gebeugt und düster stehen, in höflichem Abstand zur Familie. Eine Träne stahl sich aus einem Augenwinkel und kullerte langsam über seine runzlige Wange. Fragte er sich, wann wohl die Reihe an ihn käme – wieder ein Name von der Liste gestrichen?
»Ich gehe«, sagte ich zu Ben.
Im Haus machte ich mich nützlich, räumte den Salon auf, brachte benutztes Geschirr und alte Essensreste hinaus und setzte Tee auf. Ich war gerade damit fertig, den Kaminsims mit zusammengeknülltem Zeitungspapier abzustauben, da hörte ich Getrappel in der Halle. Der Familie hatte sich Dr. Melrose angeschlossen, der Onkel Merlin auf dem Sterbebett behandelt hatte. Er ging umher, schüttelte Hände und entschuldigte sich, dass er erst gegen Ende der Beerdigung kommen konnte. »Ich bedaure, dass ich Mr. Grantham nicht von größerer Hilfe sein konnte«, bemerkte er zu Onkel Maurice. »Die Lungenentzündung gab zwar den Ausschlag, aber der Mann war schwer herzleidend. Sehr leichtsinnig von ihm, nicht früher ärztliche Hilfe zu suchen. Er muss es geahnt haben.«
»Aber wenn nichts mehr zu machen war«, sagte Tante Astrid, »und angesichts der Tatsache, dass trotz der Krankenkasse immer Ausgaben entstehen …«
Der Pfarrer, Mr. Rowland Foxworth, traf ein und kondolierte mit wohltönender Stimme. Ein attraktiver Mann mit vorzeitig ergrautem braunem Haar, kräftigen Brauen und warmen grauen Augen. Er war wesentlich größer als Ben. Ich betrachtete Ben nachdenklich, während der Tee eingeschenkt wurde. Mr. Foxworth und der Arzt waren eben gegangen, da läutete die Türklingel und kündigte den Mann an, auf den wir alle warteten, Mr. Wilberforce Bragg, Rechtsanwalt und Notar von der Kanzlei Bragg, Wiseman und Smith.
Um der Familie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ich glaube, wir gaben ein reizendes Bild ab. Niemand saß da und wetzte die Krallen oder schmatzte auffällig mit den Lippen. Mr. Bragg war ein Mann in den Sechzigern von zerfließend rundlicher Gestalt wie sehr weicher Teig. Seine Gesichtshaut war ein zerfurchtes Netzwerk roter Äderchen, seine Haare sahen nicht so aus, als wären sie in der letzten Woche gekämmt worden, und sein Jackett sowie seine Hosenbeine waren fünf Zentimeter zu kurz.
»Seine Mutter hat nicht gedacht, dass er so schnell rauswächst«, flüsterte Freddy, schielte mit Bedauern nach dem Sherry und nahm sich eine Tasse Tee.
»Können wir anfangen?« Mr. Braggs blaurote Lippen teilten sich zu einer Art Lächeln und er setzte eine Halbbrille auf. »Meine Damen und Herren, wir sind heute hier zusammengekommen …«
Ein Pochen an der Tür unterbrach ihn und hereingeschlurft kam der alte Gärtner. Er drehte die Mütze in den knotigen Händen, seine Augen wanderten zwischen uns umher. »Ich hörte, ich werde hier gewünscht, Euer Ehren.«
»Sie sind Jonas Alfred Phipps? Ganz recht, mein Guter, wir legen Wert auf Ihre Anwesenheit.« Mr. Bragg nickte in der huldvollen Manier eines Mannes, der sich über Klassenunterschiede erhaben weiß.
Tante Astrid teilte diese gesellschaftliche Toleranz keineswegs. Stirnrunzelnd beobachtete sie, wie der Gärtner seine schmutzigen Stiefel an der Türschwelle abtrat, und zog ihre Röcke beiseite, als er hinter sie stapfte, um seinen Platz am Rand der Gruppe einzunehmen.
»Wenn wir dann jetzt so weit sind«, drängte der Notar, »beginne ich mit der Testamentseröffnung:
Ich, Merlin Percival Grantham, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, erkläre dies zu meinem letzten Willen, durch den alle anderen Testamente und Verfügungen außer Kraft gesetzt werden.
Erstens: Ich ernenne die Stirling Treuhand AG zu meinen Testamentsvollstreckern und weise sie hiermit an, alle berechtigten Forderungen an meinen Besitz zu begleichen
Zweitens: Nach Tilgung aller Verbindlichkeiten weise ich meinen Testamentsvollstrecker an, mit meinem Nachlass wie folgt zu verfahren:
A. Jonas Phipps, dem einzigen Diener, der tollkühn genug war, in meinen Diensten zu bleiben, hinterlasse ich in Dankbarkeit für das Vergnügen, das er mir bereitet hat, indem er aus meinem Grund und Boden ein Ausstellungsgelände für Unkräuter machte, die Summe von eintausend Pfund und das Recht, sein Leben lang in den Räumen über den Stallungen auf meinem Grundstück zu wohnen.
Der Empfänger dieser großzügigen Gabe senkte den Kopf und sagte: »Ergebensten Dank, Euer Ehren.«
Mr. Bragg fuhr fort:
B. Meinem Vetter dritten Grades Maurice Flatts, der sich einzig dadurch hervortut, Frauen nachzusteigen, die jung genug sind, seine Töchter zu sein, hinterlasse ich ein Paar Pantoffeln.
Gemurmel erhob sich, Tante Lulus Stimme übertönte alle anderen. »Schmeißt es ins Feuer. Verbrennt das Testament!«
Onkel Maurice sah aus, als stünde er vor einem Herzanfall. »Verleumdung! Ich werde, ich werde … vor Gericht gehen!«
Der Notar hob die Hand. »Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, meine Damen und Herren, dass es völlig unerheblich ist, ob ich dieses Dokument billige oder missbillige. Rechtlich ist es wasserdicht. Jeder, der versucht, es anzufechten, hat enorme Kosten zu gewärtigen und äußerst geringe Erfolgsaussichten. In dieser Hinsicht bin ich meiner Sache sicher. Das Testament wurde von mir aufgesetzt, und ich schmeichle mir, einer der kenntnisreichsten Experten für Erbschaftsangelegenheiten in diesem Teil des Landes zu sein. Merlin Granthams Wünsche sind gültig.«
»Sie meinen, es kommt noch schlimmer?« Leichtfuß Freddy klang ausnahmsweise völlig vernünftig.
Der Anwalt blätterte in dem Schriftstück. »Ich dulde keine weiteren Unterbrechungen, oder ich werde das Testament öffentlich verlesen lassen, vor Richter Abernathy.«
C. Louise Emily Flatts, die bei einer unvergesslichen Gelegenheit dem Familiennamen Schande machte, indem sie im Gemeindesaal von St. Mary’s-at-the-Mill beim Rommé betrog, hinterlasse ich ein ungezinktes Kartenspiel.
D. Meinem (leider nicht weit genug) entfernten Vetter vierten Grades Frederick George Flatts, der Armut für eine mystische Erfahrung hält, hinterlasse ich eine leere Geldbörse.
E. Meiner Verwandten Vanessa Fitz-Gerald, die es lustig fand, sich auf der Silvester-»Fete« des Vereins der Pfarrer im Ruhestand nackt zur Schau zu stellen, hinterlasse ich etwas, das sie hoffentlich ebenso lustig findet – einen Overall.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.