Kitabı oku: «Mitten ins Leben – Frieden finden mit Vipassana-Meditation», sayfa 4
Teil II: Auf dem Pfad
2.1Die Suche nach der Überwindung des Leids
Es sind keine von Buddha selbst verfassten Schriften bekannt. Was er lehrte, wurde – wie einige Jahrhunderte später auch bei Jesus – mündlich überliefert. Erst im ersten Jahrhundert v. Chr. wurden die Texte im »Tipiṭika« (wörtlich: »drei Körbe«)* verschriftlicht. Im 5. Jahrhundert n. Chr. fertigte der Mönch Buddhaghosa mit der Visuddhi-Magga (wörtlich: »Weg der Reinheit«) die erste systematische Darstellung der Lehren des Theravāda-Buddhismus an, zu dem auch die Vipassana-Tradition gehört.
Im Zentrum des Buddhismus steht die Lehre und weniger die Person des Buddha. Siddharta, nach seiner Erleuchtung »der Buddha«, ist als konkreter Mensch viel weniger präsent als andere Religionsgründer. Auch die überlieferten Texte stellen seine Lehrunterweisungen in den Vordergrund, weniger biografische Details. Die wenigen Stationen seines Lebens, die schriftlich festgehalten sind, sind von Anhängern überliefert. Es handelt sich dabei weniger um historisch verbriefte Gewissheiten als um eine Heiligenlegende.34 Wie jeder Mythos steckt diese Geschichte voller verdichteter Wahrheit: Die Geschichte des Buddha lässt sich lesen als Parabel auf einen spirituellen Weg. Sie erzählt von Motiven und Sehnsüchten, von Irrungen und Wirrungen und von den Fallen, in die spirituell Suchende fast wie vorprogrammiert hineintappen. Es ist eine Heldenreise der anderen Art – eine, deren Endstation kein Happy End im klassischen Sinne ist. Wer dem Buddha folgt, den erwartet kein Himmelreich, kein Paradies, sondern eine Befreiung von anderer, unerwarteter Art.
Forscher gehen davon aus, dass der historische Buddha im Jahr 624 v. Chr. geboren wurde. Sein Beiname »Buddha Shakyamuni« rührt daher, dass er aus dem Geschlecht der Shakyas stammte, im Königreich Kosala im heutigen Nepal gelegen. Die Eltern des späteren Buddha waren König Suddodhana und Königin Maya. Der Legende nach war das Ehepaar zwanzig Jahre lang kinderlos geblieben, als eines Nachts sich eine wundersame Zeugung ereignete: Königin Maya soll bereits vierzig Jahre alt gewesen sein, als sie im Traum einen weißen Elefanten erblickte, der vom Himmel herabstieg und in ihren Schoß eindrang. Die Schwangerschaft verlief leicht – der künftige Buddha begann seine Reise ins Leben nicht etwa als Embryo, sondern als voll entwickeltes Baby, das bereits im Mutterleib seiner Mutter und ihrer Umgebung seine heilenden Kräfte zuteilwerden ließ. Die Geburt des Buddha in spe stand der Zeugung in nichts nach: Er trat so elegant wie unbefleckt durch die rechte Flanke seiner Mutter aus. Auch die Natur ließ sich nicht lumpen und fuhr alles auf, was zu einem indischen Mythos gehört: Himmlische Sphärenmusik erfüllte das All, Bäume begannen zu blühen, die Tiere hörten auf, einander zu fressen, Blinde wurden sehend, Kranke geheilt. Direkt nach der Entbindung soll der Babybuddha sieben Schritte gemacht haben, und wo immer seine Fußsohlen den Boden berührten, wuchsen Lotusblumen aus dem Boden. Ein weiser Mann namens Asita, bekannt für seine Visionen, eilte herbei, um den künftigen Erlöser zu begrüßen. Der Alte nahm das Baby auf den Arm und vergoss Tränen der Trauer, weil er ahnte, dass er selbst nicht lange genug leben würde, um die Lehre dieses großen kleinen Wesens eines Tages zu empfangen. Die überglücklichen Eltern nannten ihren Sohn »Siddharta«: »der sein Ziel erreicht«.
Doch auch der kleine Siddharta, der gefeierte Fürstensohn, bekam schon früh zu spüren, dass im Leben nicht alles glatt geht: Zwei Wochen nach seiner Geburt starb seine Mutter.
König Suddodhana, die Prophezeiung des Asita noch im Ohr, tat alles, um seinen Sohn von der Welt abzuschirmen. Er sollte ein unbeschwertes Leben führen und in Saus und Braus leben, zu einem würdigen und weltlichen Thronfolger heranwachsen. Der Luxus, in dem Siddharta seine Jugend verbrachte, wird ausufernd geschildert: So lebte er in drei prachtvollen Palästen, je einen für die Hitze des Sommers, die Kälte des Winters und den Regen von Frühling und Herbst. Im Alter von 16 Jahren heiratete Siddharta seine Frau Yasodhara. Er wird als überirdisch schöner, sportlicher Jüngling beschrieben, der jeden Wettkampf gewinnt, dem die Herzen der Menschen zufliegen und der alle Frauen bezaubert.
Als Siddharta 29 Jahre alt ist, ereignet sich das, was die Schriften »die vier Ausfahrten« nennen. Nach fast drei Jahrzehnten des Abgeschirmtseins erwacht in unserem Prinzen der Wunsch, die Welt außerhalb der Palastmauern zu sehen. Gegen den Willen seines Vaters bricht er auf, mithilfe eines Wagenlenkers. Bei der ersten Ausfahrt trifft Siddharta auf einen ausgezehrten Greis, bei der zweiten auf einen Kranken und bei der dritten schließlich auf einen Leichnam. Auf die naive Frage des Prinzen, was es damit auf sich habe, antwortet sein Fahrer, dass diese Leiden alle Menschen träfen und dabei keine Ausnahmen machten. Die vierte Ausfahrt führt Siddharta zu einem Bikkhu, einer Art heiligem Bettler nach altindischer Tradition, der Erleuchtung sucht. Diese Begegnung gibt den Ausschlag: Siddharta entschließt sich, das Palastleben hinter sich zu lassen und einen Ausweg aus dem Leiden zu finden. Etwa zur gleichen Zeit bringt seine Frau Yasodhara einen Sohn zu Welt, den sie »Rahula« nennt. Doch nicht einmal die Geburt seines Erstgeborenen kann Siddharta aufhalten. Er bleibt bei seinem Entschluss, so fragwürdig dieser aus heutiger Sicht und vor allem aus feministischer Perspektive auch sein mag.
Eine Woche nach der Geburt seines Sohnes geht Siddharta in die Hauslosigkeit. Er schneidet sich die Haare ab, lässt allen Besitz zurück und bricht ins Ungewisse auf, in ein Leben auf der Straße, Gefahren wie Überfällen durch Menschen oder wilde Tiere schutzlos ausgesetzt und auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Ähnlich wie bei Jesus oder Mohammed ereignet sich diese Wende im mittleren Lebensalter. Siddharta folgt jedoch keiner göttlichen Berufung; da ist keine transzendentale Instanz, die eine Durchsage macht und Gehorsam erfordert. Er folgt einzig seiner Überzeugung, einer unbestechlichen inneren Stimme.
Die wenigsten Menschen finden einfach aus Neugier zur Meditation. Manche Meditierenden berichten von einer Suche nach Sinn, vom Wunsch, verstehen zu wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die einen treffen auf Freunde oder Familienmitglieder, die von einem Vipassana-Kurs erzählen, den sie besucht haben. Andere beginnen mit Achtsamkeitskursen und kommen an den Punkt, wo sie weiterkommen oder es genauer wissen wollen. In den meisten Fällen ist es eine Form von Leidensdruck und der Wunsch, einen Ausweg zu finden aus einer unangenehmen Situation. Ein Verlust, eine andauernde Angst, ein Schmerz, seelisch oder körperlich, treibt die Leidenden dazu, ausprobieren zu wollen, was es mit Meditation auf sich hat. Dukkha, das Leiden, das Siddharta zu lindern sucht, wird erlebt in Form von Dingen, die uns quälen, von Wünschen, die sich nicht erfüllen, von Liebgewonnenem, an dem wir hängen und das wir wieder verlieren, ob wir wollen oder nicht. Dukkha ist überall, allgegenwärtig, unentrinnbar.
Auch S. N. Goenka, der »Erfinder« des heute in aller Welt durchgeführten Zehntageskurs-Formats, auf das wir uns in diesem Buch beziehen, musste erst an grausamer Migräne leiden, bevor er zu Vipassana fand.
Die Suche nach Befreiung – Auswege und Sackgassen
Siddharta, ausgezogen, um das Leiden zu besiegen, sucht zunächst die Nähe berühmter Gurus. Er wird Schüler zweier besonders virtuoser Lehrer,* die ihm die samādhis beibringen. Das sind Übungen, die den Geist beruhigen und schärfen sollen. Ziel ist es, die mit dieser Praxis einhergehenden Stadien der konzentrativen Vertiefungen zu durchlaufen und schließlich Erleuchtung zu finden. Der junge Prinz erweist sich als gelehriger und begabter Schüler, merkt aber bald, dass die Techniken seiner Lehrer ihn auf seiner Suche nicht weiterbringen. In Zuständen der »Raumunendlichkeit« oder »Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung« zu verweilen ist zwar abgefahren und spannend, fühlt sich zwischenzeitlich auch nach Erlösung an – die Erfahrung bleibt jedoch immer flüchtig. Denn auch der großartigste dieser Zustände geht vorbei, sobald die Konzentration nachlässt.
Siddharta beschließt, es mit extremer Askese zu probieren. Asketen, die es in Indien bis heute gibt, sind der Überzeugung, dass höhere Kräfte oder gar Unsterblichkeit erlangt, wer alles Weltliche und die Bedürfnisse des eigenen Körpers überwindet. Sie leben ohne Besitz und ohne Wohnort, ziehen nackt und mit Asche beschmiert durchs Land und leben von Almosen. Sie sind bekannt dafür, ihre Körper bis ins Extrem zu peinigen. Dazu stehen manche jahrelang auf einem Bein, andere halten eine Hand in die Höhe, bis sie verkümmert, oder halten die Zunge herausgestreckt.35 Ziel ist es, in einen konzentrativen Zustand zu kommen, in dem weder Müdigkeit, Unruhe noch Aggression die Versenkung stören.
Siddharta wird also Asket, in Begleitung von fünf anderen Asketenbrüdern zieht er sich ganz aus dem weltlichen Leben zurück. Er meditiert, entsagt wie ein Weltmeister und magert bis auf die Knochen ab; die buddhistische Kunst zeigt ihn in dieser Zeit als skelettartigen Einsiedler. Eines Tages, im siebten Jahr seiner Askese, soll Siddharta, als er nach seinem Bauch tastete, nur noch sein Rückgrat zu fassen bekommen haben. Dieser Moment markiert einen erneuten Wendepunkt: Er begreift, dass die extremen Wege, die er bislang beschritten hat, nicht zur Erleuchtung führen, sondern lediglich zu weiteren Verspannungen des Geistes.
Zeitgleich mit dieser Einsicht kommt ein junges Mädchen des Weges, das dem halb Verhungerten eine Schale Reis anbietet. Siddharta nimmt an, beginnt zu essen, wäscht seinen geplagten Körper im Fluss und schlägt von Stund an den »Mittleren Weg« ein.
Sehen, was ist
Wer zum ersten Mal an einem Zehntageskurs teilnimmt, der mag sich wundern. Es sind weit und breit keine Buddha- oder Guru-Bildchen zu sehen, es gibt keine Mantras, keine Räucherstäbchen, keinen Blumenschmuck, keine Kerzen. Manchen mutet dieses fast klinische Setting zu steril an, andere wiederum schätzen die von jeder Weltanschauung und Spezialeffekten bereinigte Atmosphäre. Es geht dann auch sehr schnell zur Sache.
Der Bestsellerautor Yuval Noah Harari erinnert sich in einem Interview mit India Today an seinen ersten Kurs:
»Die erste Anweisung, die ich erhielt, war: ›Beobachten Sie Ihren Atem.‹ Nicht etwa ›Beobachten Sie Gott‹, oder ›Beobachten Sie Ihre Seele‹. ›Beobachten Sie Ihren Atem, wie er aus den Nasenlöchern aus- und wieder eintritt, und akzeptieren Sie das, was Sie da wahrnehmen.‹«36
In seinem Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert setzt er hinzu: »Das war das Wichtigste, was jemals irgendjemand zu mir gesagt hat.«37
Der Kurs ist so aufgebaut, dass die Meditierenden über einen Zeitraum von drei Tagen ānāpāna üben sollen, Konzentration auf den Atem. Das klingt simpel, ist aber das Gegenteil davon – vergleichbar vielleicht mit der Aufgabe, ohne vorherige Übung über ein gespanntes Seil zu laufen. Mit äußerster Konzentration werden ein, zwei Schritte gelingen, aber die Wahrscheinlichkeit, mehr Zeit auf dem Boden als auf dem Seil zu verbringen ist hoch.
Auch bei Harari, der nicht nur Bestseller schreibt, sondern auch seit Jahren als Assistenzlehrer Vipassana-Retreats anleitet, war das nicht anders. »Was mich erstaunte war, dass ich nicht in der Lage war, das mehr als zehn Sekunden am Stück zu tun«, erinnert er sich.
»Der Geist war sofort auf und davon, mit irgendeiner Geschichte, einer Erinnerung, einer Fantasie beschäftigt. Wenn ich noch nicht mal in der Lage bin, zehn Sekunden lang die Wirklichkeit meines eigenen Atems zu beobachten, wie kann ich dann hoffen, die Wahrheit über das globale politische oder ökonomische System zu verstehen?«
Harari meditiert mittlerweile seit achtzehn Jahren, er verbringt jedes Jahr etwa zwei Monate in Langzeit-Retreats. »Das ist keine Flucht vor der Wirklichkeit«, sagt er, »im Gegenteil: Es ist eine Möglichkeit, wirklich mit der Realität in Berührung zu kommen.«38
Die Kursteilnehmer verbringen von nun an Stunden und Tage auf ihrem Meditationskissen und bemühen sich, den Anweisungen des Lehrers zu folgen. Wer glaubt, dass Vipassana-Meditation auf dem direkten Weg zu Glück und Ekstase führt oder zumindest in wohltuende Entspannung, der stellt schnell fest, dass er oder sie schief gewickelt ist. Still werden, das Gedankenkarussell anhalten, sich auf den eigenen Atem konzentrieren – was von außen so ruhig aussieht, erfordert jede Menge mentale Aktivität.
Wer bereits Meditationserfahrung hat und eventuell gewohnt ist, sich auf ein Mantra oder eine Visualisierung zu konzentrieren, um den Geist zu beruhigen, wird sich wundern: Ohne solche Hilfen ist es sehr viel schwieriger, in die Stille zu finden. Der Grund dafür, die beschwerlichere Route zu wählen, liegt darin, dass Ruhe finden im Vipassana kein Ziel an und für sich ist. Vipassana heißt »sehen, was ist« – und oft ist das erst einmal die Tatsache, dass das Schweigen ganz schön laut ist. Der »Monkey Mind« schwingt sich von Assoziation zu Assoziation und vom Hölzchen aufs Stöckchen; wir fahren Gedankenkarussell, halten wutentbrannte Reden für ein unsichtbares Publikum, erklären unsere Liebe, schreiben stumme To-do-Listen, versuchen eine Antwort darauf zu finden, ob wir daheim den Herd ausgestellt haben. Wo wir friedvolle Zustände erwarten oder auch herbeisehnen, wird oft erst einmal jede Menge Unruhe spürbar. Erinnerungen kommen an die Oberfläche, Gefühle steigen auf, neue Themen und Assoziationen im Schlepptau.
Maja erinnert sich an ihren ersten Zehntageskurs und die Sorge, dieser existenziellen Unruhe nun pausenlos ausgesetzt zu sein: »Ich hatte wirklich Angst, dass ich das nicht aushalte. Zehn Tage in diesem Orkan, das schien mir unfassbar lang. Ich dachte: Das schaffe ich niemals, ich kann ja noch nicht mal eine Viertelstunde stillsitzen.«
In der Didaktik von S. N. Goenka dienen die drei Tage ānāpāna dazu, gerade so viel Konzentration aufzubauen, dass der Geist ausreichend für die eigentliche Vipassana-Technik gerüstet ist. Sie wird am vierten Tag eingeführt. Das heißt aber nicht, dass ānāpāna nur eine Etüde ist. Der Atem ist ein sehr machtvolles Instrument, das viele Vorteile bietet. Zum einen ist er immer verfügbar, wo wir gehen und stehen. Er macht die Meditierenden autonom. Der berühmte Satz »I forgot my Mantra« aus dem Woody-Allen-Film »Annie Hall«* kann als Kürzel für eine Abhängigkeit verstanden werden, die Vipassana gar nicht erst aufbauen will. Es geht nicht darum, einem Guru zu folgen, sondern darum zu untersuchen, wie unsere körperlichen und geistigen Strukturen funktionieren und interagieren, und dem Mechanismus auf die Spur zu kommen, der uns leiden lässt. Deshalb wird bei Vipassana – anders als etwa in den Pranayama-Übungen des Yoga – der Atem nicht bewusst verändert. Im Gegenteil: Es wird die Anweisung gegeben, den Atem so zu beobachten, wie er ist. Auf diese Weise wird das Ein- und Ausatmen zum Forschungsobjekt, und zwar zu einem, das anfängertauglich ist. Auch ein ungeübter Geist kann den Atem beobachten. Vielleicht ist man sich zu Beginn nur der Tatsache bewusst, ob man gerade ein- oder ausatmet. Je stärker die Konzentration wird, desto feiner wird die Beobachtungsgabe und desto mehr Details werden Meditierende beobachten können: Wärme, Kälte, Rhythmus, Heftigkeit und andere. Goenka fordert die Meditationsschüler gleich am ersten Tag und dann immer und immer wieder auf, sich mit Neugier und Forschergeist auf den Weg zu machen und den Atem »als ein Werkzeug zu nutzen, mit dem man die Wahrheit über sich selbst erforschen kann«.39
Wer die ersten, oft frustrierenden Stunden und Tage hinter sich gebracht hat, merkt schnell, dass Fokus und Aufmerksamkeit wie Muskeln trainiert werden können. In einem Retreat-Setting kommen die Fortschritte schnell. Früher oder später wird es jedem möglich sein, sich zumindest zeitweise wirklich auf den Atem zu konzentrieren und den Geist von allen anderen Inhalten zu leeren. Die Glücksgefühle, die sich dabei einstellen, sind ein erstes Stadium von tieferem samādhi, dem Zustand, den die Schriften »Versenkung« oder »Sammlung« nennen. Mehr dazu in Kapitel 3.1.
Während die Beobachtung präziser wird, stellt sich oft auch bereits eine Art Metabewusstsein ein. Das Bewusstsein registriert, was es selbst tut. Es tritt eine Instanz in Erscheinung, die bemerkt, in welche Aktivitäten der Geist sich verstrickt. Dieser Moment kommt unauffällig daher, steckt aber voller Potenzial. Zum ersten Mal die Erfahrung zu machen, dass das eigene Bewusstsein wahrgenommen und sogar gesteuert werden kann, bedeutet einen Meilenstein in der Beziehung des Meditierenden zu sich selbst. Wenn ich bemerke, was ich gerade denke oder fühle, dann kann ich mich auch selbst zurückrufen; zum Beispiel zur Beobachtung des Atems, oder wozu auch immer ich meinen Geist nutzen will. Wenn das gelingt, sitze ich am Steuer. Wenn nicht, werde ich zum Entführungsopfer. Mein Geist bestimmt dann selbst, wohin er wandert, und er nimmt mich mit. Mal verführerisch, mal gewalttätig – aber in jedem Fall übernimmt er das Ruder.
Alles fließt – von anicca und anattā
Vipassana bedeutet »sehen, was ist«, oder auch »Einsicht«. Gemeint ist damit die Einsicht in die drei Merkmale allen Daseins, wie der Buddha sie erläutert.
Da ist zunächst anicca (sprich: Anitscha), das Prinzip der Veränderlichkeit. Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen, alles was wir denken, ist vergänglich. Ein jedes Ding ist in einem kontinuierlich ablaufenden Prozess des Entstehens und Vergehens begriffen. Goenka verweist darauf, dass »die Geschwindigkeit und die Kontinuität dieses Prozesses die Illusion von Beständigkeit« erzeugt40 und vergleicht diese mit den Prozessen, die in der Flamme einer Kerze oder einer elektrischen Glühbirne ablaufen: Obwohl das Gehirn um die Veränderung weiß, nimmt das Auge eine konstante Lichtquelle wahr. Schon während der Ānāpāna-Phase, in der Beobachtung des Atems, wird anicca erfahrbar, später mit der Vipassana-Technik noch umfassender. Dass niemand zweimal in denselben dahinströmenden Fluss steigt, das scheint eine leicht zu verstehende Wahrheit zu sein. »Aber wie soll man verstehen, dass der Mensch, der in diesem Fluss badet, sich ebenfalls in jedem Augenblick verändert?«41
Wer präzise und mit voller Konzentration seinen eigenen Körper beobachtet, der wird feststellen: Auch wir selbst sind in permanenter Veränderung begriffen, auch der eigene Körper ist letztlich ein vibrierendes Feld in andauerndem Wandel. Dies wirklich zu begreifen ist etwas anderes, als über Atome und Elektronen und den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik Bescheid zu wissen. Vipassana scheint gerade für Menschen mit einer Affinität zu den Naturwissenschaften attraktiv zu sein, die Weltbilder passen gut zusammen. Je bewusster man sich selbst wahrnimmt, desto offensichtlicher wird, dass nichts auch nur von einem Moment zum nächsten Bestand hat. Wer sich diesem Phänomen der unablässigen Veränderung wirklich aufmerksam widmet, der bekommt eine Ahnung davon, wie unser Universum funktioniert.
Zunächst richten Meditierende jedoch ihre Aufmerksamkeit auf den Teil des Universums, der vor ihnen liegt, auf das, was sich in ihrem eigenen Geist und Körper abspielt. Durch genaues und kontinuierliches Beobachten der Prozesse im eigenen Körper wird ein weiteres grundlegendes Prinzip erfahrbar: anattā. Der Pali-Begriff attā – auf Sanskrit: Atman – bezeichnet eine Seelenessenz, ein von allem anderen unabhängig bestehendes, ewiges Selbst. »An-attā«, die Verneinung, drückt die Einsicht aus, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn – gemäß der Einsicht von anicca, der Vergänglichkeit, – nichts von dem, was wir in unserer geistigen und körperlichen Struktur wahrnehmen, länger als einen Augenblick Bestand hat, dann gibt es kein unwandelbares, unabhängig bestehendes Selbst und auch keine unsterbliche Seele. Es gibt keine unveränderliche Substanz oder Identität und in letzter Konsequenz daraus auch kein Ich. Anattā wird daher auch »Nicht-Ich« genannt. Denn alles verdankt sich, wie wir in Kapitel 2.4 noch ausführlicher sehen werden, einem komplexen Bedingungsgeflecht von Ursachen und Wirkungen. Noch nicht einmal der eigene Körper ist dann mein Körper – »mein« im Sinne von etwas, worüber ich verfügen kann, worüber ich Macht habe. Es fällt schwer, Goenka zu widersprechen, wenn er argumentiert:
»Die Wahrheit ist, dass wir noch nicht einmal Macht über unseren eigenen Körper haben. Er verändert sich ohne Unterlass und verfällt immer weiter, ohne auf unsere Wünsche Rücksicht zu nehmen.«42
Durch einen derart radikalen Perspektivwechsel löst sich alles auf, was uns als Basis unseres Denkens und Sprechen selbstverständlich ist. Substanz und Akzidens, das Wesentliche und die Eigenschaften, die es bestimmen, die Grundfesten der altgriechischen Weltordnung, sind dann hinfällig. Subjekt und Objekt fallen ineinander und sind nicht mehr zu trennen. Das ist kein buddhistisches Geheimwissen oder esoterischer Firlefanz. Humberto Maturana und Francisco Varela, die Pioniere des neurophysiologischen Konstruktivismus, haben diese Prozesshaftigkeit allen Seins auf die Formel gebracht: »Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.«43 Soll heißen: Durch unsere jeweils besondere Praxis erschaffen wir die Gegenstände unseres Erkennens, die uns dann so wirklich erscheinen, dass wir daraufhin agieren und handeln – ein rekursiver Prozess, der sich, wie die beiden Schlangen in Michael Endes Unendlicher Geschichte, in den Schwanz beißt. Damit legten die beiden Biologen die Grundlage für die Systemtheorie. Auch der Quantenphysik ist diese Form des Denkens vertraut.44 Diese erkenntnistheoretische Grundhaltung mag die Prozesshaftigkeit allen Lebens besser abbilden als der klassische Essentialismus – aber sie ist sperrig. Und nicht nur das: Sie ist brutal. Alles ist in Auflösung begriffen, es gibt keine Sicherheit. Und mich selbst gibt es auch nicht!?*
Paradoxerweise berichten Meditierende davon, dass inmitten in all dieser Veränderlichkeit, im Vibrieren, Strömen und Brausen des Werdens und Vergehens etwas fühlbar wird, das Ruhe gibt und Sicherheit. Meditierende erleben zunächst, dass es in ihnen eine Instanz gibt, die all dies beobachten kann. Diese Instanz scheint unerschütterlich, immer da, sobald sie sich ihrer selbst bewusst ist. »Das ist wie im Auge des Sturms zu sitzen«, sagt Maja zu diesem Phänomen, »das war ein ganz irrer Moment für mich: zu begreifen, dass das Einzige, was sicher ist im Leben, die Veränderung ist. In diesem Moment war das nicht beängstigend, sondern beglückend, dass es möglich ist, in diesem permanenten Wandel eine Art Geborgenheit zu finden.«
Wenn man es schafft, den Fokus auf diesen Beobachter zu richten, ist ein wesentlicher Schritt geschafft. Später wird es dann wichtig zu verstehen, dass auch dieser bedingt, also gemacht ist, und damit der Gesetzmäßigkeit von anicca unterliegt. Die Meditationslehrerin Petra fasst das so zusammen: »Anicca zu verstehen, dass alles sich ständig wandelt, das ist schon nicht so einfach. Wenn man sich da mal so richtig reingearbeitet hat, dann wird es aber zu etwas, was man für sich nutzen kann. Dann ist das mehr als eine Beschreibung des permanenten Wandels, dann merkt man, dass dieser Wandel System hat, und dass man damit arbeiten kann.«
Damit das möglich wird, braucht es samādhi, Versenkung und rechte Konzentration. Je mehr Meditierende sich daran gewöhnen, einen konzentrierten Zustand zu halten, desto entspannter und müheloser kann dieser werden. Das Gewahrsam für das, was in Körper und Geist passiert, gleicht dann eher einem Raum, den der Praktizierende hält und mit seiner Aufmerksamkeit ausleuchtet. Mit ānāpāna lässt sich dieser Zustand für die meisten Meditierenden schon in den ersten Tagen für kurze Zeit erreichen. Fabio beschreibt das so: »Das ist der Punkt, an dem ich den Geist nicht mehr zwingen muss, ihn nicht immer wieder zurückpfeifen, er bleibt dann schon von alleine da. Es ist dann eher so, dass es nicht mehr aufhört.«
Anfänger werden sich wundern, für Meditierende, die schon länger dabei sind, ist es normal, was Fabio weiter beschreibt: »Wenn Momente von vertiefter Konzentration länger dauern, also zehn oder fünfzehn Minuten, oder auch mal ein paar Stunden, folgt oft eine Art Gegeneffekt. Dann kommt emotional ganz viel hoch. Wie wenn man in der Wohnung gewirbelt hat, um sauberzumachen, und dann ist ganz viel Staub in der Luft. Wie ein Gegenschlag kommt dann auf einmal ganz viel Un-Konzentration.« Dieses Phänomen von Bewegung und Gegenbewegung des Geistes ist ganz normal, wer die Prozesse seines Bewusstseins aufmerksam beobachtet und verfolgt, wird es immer wieder an sich selbst beobachten können – auf unterschiedlichen Ebenen und auf vielfältige Weise.
Anattā – Nicht-Selbst – erstreckt sich bei genauerem Hinsehen und aufmerksamer Praxis auf alles, auch auf die soeben erst entdeckte Beobachterinstanz. Nicht einmal auf sie ist Verlass. Der eigene Fokus, die Qualität der Aufmerksamkeit, wandelt sich permanent, auch hier gibt es keine wie auch immer geartete Beständigkeit. Selbst ein trainierter Geist hat Momente, in denen er abschweift, unaufmerksam ist, darüber nachsinnt, was es wohl zu Mittag geben wird. Auch der Beobachter ist fluide und von Bedingungen abhängig. Ein hungriges Körper-Geist-System beobachtet sich selbst völlig anders als ein gesättigtes, ein müdes anders als ein waches, und so weiter. Ein fester Grund kann eine beobachtende Haltung werden, die sich dessen bewusst ist. Auch sie ist kein »etwas«, das von nun an immer da und verfügbar wäre, sondern eher ein aktives Gewahrwerden, eine Möglichkeit, die sich auftut, die trainiert und kontinuierlich neu ergriffen sein will.
Anattā wird dann zu einer Chance, die wir nutzen können: In der Möglichkeit, den Augenblick in seiner Vergänglichkeit und damit auch in seiner Präsenz zu erfassen, liegt auch die Chance, wirklich gegenwärtig zu denken und zu handeln. Es sind dann nicht mehr altbekannte Gedankenschleifen, Dialoge und Reflexe, die unsere nächsten Gedanken und Taten bestimmen. Es tut sich die Möglichkeit auf, in dieser Welt zu leben, ohne uns von alten Konditionierungen – von »Reaktivität«, wie die Buddhisten sagen – bestimmen zu lassen.
In Reaktivität steckt dukkha, das Leiden, aus dem Siddharta einen Ausweg suchte. Stephen Batchelor betont, wie sehr wir Menschen von Angst gesteuert sind, er sieht darin den eigentlichen Grund für unsere Reaktivität; es gehöre zur menschlichen Natur, hochgradig ängstlich zu sein. Tatsächlich ist Angst ein Überlebensmechanismus, der hilft, Art und Individuum zu erhalten. Der Leerheit und Veränderlichkeit der Dinge gewahr zu werden, bringt uns in die Lage, weit mehr wahrnehmen zu können als das, was unsere Neurobiologie vorgibt. Wir kommen dann in Kontakt mit einem viel weiteren Panorama an Eindrücken und Sinneserfahrungen.45 Tatsächlich hilft Vipassana gegen Angst, das merken Meditierende sehr schnell.
Aus der Lehrrede des Buddha zur Leerheit46 – ein anderer Ausdruck für anattā – zieht Stephen Batchelor folgenden Schluss:
»In Leerheit zu weilen bedeutet nicht, dass man nicht mehr leiden wird. Solange jemand Körper und Sinne hat, wird er oder sie empfänglich sein für die Angst, die davon herrührt, eine bewusste, fühlende Kreatur aus Fleisch, Knochen und Blut zu sein.«47
Das dürfte für den Buddha genauso wahr gewesen sein wie für uns heute. Ein interessantes Detail: Batchelor hatte, als er noch tibetischer Mönch war, an einem Vipassana-Kurs von Goenka teilgenommen. Im Nachhinein betrachtet er dies als eine wichtige Weichenstellung in seinem Leben und für sein Verständnis der buddhistischen Praxis.48 Er macht darauf aufmerksam, dass der Erwachte uns nicht anweist, das Konzept der Leerheit intellektuell zu verstehen, sondern in Leerheit zu weilen.
»In Leerheit zu weilen bringt uns auf den Boden der Tatsachen zurück und zurück zu unserer Körperlichkeit. Es ist ein Weg, der uns befähigt, unsere Augen zu öffnen und gewöhnliche Dinge wahrzunehmen, als wäre es das erste Mal.«49
Dieser letzte Satz ist wichtig, denn er enthält ein Versprechen. Durch die Einsicht in die Leerheit fällt nicht nur etwas weg, es tritt auch etwas grundlegend Neues in unser Leben: Wenn Antrainiertes, vielfach Erprobtes entfällt, wenn wir wirklich gegenwärtig da und mit dem Augenblick präsent sind, dann schauen wir wie durch frisch geputzte Fenster in die Welt. Jede Situation ist dann frisch und kostbar, es liegt ein Glanz auf den Dingen, wie wir es aus unserer Kindheit erinnern, als die ganz gewöhnlichen Dinge noch neu und aufregend waren. Die Wiederverzauberung der Welt kann beginnen.
Buddha sagt zu seinem Schüler Bāhiya:
»Im Gesehenen wird nur das Gesehene sein,
im Gehörten nur das Gehörte;
im Gefühlten nur das Gefühlte,
in dem, dessen ich mir bewusst bin, nur das,
dessen ich mir bewusst bin.«50
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.