Kitabı oku: «DER REGENMANN», sayfa 5
Also legte sie ihre Hand wieder auf die Klinke. Sie leerte ihren Verstand, um keine weiteren Schreckensszenarien heraufzubeschwören, die in diesem Augenblick wenig hilfreich wären. Dann öffnete sie kurzentschlossen die Tür.
Innerlich hatte sich Anja auf alles vorbereitet, doch was sie vorfand, war nur ein leeres Zimmer, das sich in einem einzigen Detail von dem Zustand unterschied, in dem sie es zuvor verlassen hatte: Die Terrassentür stand nämlich weit offen.
Anja stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, und ging zur Terrassentür. Sie warf einen kurzen Blick nach draußen, konnte aber niemanden entdecken. Erneut hatte sie das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Da sie sich im hell erleuchteten Wohnzimmer wie auf dem Präsentierteller vorkam, kehrte sie eilig in den Flur zurück.
Auf dem Weg zur Eingangstür kam sie an einem mannshohen Garderobenspiegel vorbei. Beiläufig warf sie einen Blick hinein. Doch was ihre Aufmerksamkeit erregte, war nicht ihr eigenes Spiegelbild, sondern das Foto, das in Augenhöhe auf der Spiegelfläche klebte.
Anja blieb abrupt stehen. Sie erschauderte erneut, und ihre Nackenhärchen stellten sich auf. Automatisch sah sie sich um, doch außer ihr war noch immer niemand im Flur. Sie richtete ihren Blick wieder auf das Foto am Spiegel und ging dann langsam näher heran, als widerstrebte es ihr, sich ihm zu nähern.
Je mehr die Distanz zwischen ihr und dem Foto schrumpfte, desto mehr Einzelheiten konnte sie erkennen. Dabei hatte sie bereits beim ersten Blick gewusst, um was es sich handelte und was sie darauf sehen würde.
Es handelte sich um die Aufnahme einer Polaroid-Sofortbildkamera. Anja hatte ein ähnliches Foto, das sich kaum von diesem hier unterschied, bei sich zu Hause. Der Widersacher hatte es für sie am Grab ihres Vaters auf dem Waldfriedhof hinterlegt, in einem ähnlichen Umschlag wie dem, den sie heute auf ihrer Türmatte gefunden hatte.
Auch auf der Aufnahme am Spiegel war das Gesicht ihres Vaters zu sehen. Er hatte eine Schlinge um den Hals und blickte voller Angst und Panik in die Kamera. Es musste wenige Minuten, wenn nicht sogar Augenblicke vor seinem Tod aufgenommen worden sein.
Da Anja das erste Polaroidfoto bereits so oft angesehen hatte, dass sie es in- und auswendig kannte, bemerkte sie sofort die Unterschiede, auch wenn diese nur geringfügig waren, da die Aufnahmen rasch hintereinander erfolgt sein mussten. Auf dem Foto am Spiegel hatte ihr Vater den Kopf ein wenig mehr nach links geneigt. Außerdem stand sein Mund offen, als hätte er etwas gesagt, seinen Mörder womöglich um Gnade angefleht.
Anja, die nur noch wenige Zentimeter von dem Foto trennten, blieb stehen. Bei dem furchtbaren Anblick ihres Vaters unmittelbar vor seinem Tod traten ihr Tränen in die Augen. Für einen Moment schloss sie die Augen, worauf die Tränen über ihre Wangen liefen. Sie hob die Hand und wischte sie mit dem Ärmel weg.
Doch dann rief sie sich wieder in Erinnerung, dass sie sich an einem potenziellen Tatort befand, was ihr dabei half, sich zusammenzureißen. Sie öffnete die Augen, atmete einmal tief durch und richtete den Blick wieder auf das Foto.
Immerhin hatte sie jetzt die absolute Gewissheit, dass ihr alter Widersacher hinter der Nachricht vor ihrer Tür steckte und bei dieser Sache seine dreckigen Finger im Spiel hatte.
Anja griff nach dem Foto, das mit einem Klebestreifen auf der Spiegeloberfläche befestigt war, und riss es ab. Sie drehte sich um und besah sich die Rückseite, doch dort standen im Gegensatz zum ersten Foto, das sie bekommen hatte, keine Worte. Ohne die Vorderseite noch einmal anzusehen, steckte sie es in die Innentasche ihrer Jacke. Ihr war bewusst, dass sie damit ein Beweisstück von einem Tatort entfernte. Doch ihr Entschluss, den zuständigen Ermittlern nichts von Jack zu erzählen, stand längst fest. Ihrer Meinung nach hatte er die Frau, sofern sie erwiesenermaßen tot war, ohnehin nicht eigenhändig umgebracht. Sollten sich die Kollegen daher ruhig auf die Suche nach dem wahren Täter machen, während sie weiterhin nach dem Mörder ihres Vaters suchte, der es wie immer vorzog, im Hintergrund die Fäden zu spinnen und im Verborgenen zu bleiben.
Allerdings war es gut möglich, dass er bis soeben noch hier gewesen war. Höchstwahrscheinlich hatte er die Polaroidaufnahme an den Spiegel geklebt, als Anja oben im Badezimmer gewesen war, und war erst dann verschwunden.
Erneut überlief sie ein eiskalter Schauder, als sie daran dachte, wie nah sie ihm unter Umständen gewesen war. Und doch war er ihr wie ein glitschiger Fisch ein weiteres Mal durch die Finger geflutscht.
Anja seufzte, bevor sie sich schließlich abwandte und ihren Weg zur Haustür fortsetzte. Sie zog die Überzieher von den Schuhen, bevor sie das Haus verließ und nach draußen in den Vorgarten trat. Dort holte sie ihr Handy heraus und überlegte, wen sie anrufen sollte.
Am liebsten hätte sie Kriminalhauptkommissar Peter Englmair von der Mordkommission informiert. Sie hatte bereits mehrere Male mit ihm zusammengearbeitet, und obwohl sie seinen Partner, Kriminaloberkommissar Anton Krieger nicht besonders leiden konnte, schätzte sie Englmair dafür umso mehr. Allerdings hatten die Mordermittler längst Feierabend und wären wahrscheinlich alles andere als erfreut, wenn Anja sie jetzt störte. Außerdem war es noch gar nicht erwiesen, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Mord handelte. Und selbst wenn es so war, wurde der Fall möglicherweise nicht Englmair und Krieger, sondern einem anderen Ermittlerteam übertragen.
Aus diesen Gründen beschritt Anja den offiziellen Weg und rief in der Einsatzzentrale in der Ettstraße an. Sie erklärte dem Beamten am anderen Ende der Leitung in knappen Worten, worum es ging, und bat ihn dann, ein Team des Kriminaldauerdienstes vorbeizuschicken.
Sobald sie das Gespräch beendet und ihr Handy wieder weggesteckt hatte, sah sie sich um. Doch es war noch immer niemand zu sehen, weder auf der Straße noch in einem der Fenster der Nachbarhäuser. Abgesehen von den Straßenlaternen und den Lichtern in den Fenstern wirkte die Straße wie ausgestorben. Wenigstens hatte es inzwischen vollständig zu regnen aufgehört. Die Wolkendecke war aufgerissen, und durch den Riss, der an eine offene Wunde erinnerte, waren Sterne und der sichelförmige Mond zu sehen.
Immerhin hatte Anja nicht das Gefühl, dass sie momentan beobachtet wurde. Dennoch kam sie sich hier vor dem Haus im Licht der Lampe über der Tür wie bereits im Wohnzimmer so vor, als säße sie auf dem Präsentierteller. Sie fröstelte unwillkürlich, allerdings nicht vor Kälte, und hob die Schultern. Dann zog sie sich hinter einen dichten, übermannshohen Strauch zurück, wo sie von der Straße und den benachbarten Häusern nicht sofort gesehen wurde, selbst aber alles beobachten konnte. Dort wartete sie ungeduldig auf die Kollegen vom Kriminaldauerdienst und knabberte an ihrer Unterlippe.
12
Es dauerte fünfzehn Minuten, die Anja mindestens doppelt so lang vorkamen, bis endlich drei Fahrzeuge am Ende der Straße um die Kurve kamen und langsam in ihre Richtung fuhren.
Es handelte sich ausschließlich um Zivilfahrzeuge, die ohne Blaulicht unterwegs waren, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Der erste Wagen war ein schwarzer BMW. Im Licht der Straßenlaternen sah Anja, dass zwei Personen darin saßen, ein Mann und eine Frau. Sie vermutete, dass es sich dabei um das Team des Kriminaldauerdienstes handelte. Dahinter kam ein Einsatzfahrzeug der Kriminaltechnik, ein dunkelgrauer Kleintransporter mit zwei Männern auf den Vordersitzen. Das Ende des Konvois bildete ein dunkelblauer Audi, in dem ebenfalls ein Mann und eine Frau saßen, die vermutlich ebenfalls Kriminaltechniker waren.
Als die Fahrzeugkolonne unmittelbar vor dem Haus am Straßenrand zum Stillstand kam, trat Anja hinter dem Strauch hervor und schob die Kapuze vom Kopf. Sofort ging die automatische Beleuchtung über der Eingangstür wieder an und tauchte sie in helles Licht.
Fahrzeugtüren wurden geöffnet, als alle Neuankömmlinge nahezu gleichzeitig ausstiegen. Die Insassen des Transporters und des Audi versammelten sich vor der offenen Seitentür des Einsatzfahrzeuges der Kriminaltechnik. Sie schlüpften in weiße Tatort-Schutzanzüge und suchten dann ihre Ausrüstung zusammen.
Die Frau und der Mann aus dem BMW hingegen betraten sofort das Grundstück und kamen auf Anja zu. Während sie näherkamen, hatte Anja Gelegenheit, sie unauffällig zu mustern.
Sie kannte die beiden nicht. Doch da bei der Münchner Polizei über 6.000 Leute arbeiteten, war das nicht ungewöhnlich. Außerdem war der Kriminaldauerdienst mit seinen 98 Mitarbeitern das größte Kriminalkommissariat in der Landeshauptstadt.
Die Frau war schlank und auffallend groß; Anja schätzte sie auf mindestens ein Meter neunzig. Ihr schulterlanges, karamellfarbenes Haar war in der Mitte gescheitelt. Sie hatte ein langes, schmales Gesicht mit kantigen Zügen und trug eine Brille aus bronzefarbenem Kunststoff mit rechteckigen Gläsern. Intelligente türkisfarbene Augen sahen Anja durch die Brillengläser hindurch abschätzend an. Sie trug knöchelhohe braune Schnürboots, dunkelblaue Jeans, ein weißes Shirt mit Knopfleiste und eine cognacfarbene Jacke aus Nappaleder mit Stehkragen. Anja mutmaßte, dass die Frau allenfalls zwei oder drei Jahre älter als sie selbst war.
Der Mann, der neben ihr ging, war mindestens fünf Jahre jünger als seine Kollegin, eine Handbreit kleiner und ebenfalls schlank. Er hatte kurzgeschnittenes rotbraunes Haar, einen Vollbart und blassgrüne Augen. Sein Gesicht erinnerte Anja ein bisschen an den irischen Schauspieler Michael Fassbender. Er trug dunkelblaue Sneaker und eine anthrazitfarbene Cargohose, dazu ein hellgraues Sweatshirt und ein schwarzes Baumwollsakko.
Der Mann lächelte breit, als sie Anja erreichten, während die Frau finster dreinblickte. Anja hatte unwillkürlich das Gefühl, die beiden wollten von Anfang an »Guter Cop, böser Cop« mit ihr spielen, allerdings mit vertauschten Rollen.
»Sie müssen die Kollegin von der Vermisstenstelle sein«, ergriff die Frau das Wort und machte damit sofort deutlich, wer von den beiden das Sagen hatte. Gleichzeitig stieß sie ihre rechte Hand in Anjas Richtung, als wollte sie diese damit durchbohren. »Ich bin Melissa Schubert vom KDD. Und das ist mein Kollege Andreas Plattner.«
Anja ergriff die dargebotene Hand und nannte ihren Namen. Die andere Frau hatte einen kräftigen Händedruck, doch Anja ließ sich davon nicht einschüchtern und erwiderte den Druck. Sie schenkte Melissa Schubert ein freundliches Lächeln, das allerdings nicht erwidert wurde. Dafür war Andreas Krämers Miene umso herzlicher, als sie sich die Hände schüttelten, als wollte er die Ernsthaftigkeit seiner Kollegin mit übertriebener Freundlichkeit ausgleichen.
»Was haben wir hier?«, kam die Ermittlerin des KDD anschließend ohne Umschweife zur Sache und sah Anja mit nachdenklich gerunzelter Stirn und finsterem Gesichtsausdruck fragend an.
Anja setzte die beiden in wenigen Worten über die Art und den Inhalt der Nachricht in Kenntnis, die sie nach dem Klopfen an ihrer Tür auf der Fußmatte gefunden hatte. Dann berichtete sie stichpunktartig, wie sie hierhergekommen war, um die Angelegenheit zu überprüfen, dabei die Terrassentür unverschlossen vorgefunden und das Haus betreten hatte. Zum Schluss kam sie auf das zu sprechen, was sie im Badezimmer entdeckt hatte. Von dem Geräusch der sich schließenden Tür und dem Polaroidfoto am Spiegel erzählte sie allerdings nichts.
Kurz bevor sie ihren Bericht beendete, gesellten sich die vier weißgekleideten Kriminaltechniker zu ihnen, die Anja zwar nicht namentlich, aber wenigstens vom Sehen bekannt waren. Alle trugen einen Mundschutz und große Koffer mit ihrer Ausrüstung in den behandschuhten Händen. Anja nickte ihnen zur Begrüßung zu.
Melissa Schubert wandte sich an den Leiter des Teams, einen älteren, leicht übergewichtigen Mann. »Wir wissen zwar noch nicht, ob es sich hier tatsächlich um den Tatort eines Gewaltverbrechens handelt, können es aber momentan auch nicht komplett ausschließen«, erklärte sie ihm. »Der mögliche Tatort befindet sich im ersten Stock. Es handelt sich um das Badezimmer. Ein paar sichtbare Blutspritzer befinden sich am Spiegel. Außerdem hängt ein durchlöcherter und blutiger Bademantel am Haken. Der etwaige Täter ist vermutlich während des Regens durch die Terrassentür gewaltsam ins Haus eingedrungen und direkt zum Tatort gegangen. Dabei hat er im Haus deutlich sichtbare Fuß- und Tropfspuren hinterlassen. Die Leiche wurde entfernt und der Tatort gründlich gereinigt. Unter Umständen befindet sich der Leichnam allerdings noch im Haus. Außerdem scheint es eine Katze zu geben.«
Der Teamleiter der Kriminaltechniker nickte. Er benötigte keine weiteren Anweisungen, sondern wusste selbst am besten, was er und sein Team in einem solchen Fall zu tun hatten. Ohne ein Wort zu verlieren, setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Sie wirkten dabei in ihren partikeldichten Overalls mit den über den Kopf gezogenen Kapuzen wie eine Horde Gespenster. Vor der Tür blieben sie stehen. Dann zog sich einer nach dem anderen Überschuhe an, um keine Verunreinigungen an einen potenziellen Tatort zu tragen, bevor er das Haus betrat.
Sobald die Kriminaltechniker außer Sicht waren, wandte sich Melissa Schubert wieder an Anja. »Haben Sie die Nachricht, von der Sie gesprochen haben, bei sich?«
Anja schüttelte den Kopf. »Sie steckt in einer Klarsichthülle bei mir zu Hause. Ich wollte sie nicht mitnehmen, sondern erst einmal selbst nach dem Rechten sehen, bevor ich die Pferde völlig grundlos scheu mache. Und nachdem ich in der Einsatzzentrale angerufen hatte, konnte ich nicht nach Hause gehen und sie holen, weil ich den Tatort nicht unbeaufsichtigt lassen wollte. Aber ich kann sie jederzeit holen, wenn Sie wollen.« Anja merkte, dass sie sich unwillkürlich rechtfertigte, und ärgerte sich darüber. Sie ließ sich von ihrem Ärger aber nichts anmerken.
»Das können Sie später erledigen, wenn mein Kollege und ich uns den Tatort ansehen, sobald die Kriminaltechniker uns grünes Licht geben.«
Anja nickte und sah Plattner an, der noch keinen einzigen Ton von sich gegeben hatte. Er grinste, als fände er die Situation unglaublich witzig.
»Warum haben Sie nicht gleich die Einsatzzentrale informiert, sobald sie die aufgehebelte Terrassentür bemerkt hatten, und stattdessen das Haus betreten?«, fragte Melissa Schubert. »Ich hoffe bloß, Sie haben dabei keine Spuren verfälscht, Kollegin Spangenberg.«
»Keine Angst, Kollegin Schubert«, entgegnete Anja und bemühte sich, dabei nicht allzu bissig zu klingen. »Ich bin zwar nur von der Vermisstenstelle, aber trotzdem nicht zum ersten Mal an einem Tatort. Ich habe gut aufgepasst. Außerdem hatte ich Handschuhe und Überschuhe dabei.« Zum Beweis ihrer Worte zog sie die Überzieher aus der Tasche ihres Kapuzenpullis.
Melissa Schubert schien das nicht zu besänftigen. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Anja seufzte. Sie spürte, dass sie allmählich wütend wurde. Die Ermittlerin des KDD behandelte sie weniger wie eine Kollegin, sondern eher wie eine Verdächtige. Allerdings würde es nichts bringen, wenn sie ihre Wut offen zeigte und sich unkooperativ verhielt. Schließlich zogen sie im Grunde genommen alle an einem Strang. Außerdem konnte sie sogar nachvollziehen, dass die andere Frau misstrauisch war. Sie kannte Anja nicht, und die Umstände, die Anja hierher und zur Entdeckung eines möglichen Mordes geführt hatten, waren zumindest merkwürdig, wenn nicht sogar verdächtig. Deshalb unterdrückte sie ihren aufflammenden Zorn, auch wenn es ihr schwerfiel, und bemühte sich, gelassen zu bleiben.
»Ich wusste nicht, ob das Ganze nicht doch nur ein makabrer Scherz war«, sagte sie. »Deshalb hegte ich die Befürchtung, es könnte sich als falscher Alarm herausstellen, wenn ich in der Einsatzzentrale anrufe, bevor ich das Haus überprüft habe. Schließlich wollte ich mich vor den Kollegen nicht lächerlich machen.«
Melissa Schubert nickte, als leuchteten ihr diese Beweggründe ein oder als hätte sie sogar Verständnis dafür.
»Haben Sie eine Vorstellung, wer Ihnen die Nachricht geschickt haben könnte? Und aus welchem Grund sie ausgerechnet auf Ihrer Fußmatte lag?«
Anja zuckte mit den Schultern. »Das habe ich mich auch gefragt.« Sie dachte kurz nach. Von ihrem begründeten Verdacht, dass der Umschlag von derselben Person stammte, die ihr schon früher Nachrichten geschickt und ihren Vater ermordet hatte, konnte und wollte sie den beiden Kollegen vom KDD nichts erzählen. Deshalb nannte sie eine weitere Möglichkeit, die sie sich während der Wartezeit überlegt hatte. Sie klang plausibel und war darüber hinaus viel leichter zu glauben. »Unter Umständen liegt es daran, dass ich hier in der Nähe wohne und bei der Vermisstenstelle arbeite. Der Absender könnte das gewusst haben und ließ mir die Nachricht deshalb zukommen. Schließlich steht über dem Foto der Frau mit der Katze das Wort ›VERMISST!‹. Es handelt sich also allem Anschein nach um eine Art anonyme Vermisstenanzeige, ohne dass der Anzeigenerstatter den offiziellen Weg beschreiten und persönlich in Erscheinung treten musste. Vielleicht hat er gute Gründe, weswegen er inkognito bleiben will.«
»Möglicherweise handelt es sich um den Liebhaber der Frau, die hier wohnt«, spann Plattner den Gedanken weiter. Er hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. »Und weil er verheiratet ist, will er nicht in polizeiliche Ermittlungen hineingezogen werden. Klingt für mich plausibel.«
Seine Kollegin dachte darüber nach, und sah sich dabei um. »Das ist durchaus denkbar«, sagte sie nach einer Weile, klang aber alles andere als überzeugt. »Trotzdem …«, begann sie dann und schüttelte den Kopf. »Irgendetwas an der Sache kommt mir merkwürdig vor.« Sie richtete ihre Augen wieder auf Anja und sah diese mit einem inquisitorischen Blick durchbohrend an, als erwartete sie, Anja würde daraufhin sogleich zusammenbrechen und alles gestehen.
Anja fühlte sich unter dem Blick der Frau durchaus unbehaglich. Es kam ihr so vor, als könnte Melissa Schubert bis in ihre Seele blicken und dort Dinge entdecken, die Anja nicht auszusprechen wagte. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn, dennoch wurde Anja das Gefühl nicht los, dass die andere Frau genau wusste, dass sie ihr nicht die vollständige Wahrheit erzählt hatte und mit einem entscheidenden Detail hinter dem Berg hielt. Sie erschauderte innerlich, bemühte sich aber, sich von ihren Gefühlen nichts anmerken zu lassen. Sie zuckte erneut mit den Schultern und gab sich nach außen unbeeindruckt. »Ich finde diese Geschichte ebenfalls merkwürdig, ja geradezu mysteriös. Aber genau so, wie ich es Ihnen erzählte, hat es sich abgespielt.« Das war nicht einmal eine Lüge, sondern die Wahrheit. »Mehr kann ich Ihnen dazu beim besten Willen nicht sagen. Außer …«, sagte sie dann, als ihr plötzlich etwas einfiel, »… dass ich, als ich hierherkam, das unangenehme Gefühl hatte, als würde mich jemand beobachten.«
Plattner sah sich daraufhin automatisch um. Er entdeckte aber nichts, das seinen Argwohn erregte.
Melissa Schubert hielt ihren Blick weiterhin auf Anja gerichtet, als befürchtete sie, diese könnte sich in Luft auflösen, wenn sie sie nicht ständig aufmerksam im Auge behielt. »Haben Sie dieses Gefühl noch immer?«
Anja schüttelte den Kopf. »Als ich ums Haus herumging, verschwand es. Seitdem hatte ich es nicht mehr.«
»Na schön«, gab sich die andere Kriminalbeamtin schließlich zufrieden und seufzte schwer, als trüge sie die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern. »Ich habe momentan keine weiteren Fragen an Sie, Frau Spangenberg. Mein Kollege wird sich Ihre Adresse notieren, während ich mich einmal hinter dem Haus umsehe. Anschließend können Sie kurz nach Hause gehen und die Klarsichthülle mit der Nachricht holen. Aber halten Sie sich bitte weiterhin zu unserer Verfügung, denn nach der Besichtigung des Hauses und des potenziellen Tatorts habe ich sicherlich noch ein paar Fragen an Sie.« Melissa Schubert schenkte ihr zum Abschied ein knappes Nicken, verzog dabei aber immer noch keine Miene, und marschierte davon.
Anja wartete, bis sie um die Ecke verschwunden und damit außer Hörweite war. »Was ist denn mit Grumpy Cop los?«, fragte sie dann Andreas Plattner, der ein Notizbuch aus der Innentasche seines Sakkos holte, um sich Anjas Adresse zu notieren. »Ist Ihre Kollegin immer so schlecht gelaunt, oder habe ich irgendetwas Falsches gesagt?«
Er lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben überhaupt nichts Falsches gesagt. Und der Name Grumpy Cop ist gar nicht mal so abwegig, denn Melissa ist heute einfach nur besonders mies drauf.«
»Hat das einen bestimmten Grund?«
Er seufzte. »Sie ist auch an guten Tagen nicht unbedingt ein Ausbund an Fröhlichkeit und guter Laune, vor allem, weil wir immer alle Hände voll zu tun haben. Aber heute Nacht hatten wir besonders viel Stress und hetzten von einem Einsatz zum nächsten. Seit wir unsere Schicht begonnen haben, gab es für uns bereits zwei Einbrüche, einen ungeklärten Todesfall in Untermenzing, einen Raubüberfall auf eine Tankstelle und eine versuchte Vergewaltigung. Und als wir uns dann im Aufenthaltsraum eine Pause gönnen und die bestellte Pizza essen wollten, kam prompt ein Anruf aus dem Aquarium, und wir wurden hierher geschickt.«
Anja wusste, dass die KDD-Beamten ihre Einsatzzentrale in der Ettstraße als Aquarium bezeichneten. Krämers und Schuberts Schicht hatte dort um 17 Uhr begonnen. Da sie in 12-Stunden-Schichten arbeiteten, war sie erst um 5 Uhr morgens zu Ende. Die Mitarbeiter des KDD hatten nämlich Dienst, wenn sie und ihre Kollegen der Fachkommissariate Feierabend oder am Wochenende frei hatten. Sie übernahmen dann die Aufgaben aller 55 Kriminalkommissariate und waren unter anderem für ungeklärte Todesfälle, massive Körperverletzungen bis hin zu Tötungsdelikten, Sexualstraftaten, Raubdelikte und Wohnungs- und Geschäftseinbrüche zuständig. In Vertretung der Fachkommissariate führten sie dann vor Ort die maßgeblichen Sofortmaßnahmen einschließlich der ersten Auswertungs- und Ermittlungsarbeit durch. Bei Bedarf zogen sie die Kollegen der Kriminaltechnik hinzu. Die Weiterbearbeitung und Nachermittlung der Fälle erfolgte dann allerdings regelmäßig in den zuständigen Fachdienststellen.
»Und als wäre das noch nicht genug«, fuhr Plattner fort, »haben wir es hier auch noch mit einem reichlich mysteriösen Fall zu tun. Angefangen bei dem Klopfen an Ihrer Tür und der geheimnisvollen Nachricht auf Ihrer Fußmatte. Daraufhin kommen Sie, zufälligerweise auch noch eine Kollegin von der Vermisstenstelle, hierher und finden die Terrassentür einladend offen vor. Sie folgen den Fußspuren, die Sie geradewegs zu einem potenziellen Tatort führen. Allerdings hat der Täter das Opfer und fast alle Blutspuren beseitigt, als wollte er die Tatsache verschleiern, dass es sich um einen Tatort handelt. Dabei übersieht er trotz aller Gründlichkeit aber nicht nur ein paar Blutspritzer, sondern lässt sogar den blutigen Bademantel hängen, den das Opfer vermutlich getragen hat.« Er schüttelte den Kopf. »Melissa hat schon recht: Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Finden Sie nicht auch?«
Anja signalisierte ihre Zustimmung mit einem Nicken, sagte jedoch nichts.
»Die Situation ist dermaßen verworren, dass wir momentan noch nicht einmal wissen, womit wir es hier zu tun haben. Die Nachricht, die Sie erhielten, spricht lediglich von einem Vermisstenfall. Von daher ist es durchaus einleuchtend, dass die Mitteilung ausgerechnet an Sie gegangen ist, auch wenn die Art und Weise völlig unkonventionell und merkwürdig war. Die Blutspritzer und die von ihnen beschriebene Menge von Blut am Bademantel lassen hingegen eher auf ein Gewaltdelikt, unter Umständen sogar auf einen Mord schließen. Aber wieso hat der Täter dann einerseits das Badezimmer gereinigt, andererseits den Bademantel hängen lassen? Und warum hat er, als er schon dabei war, nicht auch gleich die Fußspuren und Wasserflecken im Haus beseitigt, die direkt zum Tatort führen? All diese Ungereimtheiten und offenen Fragen bereiten nicht nur mir, sondern auch meiner Kollegen Kopfschmerzen. Und deshalb ist Melissa heute Nacht besonders mies drauf.«
»Sie machen mir allerdings keinen so missmutigen Eindruck wie Ihre Kollegin.«
»Ich bin eben von Haus aus eher eine Frohnatur«, sagte er grinsend. »Aber trotzdem wünschte ich mir, wir hätten diesen Fall nicht zugeteilt bekommen und stattdessen unsere Pizza essen können.« Er rieb sich den Bauch. »Ich hab ein komisches Gefühl im Magen, und das liegt nicht nur am Hunger.«
»Wenigstens sind Sie den Fall spätestens dann los, wenn das zuständige Fachkommissariat morgen früh wieder seinen Dienst antritt.«
Er wiegte den Kopf hin und her und seufzte. »Aber bis dahin haben wir ihn an der Backe und können uns damit herumärgern. Und wenn wir bis dahin nicht herausgefunden haben, was hier passiert ist, ob also ein Mordfall, eine Körperverletzung oder nur ein Vermisstenfall vorliegt, wissen wir nicht einmal, welchen Kollegen wir den Fall aufs Auge drücken können. Dann bleiben wir vielleicht sogar darauf hocken. Dabei haben wir auch so schon mehr als genug Arbeit.«
»Tut mir leid«, sagte Anja und zuckte hilflos mit den Schultern. »Aber ich kann leider auch nichts dafür.«
»Ich weiß. Ich gebe Ihnen ja auch gar nicht die Schuld.«
»Ihre Kollegin scheint da anderer Ansicht zu sein.«
Plattner schüttelte den Kopf. »Da täuschen Sie sich. Es kommt einem nur so vor, wenn man sie nicht kennt. So wie ich Melissa nach den anderthalb Jahren, die wir nun bereits zusammenarbeiten, einschätze, macht ihr vor allem zu schaffen, dass sie momentan noch nicht erkennen kann, welche Rolle Sie bei der Geschichte spielen.«
»Das weiß ich, ehrlich gesagt, selbst nicht«, meinte Anja und erntete ein mitfühlendes Lächeln. »Und das beunruhigt mich ebenfalls.«
»Sie können ja die Ermittlungen weiterführen, wenn es sich nur um einen Vermisstenfall handeln sollte«, schlug Plattner vor. »Schließlich sind sie ja in gewisser Weise bereits damit befasst und müssen sich nicht mehr einarbeiten.«
Anja schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber da müssen Sie sich an meine Kolleginnen und Kollegen in der Vermisstenstelle wenden.«
»Wieso das?«
»Ich habe momentan Urlaub.«
»Sie Glückliche«, sagte Plattner und seufzte. »Und obwohl Sie Urlaub haben, reagieren Sie dennoch auf geheimnisvolle Vermisstenmeldungen, die vor Ihre Haustür gelegt werden, und schleichen durch fremde Häuser, anstatt dass sie sofort die armen Kollegen zu Hilfe rufen, die keinen Urlaub haben.«
»Das nennt man Pflichtbewusstsein«, antwortete Anja. »Eine bayerische Kriminalbeamtin ist schließlich immer im Dienst.«
»Das nenne ich vorbildlich«, meinte er anerkennend und grinste dabei. »Gefällt Ihnen Ihre Arbeit bei der Vermisstenstelle?«
Anja nickte. »Sehr sogar. Ich möchte nirgendwo anders arbeiten. Und Sie? Was hat Sie zum Kriminaldauerdienst verschlagen?«
Er zuckte mit den Schultern und überlegte kurz. »Die Arbeit ist ungemein abwechslungsreich, das gefällt mir vor allem daran«, sagte er dann. »Auf der Rückfahrt von einem Einbruch in ein Einfamilienhaus in Bogenhausen bekommen wir beispielsweise die Meldung über eine Polizeileiche im Münchner Westen.«
Als Polizeileichen wurden Tote bezeichnet, bei denen noch nicht geklärt werden konnte, ob ein natürlicher oder ein gewaltsamer Tod vorlag.
»Wo waren Sie, bevor Sie zum Kriminaldauerdienst kamen?«, fragte Anja.
»Ich war für Körperverletzung, Sachbeschädigung, Nötigung, Bedrohung und Waffenrecht zuständig.«
»Und das war Ihnen zu langweilig?«
»Sagen wir eher, es war mir nicht abwechslungsreich genug. Außerdem interessiere ich mich eher für Todesfälle. Deshalb wollte ich ursprünglich auch zur Mordkommission. Ich habe mich da auch auf eine freie Stelle beworben, aber daraus wurde leider nichts. Aber vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal.«
Anja hob die Augenbrauen. Sie fragte sich unwillkürlich, wie jemand sich für Todesfälle interessieren konnte. Allerdings reagierte nicht jeder dermaßen empfindlich wie sie auf den Anblick von Leichen.
Ihr Unverständnis musste auch in ihrer Miene zum Ausdruck gekommen sein, denn Plattner lachte. »Jetzt sehen Sie mich an, als wäre ich ein Perverser, den der Anblick von Leichen in sexuelle Erregung versetzt«, meinte er.
»Nein, nein«, wiegelte Anja ab. »Es ist nur so, dass ich selbst es nicht so mag, wenn ich mit Leichen zu tun habe. Manchmal verlangt es der Job zwar auch, dass ich in einem Sektionsraum des Instituts für Rechtsmedizin die Leiche einer vermissten Person identifizieren muss, aber meistens habe ich es zum Glück mit lebenden Vermissten zu tun. Deshalb kann ich Ihre Faszination für Todesfälle nicht nachvollziehen. Aber wenn Sie sich auf einer beruflichen Ebene dafür interessieren, dann ist das völlig okay.«
Plattner nickte. »Es sind auch weniger die Leichen selbst, die mich faszinieren«, erklärte er, »sondern vielmehr die Umstände, die dazu geführt haben, dass ein Mensch so weit geht, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen.«
Da Anja keine Lust hatte, noch weiter über Leichen zu sprechen, beschloss sie, das Thema zu wechseln.
»Und Ihre Kollegin? Was hat sie gemacht, bevor sie zum Kriminaldauerdienst kam?«
»Melissa war ein paar Jahre Todesermittlerin und hat dabei natürlich viele Todesfälle untersucht«, antwortete Plattner. »Von ihr habe ich echt viel darüber gelernt.«
Anja krümmte sich innerlich, weil der beabsichtigte Themenwechsel nicht funktioniert hatte und nach hinten losgegangen war, denn Plattner schien allmählich in Fahrt zu kommen und sich für das Thema zu erwärmen. Doch bevor er fortfahren konnte, wurde Anja von einem Ruf gerettet, der von der anderen Seite des Hauses kam: »Andi?«
»Ihre Kollegin ruft nach Ihnen«, stellte Anja erleichtert fest.