Kitabı oku: «DER WIDERSACHER», sayfa 7

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Anja überlegte. Sie glaubte zwar nicht, dass die Handlanger des Widersachers ihr so bald auf die Pelle rücken würden, doch womöglich hatte Englmair recht, und Jack hatte diesmal die Spielregeln geändert. Schließlich war der Kerl unberechenbar. In dem Fall würde sie sich ein wenig sicherer fühlen, wenn sie eine Schusswaffe in Reichweite hätte. Und wenn sie sich irrte, könnte sie darauf zurückgreifen und müsste ihren Irrtum nicht gleich mit dem Leben bezahlen. Daher nickte sie schließlich. »Okay, du hast mich überredet. Ich nehme die Pistole. Aber nur als Leihgabe und allerletzten Ausweg.«

»Als das ist sie auch gedacht.«

Anja nahm die Waffe und klappte das Handschuhfach wieder zu. »Danke.«

»Nichts zu danken«, sagte Englmair. »Ich hoffe, du brauchst das Ding gar nicht. Aber falls doch, ist es mir Dank genug, wenn du das Aufeinandertreffen mit einem von Jacks Handlangern mit der Hilfe von Tonis Waffe unbeschadet überstehst.«

Anja steckte die Pistole in die Kängurutasche ihres Kapuzenpullis und wechselte das Thema. »Du sagst mir Bescheid, wenn ihr mit euren Ermittlungen in den drei Mordfällen Fortschritte macht?«

»Auf jeden Fall. Und was hat sich bei dir so ergeben? Du wolltest doch das Foto von dem Auto, das du von Jana Albrecht bekommen hast, deiner Mutter zeigen.«

»Das habe ich vor Kurzem auch getan«, erwiderte Anja. »Dabei habe ich sie gefragt, ob sie sich an ein derartiges Auto oder das Kennzeichen erinnern kann.«

»Und? Was hat sie dazu gesagt?«

»Sie hat kurz gezögert, als käme es ihr vage bekannt vor, sodass ich schon die Hoffnung hatte, sie könnte mir endlich zum Durchbruch verhelfen. Doch dann hat sie den Kopf geschüttelt und erklärt, dass sie sich weder an das Auto noch an das Nummernschild erinnern könne. Allerdings hat sie mir versprochen, weiter darüber nachzudenken, falls ihr doch noch etwas einfällt. Bis jetzt habe ich allerdings noch nichts von ihr gehört. Ich werde sie aber gleich anrufen, sobald ich im Haus bin.«

»Dann können wir nur hoffen, dass sie sich doch noch an etwas erinnert«, sagte Englmair. Er hörte sich aber nicht so an, als hegte er in dieser Hinsicht allzu große Hoffnung. »Denn außer dem Foto haben wir momentan keine anderen Anhaltspunkte. Und solange Jack und seine drei neuen Freunde keinen schwerwiegenden Fehler begehen, können wir nicht viel mehr tun, als darauf zu warten, dass sie erneut zuschlagen.«

Anja nickte zustimmend. Der Gedanke, dass sie momentan nichts gegen die drei Mörder unternehmen konnten, um sie zu stoppen, war niederschmetternd und bedrückte sie. Allerdings konnte sie daran nichts ändern.

Für mehrere Sekunden schwiegen beide und dachten über das Gesagte und Gehörte nach, bevor Anja schließlich die Tür öffnete und aus dem Wagen stieg. Sie verabschiedeten sich voneinander. Anja ging über die Einfahrt zum Haus. Sie hatte noch immer vor, zum Joggen zu gehen. Jetzt sogar noch mehr als zuvor, denn beim Laufen konnte sie wunderbar nachdenken. Zuvor wollte sie allerdings noch zwei dringende Telefonate führen.

Sobald sie im Haus war, holte sie die Pistole, die Englmair ihr gegeben hatte, aus der Tasche. Da sie die Waffe auf keinen Fall mit zum Joggen nehmen wollte, überlegte sie, wo sie diese zwischenzeitlich am besten deponieren sollte. Einerseits wollte sie das Ding in Griffweite haben, sonst nützte es ihr schließlich nichts. Andererseits sollte niemand, der ins Haus kam, sofort über die Waffe stolpern. Anja sah sich im Erdgeschossflur um. Ihr Blick fiel schließlich auf die hohen Stiefel, die neben anderen Schuhen unter der Garderobe standen und die sie momentan nicht benötigte. Vermutlich würde es niemandem einfallen, ohne Grund in ihre Stiefel zu fassen, sodass die Pistole darin sicher wäre. Also steckte sie die Waffe in den rechten Stiefel und hatte damit zumindest eines ihrer derzeitigen Probleme gelöst, auch wenn es beileibe nicht das größte und drängendste war.

Anschließend suchte sie im ganzen Haus nach Yin, fand den Kater aber nirgends. Da allerdings sein Fressnapf nicht nur leer, sondern picobello saubergeleckt war, musste er zwischenzeitlich zu Hause gewesen sein und seinen Hunger gestillt haben. Anja war beruhigt, dass sie sich wenigstens um ihre Katze keine Sorgen machen musste. Sie spülte die Näpfe kurz aus und füllte sie dann erneut.

Als Nächstes rief Anja zunächst im Haus ihrer Mutter an, erwischte aber nur den Anrufbeantworter. Da sie davon ausging, dass Dagmar in der Druckerei ihres zweiten Mannes war, wo sie im Büro arbeitete, wollte Anja sie momentan nicht stören. Sie verzichtete auch darauf, eine kurze Nachricht auf dem AB zu hinterlassen. Sie würde es einfach später noch einmal bei ihrer Mutter versuchen.

Danach rief sie ihre Cousine Tanja auf deren Handy an, was sie vorgehabt hatte, seit Englmair ihr die seltene Blutgruppe auf der Visitenkarte des dritten Mordopfers genannt hatte.

Als Tanja das Gespräch fast augenblicklich entgegennahm, fiel Anja ein Stein vom Herzen. Sie hatte zwar nicht wirklich geglaubt, dass es der Fingerabdruck und das Blut ihrer Cousine sein könnte, sich aber dennoch Sorgen gemacht. Schließlich hatte der Widersacher oft genug unter Beweis gestellt, wie skrupellos und hinterhältig er sein konnte. Aber so infam, Anjas Cousine, die für sie wie eine Schwester war, ein zweites Mal ins Visier zu nehmen, war scheinbar nicht einmal er.

Die beiden Frauen unterhielten sich eine Weile. Tanja schlug vor, dass sie wieder einmal zusammen essen gehen sollten. Anja war sofort einverstanden, und so machten sie gleich einen Termin in drei Tagen in einem italienischen Restaurant aus. Tanja wollte noch heute telefonisch einen Tisch reservieren. Da sie in der Arbeit war und daher keine Zeit mehr hatte, beendeten sie das Gespräch, sodass Anja endlich aufbrechen konnte, um vor dem Abend noch ein paar Runden im Westpark zu drehen.

Kapitel 6

Er verharrte nahezu regungslos und behielt aufmerksam die Joggerin im Auge, die sich rasch seinem Versteck näherte.

Ferdinand Petersen erschauderte, als ihn die Vorfreude auf das erfasste, was ihm und der Frau unmittelbar bevorstand. Allerdings ahnte sie im Gegensatz zu ihm noch nichts von ihrem Schicksal; und das war auch gut so, denn sonst wäre sie vermutlich schreiend in die andere Richtung gerannt, als wären sämtliche Teufel der Hölle hinter ihr her.

Die Hölle!

Ferdinand verzog sein totenkopfähnliches Gesicht zu einer Grimasse, die man nur mit enorm viel Fantasie als Lächeln bezeichnen konnte. Er wusste, wie es in der Hölle war, denn er war dort gewesen, nachdem er vor vier Jahren gestorben war.

Er war damals einundzwanzig Jahre alt, lebte in Kiel im Haus seiner Eltern im Stadtteil Gaarden-Süd/Kronsburg und studierte an der Christian-Albrechts-Universität Mathematik.

An jenem schicksalhaften Abend im tiefsten Winter, der sein Leben nicht nur grundlegend verändern, sondern sogar beenden sollte, ging der junge Mann trotz des eisigen Wetters spazieren.

Ferdinand war stets allein unterwegs, denn er hatte keine Freunde. Es fiel ihm schwer, Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu schließen. Er konnte nicht auf andere zugehen und sich ihnen gegenüber öffnen, sondern war extrem scheu und verschlossen. Schon im Kindergarten und in der Schule war er daher lieber für sich geblieben und ein Einzelgänger gewesen. Und das hatte sich auch an der Uni nicht geändert. »Der Junge ist sich eben selbst genug«, sagte seine Mutter immer, wenn andere sie nach den Freunden ihres einzigen Sohnes fragten, auch wenn sie dabei nie besonders glücklich aussah und anschließend einen tiefen Stoßseufzer ausstieß. Sie und ihr Mann hatten einen großen Freundeskreis, den sie pflegten und oft zu sich nach Hause einluden, denn im Gegensatz zu ihrem Sohn waren sie kontaktfreudige, offenherzige und gesellige Menschen. Ferdinand blieb diesen fröhlichen Zusammenkünften in der Regel fern, sofern es sich nicht um Familienfeierlichkeiten handelte, an denen er teilnehmen musste. Seiner Meinung nach wurde dabei nicht nur zu viel getrunken, sondern auch viel zu viel geredet. Von dem Stimmengewirr und der Lautstärke taten ihm schon nach kurzer Zeit die Ohren weh. Außerdem bekam er davon früher oder später unweigerlich Kopfschmerzen. Deshalb blieb er auf seinem Zimmer, spielte Computerspiele, las Horror-Romane oder lernte für seine Prüfungen. Doch manchmal, wenn es ihm sogar in seinem Zimmer im ersten Stock zu laut wurde, schlich er sich heimlich nach draußen und machte einen Spaziergang. Und er kam erst dann wieder zurück, wenn alle Gäste gegangen waren und im Haus Ruhe eingekehrt war.

Auch heute Abend war es wieder extrem laut zugegangen. Sein Vater Klaus, der am Gymnasium Mathematik, Physik und Informatik unterrichtete, hatte ein paar seiner Kollegen eingeladen. Und da die meisten Lehrer sich nach Ferdinands Ansicht gerne selbst reden hörten und noch dazu ein erprobtes und extrem lautes Organ besaßen, war ihr Rufen und Grölen sogar in der Abgeschiedenheit seines Zimmers allmählich unerträglich geworden. Der ständige Lärm hatte unweigerlich zu heftigen Kopfschmerzen geführt, sodass Ferdinand nichts anderes übriggeblieben war, als die Flucht zu ergreifen und an diesem bitterkalten Januarabend Zuflucht in der winterlichen Stille außerhalb des elterlichen Zuhauses zu suchen.

Bevor Ferdinand das Haus verlassen hatte, hatte er sich warm angezogen, schließlich konnte er nicht wissen, wann im Haus wieder Ruhe einkehren würde. Er trug dicke Winterstiefel, unter der Jeans zusätzlich eine lange Unterhose, außerdem einen Wollpulli und darüber eine dicke Daunenjacke, und natürlich einen Schal, eine Wollmütze und Handschuhe. Trotz der Handschuhe hatte er seine Hände in den Jackentaschen vergraben. Und da ein eisiger Wind wehte, hatte er die Mütze tief ins Gesicht und den Schal über die untere Hälfte seines Gesichts gezogen. So sah er aus, als wollte er eine Bank überfallen. Aber obwohl er immer noch etwas fror, hatte er nicht vor, nach Hause zurückzukehren, bevor die Gäste seiner Eltern dieses verlassen hatten.

Immerhin linderte die eisige Kälte seine Kopfschmerzen, wofür er zutiefst dankbar war. Ferdinand hatte oft Kopfschmerzen, nicht nur, wenn es in seiner Umgebung zu laut war, sondern auch bei stickiger Raumluft, bei Stress oder wenn er schlecht geschlafen hatte. Meist nahm er dann Schmerztabletten, doch die wirkten nicht immer, sodass er die Schmerzen oft einfach über sich ergehen lassen musste. Seine Mutter Jutta war der Ansicht, dass er hochsensibel war und deshalb sämtliche Sinneseindrücke viel stärker und bewusster wahrnahm als andere. Ferdinand war der Meinung, dass sie damit möglicherweise sogar recht hatte. Letztendlich interessierte es ihn aber gar nicht, warum er so oft Kopfschmerzen hatte. Ihm kam es vor allem darauf an, dass die Schmerzen rasch wieder vergingen. Deshalb war er in diesem Augenblick trotz der beißenden Kälte froh, dass die Kopfschmerzen, die sich zuvor wie winzige Bohrmaschinen durch sein Gehirn gegraben hatten, wenigstens halbwegs gelindert wurden. Und vielleicht gingen sie sogar ganz vorbei, wenn er nur lange genug durch die Gegend marschierte und die frostige Luft einatmete.

Wie meistens an diesen Abenden, an denen er aus seinem Elternhaus geflüchtet war, führten ihn seine Schritte auch dieses Mal automatisch zum Großen Drachensee. Er gehörte zu einem Landschaftsschutzgebiet am südlichen Stadtrand der Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins und war nur knapp 400 Meter entfernt. Zusammen mit dem Kleinen Drachensee und dem Vorderen und Hinteren Russee, die einen Ausläufer des Westensee-Endmoränengebiets bilden, war er während der Weichseleiszeit durch eine Toteissackung entstanden. Der Große Drachensee hatte eine Ausdehnung von 7,4 Hektar, einen Umfang von 1,1 Kilometer und war an seiner tiefsten Stelle 6,20 Meter tief.

Als Ferdinand schließlich am Rand des Sees stand, stellte er fest, dass dieser komplett zugefroren war. Unwillkürlich musste er lächeln. Er war auf seinen einsamen Spaziergängen bereits unzählige Male um den Drachensee herumgewandert, liebte es aber noch viel mehr, bei geschlossener Eisdecke über den zugefrorenen See ans andere Ufer und wieder zurückzulaufen.

Die Kopfschmerzen waren vollkommen vergessen, als Ferdinand nun mit kindlicher Begeisterung vorsichtig die Eisfläche betrat, die sich unter seinen Sohlen fest und sicher anfühlte. Er lauschte aufmerksam, während er behutsam die ersten Schritte machte, hörte jedoch kein Knacken und Knistern, das darauf hingedeutet hätte, dass die Eisdecke nicht dick genug war. Er sah auch keine Risse im Eis, durch die aufgrund der Belastung durch sein Gewicht das Wasser des Sees schwallartig an die Oberfläche getreten wäre.

Ferdinand hatte nicht nur den zugefrorenen Drachensee oftmals überquert, sondern auch die Eisdecken zahlreicher anderer Seen und Weiher in der Umgebung betreten. Er war auch auf zugefrorenen Teilen der Ostsee spazieren gegangen, beispielsweise in der Lübecker Bucht oder in der Innenbucht in Heiligenhafen. Er war daher der Ansicht, dass er ausreichend Erfahrung darin hatte, und traute es sich ohne weiteres zu, zu erkennen, ob das Eis sicher war oder nicht. Und hier und heute war er der Ansicht, dass die Eisdecke dick und stabil genug war, um sein Gewicht zu tragen. Deshalb marschierte er weiter auf den See hinaus und wurde dabei immer unbeschwerter und sorgloser, während er die Einsamkeit und Stille dieser traumhaften nächtlichen Umgebung genoss.

Doch unmittelbar bevor er die Mitte des Drachensees erreichte, hörte der Student plötzlich ein Knacken unter sich, das in der Stille besonders laut wirkte. Er blieb augenblicklich stehen und verharrte absolut regungslos. Als er das Eis unter seinen Füßen betrachtete, entdeckte er im Licht des fahlen Vollmondes einen Riss in der Eisdecke. Er hatte unter seinem rechten Fuß seinen Ursprung und verlief von dort mehrere Meter zickzackartig über die Eisschicht. Wie weit er sich erstreckte, konnte Ferdinand allerdings nicht erkennen. Und als er über seine linke Schulter einen Blick nach hinten warf, sah er, dass sich der Riss hinter ihm fortsetzte.

Bereits das Umsehen und die dadurch entstandene leichte Gewichtsverlagerung genügten, damit das Eis unter ihm erneut laut knackte. Mit Entsetzen bemerkte Ferdinand, dass sich nun ein weiterer Riss gebildet hatte, der seitwärts verlief und sich unter seinem rechten Fuß mit dem ersten Riss kreuzte. Außerdem war jetzt auch ein leises Knistern zu hören, als entstünden fortwährend weitere haarfeine Verästelungen, die der junge Mann jedoch nicht sehen konnte.

Ihm wurde sofort klar, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Mochte das Eis am Uferbereich und sogar bis weit in den See hinaus sicher gewesen sein, so war es das hier in der Seemitte definitiv nicht. Ein Fehler, der ihn leicht das Leben kosten konnte, denn eine weitere elementare Regel zum korrekten Umgang mit Eisdecken hatte er ebenfalls nicht beachtet. Die lautete, dass man niemals allein aufs Eis gehen und immer jemanden dabeihaben sollte, der einen im Notfall retten oder zumindest Hilfe holen konnte. Doch Ferdinand war schon so oft allein aufs Eis gegangen, dass er gar nicht darüber nachgedacht hatte, er könnte dadurch in Lebensgefahr geraten.

Noch immer an Ort und Stelle verharrend, sah er sich um. Doch weder auf dem zugefrorenen See noch an dessen Ufer war jemand zu sehen. Er war mutterseelenallein hier draußen.

Die Kopfschmerzen wurden wieder intensiver, was Ferdinand in dieser Situation überhaupt nicht gebrauchen konnte. Was er jetzt am dringendsten benötigte, war ein klarer Kopf, um nachdenken zu können.

Was soll ich tun?, fragte er sich verzweifelt. Und wie verhalte ich mich richtig, damit ich meine Lage nicht noch verschlimmere?

Trotz der pochenden Schmerzen, die sich allmählich zu einem Hämmern steigerten, bemühte sich der Einundzwanzigjährige, seinen mathematisch geschulten Verstand dazu zu bringen, ihm einen Ausweg aus seiner Misere zu zeigen.

Da die Eisdecke zur Mitte hin immer dünner und brüchiger wurde, wäre es natürlich völlig falsch, weiterhin in diese Richtung zu marschieren. Also musste er logischerweise wieder in die Richtung, aus der er gekommen war und wo das Eis dicker und tragfähiger war.

Gedacht, getan!

Ferdinand hob vorsichtig den rechten Fuß vom Eis, wo die beiden Risse sich kreuzten und ihren Ursprung genommen hatten, und setzte ihn behutsam einen halben Meter hinter sich wieder aufs Eis. Zuerst wagte er es gar nicht, das Bein zu belasten. Doch als es jäh erneut knackte und sich unter seinem linken Fuß, der nun das ganze Gewicht seines ein Meter neunzig großen Körpers tragen musste, ebenfalls ein Riss im Eis bildete, der wie ein gezackter Blitz in rasendem Tempo die Eisschicht zerteilte, beeilte er sich, die Belastung wieder auf beide Füße zu verteilen.

Anschließend verharrte Ferdinand erneut regungslos und lauschte. Inzwischen fror er nicht mehr, sondern schwitzte stark und war in Schweiß gebadet; doch das nahm er nur am Rande wahr, so konzentriert versuchte er, sich in das Eis unter seinen Füßen einzufühlen.

Als nichts geschah, atmete er erleichtert auf. Anscheinend hatte er einen Ausweg aus seiner Notlage gefunden und konnte sich ans sichere Ufer retten, indem er wie in Zeitlupe absolut behutsam rückwärtsging. Und sobald die Eisdecke wieder dick genug wäre, könnte er sich unbesorgt umdrehen und zurückmarschieren.

Doch er hatte sich zu früh gefreut. Denn urplötzlich knallte es so laut, als wäre ein Schuss abgefeuert worden, und Ferdinand konnte spüren, wie das Eis unter seinem rechten Stiefel nachgab. Es knackte und knisterte laut, als sich unzählige Risse und Spalten von seiner Position aus in alle Richtungen ausbreiteten und das Seewasser schwallartig nach oben gedrückt wurde. Der ganze Bereich um ihn herum schien in Bewegung zu geraten. Eisplatten zerbarsten und zerbrachen in kleine Stücke, die nicht länger in der Lage waren, sein Gewicht zu tragen.

Zu spät fiel ihm ein, was seine Mutter zu ihm gesagt hatte, als er noch ein kleines Kind gewesen war und sie mit ihm zum ersten Mal aufs Eis dieses Sees gegangen waren: »Wenn das Eis unter dir zu knacken beginnt, dann legst du dich flach hin, um dein Gewicht auf eine größere Fläche zu verteilen, und robbst ohne ruckartige Bewegungen ans Ufer!«

Ferdinand wollte ihren Rat umgehend befolgen und sich hinlegen. Doch bevor er dazu kam, brach er bereits im Eis ein und stürzte ins eiskalte Wasser. Dabei fiel er nach hinten und knallte mit den Hinterkopf auf eine Eisscholle, die sich unter ihm aufgerichtet hatte und wie ein Miniatureisberg nach oben ragte.

Der junge Mann verlor augenblicklich das Bewusstsein und bekam gar nicht mehr mit, wie sein Körper in den eisigen See eintauchte und anschließend leblos nach unten sank.

Als er wieder zu sich kam, hatte er unzählige schreckliche Bilder im Kopf, die ihn erschaudern ließen und mit Angst erfüllten.

Er erinnerte sich, in einer infernalischen Umgebung gewesen zu sein, wo ihn schwarzhäutige Teufel mit rot glühenden Augen und gewundenen Hörnern auf den Köpfen gequält hatten. Dort war er buchstäblich tausend Tode gestorben, einer grausamer und brutaler als der vorherige. Er war jedoch immer wieder neu belebt worden, um weitere Qualen zu erleiden und erneut zu sterben. Da die Bilder so deutlich und detailliert waren, war er davon überzeugt, dass es sich dabei nicht um Traumbilder, sondern um echte Erinnerungen handelte und dass er in der Hölle gelandet war.

Doch dieses erneute Erwachen war anders als die vorherigen, wenn die Dämonen der Hölle ihn zu Tode gequält und wiedererweckt hatten. Es vollzog sich nicht ruckartig, sondern langsam und geradezu behutsam.

»Ich glaube, er kommt zu sich«, hörte Ferdinand eine Frauenstimme sagen. Am Anfang des Satzes klang sie noch etwas dumpf und hörte sich an, als würde sie in zu niedriger Geschwindigkeit abgespielt werden. Zum Ende hin wurde sie jedoch schneller und deutlicher, sodass er sie schließlich als die seiner Mutter identifizieren konnte. Doch das war unmöglich, denn wie sollte seine Mutter in die Hölle gelangt sein?

»Bist du dir sicher, Schatz?«, fragte daraufhin eine zweite Stimme. Und auch diese erkannte er, denn sie war markant und gehörte seinem Vater. Dass auch er hier war, erstaunte Ferdinand sogar noch viel mehr. Wie waren die beiden hierhergekommen? Waren sie ebenfalls gestorben und in die Hölle gefahren? Denn dass er selbst gestorben war, davon war er überzeugt. Allzu deutlich erinnerte er sich daran, wie er in die Eisfläche des Drachensees eingebrochen war und das Bewusstsein verloren hatte. Dass er das nicht überlebt haben konnte, war für ihn so sicher wie das Amen in der Kirche.

»Seine Augenlider haben gezuckt«, erklärte Ferdinands Mutter in diesem Augenblick ihrem Mann.

»Vielleicht träumt er ja nur«, meinte sein Vater und seufzte. Er klang, als hätte er resigniert und alle Hoffnung aufgegeben. »Seine Augen haben sich in den letzten Wochen immer wieder hin und her bewegt, während er geträumt hat.«

»Nein, so war es nicht!«, widersprach Ferdinands Mutter energisch. »Es waren nämlich nicht die Augen, die sich hinter seinen Lidern bewegt haben, sondern seine Lider haben gezuckt. Ich glaubte wirklich, dass unser Junge endlich aufwacht.«

Ferdinand hörte diesem Dialog voller Verwirrung zu, während er allmählich zu sich kam. Dabei meldeten sich immer mehr seiner fünf Sinne zurück und übermittelten ihm ihre Eindrücke: unter anderem quietschende Schritte auf einem Gang in der Nähe, außerdem gedämpfte Verkehrsgeräusche, dazu der Geruch nach Krankenhaus und Desinfektionsmittel, und schließlich das Gefühl einer weichen Unterlage und einer Decke auf seinem Körper.

Ohne es zu wollen, stöhnte Ferdinand leise, während er sich bemühte, seine Augen zu öffnen. Doch die Lider widersetzten sich seinen Bemühungen und zuckten nur.

»Hast du das gehört?«, fragte Jutta Petersen aufgeregt. »Und da: Seine Lider haben schon wieder gezuckt.«

»Ja, jetzt habe ich es auch gesehen«, sagte ihr Mann Klaus. Er klang jetzt ebenfalls erregt. »Sollen wir eine Schwester rufen?«

»Nein, warten wir damit lieber, bis er wirklich wach ist.«

Seine Eltern, die in seiner unmittelbaren Nähe sein mussten, verstummten. Vermutlich beobachteten sie ihn aufmerksam, denn Ferdinand glaubte, ihre Blicke auf sich zu spüren. Erneut versuchte er, die Augen zu öffnen. Und diesmal klappte es sogar. Seine verklebten Lider öffneten sich langsam. Doch er sah alles nur verschwommen, konnte lediglich dunkle und helle Flächen erkennen.

»Ferdinand?«, fragte seine Mutter hoffnungsvoll. »Kannst du mich hören, mein Junge?«

Seine Sicht klärte sich. Die vagen Umrisse nahmen deutlichere Gestalt an und wurden nach und nach zu zwei Menschen, die rechts und links neben ihm standen, auf ihn heruntersahen und die er sofort erkannte. Über ihnen schwebte eine weiße Zimmerdecke.

Ferdinand runzelte verwirrt die Stirn. Wo waren die Flammen und die grausamen Teufel? Wo war die Hölle, in der er eine gefühlte Ewigkeit gefangen gewesen war?

»Ferdinand?«, fragte nun auch sein Vater. »Kannst du uns hören, mein Sohn?«

Da er nicht wusste, ob er in seinem Zustand – immerhin war er tot! – überhaupt sprechen konnte, bewegte er den Kopf und schaffte es, ein Nicken zustande zu bringen.

»Hast du das gesehen, Klaus?«, fragte Jutta Brand aufgeregt. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Er hat genickt. Ferdinand kann uns tatsächlich hören. Und er hat deine Frage verstanden. Er ist also wieder da!«

»Ja.« Klaus Petersen lachte ausgelassen. Er hatte ebenfalls feuchte Augen, wollte sich aber vermutlich nicht anmerken lassen, wie ergriffen er war. Er räusperte sich, bevor er sagte: »Du hast recht. Unser Sohn ist wieder da. Jetzt wird alles wieder gut.«

Ferdinand war sich da nicht so sicher. Er wusste nämlich nicht, was hier los war. Er wusste nur, dass er gestorben und in der Hölle gelandet war. Also war er tot! Wieso konnte er dann mit seinen Eltern kommunizieren?

Er konzentrierte sich auf die anderen Sinneseindrücke, die auf ihn einstürmten. Irgendwo in der Nähe redeten zwei Leute miteinander, ihre Stimmen waren allerdings nur gedämpft zu hören. Und über den typischen Krankenhausgeruch hinweg konnte er einen leichten Duft nach Verwesung wahrnehmen. Der musste von ihm selbst stammen, schließlich war er tot, und tote Körper verwesten allmählich. So hatte die Natur es eingerichtet.

Der Verwesungsgeruch, den er jetzt, nachdem er ihn identifiziert hatte, immer deutlicher wahrnehmen konnte, war für ihn der Beweis, dass er tatsächlich tot war.

Ich bin gestorben, und jetzt bin ich eine verwesende Leiche!

Aber wieso lag sein Körper dann nicht in einem Grab, sondern in einem Krankenhausbett? Und warum konnte er sich bewegen, seine Eltern sehen und ihre Stimmen hören?

Vielleicht wurde ich aus der Hölle hierher zurückgeschickt, um eine Aufgabe zu erledigen?

Der Gedanke erschien ihm so logisch, dass er für ihn geradezu zwingend war und damit richtig sein musste. Doch welche Aufgabe sollte das sein? Vermutlich konnte er nicht darauf hoffen, dass ihm ein Engel erschien und ihm alles erklärte, sondern musste es selbst herausfinden.

Er spürte, dass er stetig mehr Kontrolle über seinen Körper zurückerhielt. Er wollte etwas sagen, doch sein Mund und sein Hals waren ausgetrocknet und seine Zunge klebte am Gaumen. Das war natürlich ebenfalls logisch, schließlich war er tot. Deshalb leckte er sich über die Lippen und sagte mit krächzender Stimme: »Was …«

»Was passiert ist, willst du wissen?«, unterbrach ihn sein Vater eifrig.

Doch Ferdinand schüttelte den Kopf. »Was…ser.«

»Er will etwas trinken«, rief seine Mutter. »Schnell, Klaus, gib ihm etwas Mineralwasser.«

Während seine Mutter das Kopfteil des Bettes höher stellte, damit ihr Sohn aufrechter saß, öffnete sein Vater eine Wasserflasche und füllte ein Glas, das er seinem Sohn anschließend an die Lippen hielt.

Ferdinand trank das stille Wasser so gierig, als hätte er seit Wochen nichts mehr zu trinken bekommen. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass ihm die Teufel in der Hölle etwas zu trinken angeboten hatten. Der quälende Durst gehörte dort zur Bestrafung dazu. Kein Wunder also, dass er so ausgedörrt und durstig war. Die Trockenheit in seinem Mund und in seiner Kehle verschwand augenblicklich. Außerdem stellte er überrascht fest, dass sein Durst gestillt wurde. Es verwunderte ihn allerdings, dass er überhaupt so etwas wie Durst verspürte und trinken konnte, wo er doch tot war. Außerdem atmete er.

Wie kann das sein?

Doch dann fiel ihm die Antwort ein. Normalerweise lagen tote Menschen regungslos in ihren Särgen und verwesten dort allmählich. Doch da er sich bewegte, da er sprechen und denken konnte, benötigte sein Körper ebenso wie ein lebender Mensch Luft und Energie. Deshalb musste er atmen, trinken und vermutlich auch essen, denn wenn er seinem Körper keine Energie zuführte, konnte dieser auch nicht funktionieren. Es war also letzten Endes alles logisch und erklärbar.

»Nicht so schnell«, warnte ihn seine Mutter. »Nicht dass du dich noch verschluckst.«

Sein Vater nahm ihm daraufhin das Glas weg. »Das reicht erst mal. Später bekommst du mehr.«

Ferdinand nickte, um sein Einverständnis zu signalisieren. Er sah sich um. Inzwischen fiel es ihm leichter, seinen Körper zu steuern, der sich unmittelbar nach seinem Erwachen noch so angefühlt hatte, als wäre er ihm ein paar Nummern zu groß und würde ihm nicht richtig gehorchen. Doch mit jeder verstreichenden Minute wurde es besser. Er lag in einem Krankenhausbett. Da es keine anderen Betten gab, musste es ein Einzelzimmer sein. Durch das Fenster konnte er den Himmel sehen, der blau und sonnenklar war. In seinem Unterarm steckte eine Kanüle; der Schlauch führte zu einem Tropf, der an einem Ständer hing und eine klare Flüssigkeit enthielt. »Wo … bin ich?«, fragte er, obwohl er es bereits aufgrund des Geruchs und der Atmosphäre erkannt hatte, und das, was er in seiner Umgebung zu sehen bekam, seine Annahme bestätigte.

»Du bist im Krankenhaus«, sagte seine Mutter und strich ihm liebevoll das Haar aus der Stirn.

»Weißt du noch, was passiert ist?«, fragte sein Vater.

Ferdinand nickte.

»Du bist aus dem Haus geschlichen und auf den zugefrorenen Drachensee gegangen.« Klaus Petersen schüttelte den Kopf. »Wie konntest du nur etwas derart Unvernünftiges tun?«

»Klaus!«, ermahnte ihn seine Frau. »Es ist ja nichts Schlimmes passiert.«

»Nichts Schlimmes passiert?«, fragte Ferdinands Vater und wies mit beiden Händen auf ihren Sohn im Krankenhausbett.

»Immerhin ist er am Leben und gerade erst aufgewacht. Erspar ihm also bitte deine Vorwürfe.«

Ferdinand wollte widersprechen und seinen Eltern sagen, dass er gar nicht lebte, sondern tot war. Doch seine Mutter ließ ihm keine Gelegenheit dazu.

»In der Mitte des Sees war die Eisschicht in jener Nacht nicht dick genug, um dein Gewicht zu tragen«, erklärte sie ihm. »Deshalb bist du im Eis eingebrochen.«

»Ich weiß«, sagte er.

»Dann kannst du dich also an alles erinnern?«, fragte sein Vater.

Ferdinand nickte.

»Das ist ungewöhnlich, aber auch gut«, sagte Klaus Petersen lächelnd, bevor er sich an seine Frau wandte. »Das ist sogar sehr gut. Denn dann scheint er trotz allem wenigstens keinen Hirnschaden davongetragen zu haben.«

Hirnschaden?

Einen Hirnschaden hatte er vermutlich tatsächlich nicht, zumindest bemerkte er davon nichts, dafür aber ein viel größeres Problem.

Nein, ich habe keinen Hirnschaden, ich bin nämlich tot!

Erneut wollte er es seinen Eltern erklären, doch wieder machte ihm seine Mutter einen Strich durch die Rechnung.

»Als du im Eis eingebrochen bist, hast du dir den Kopf angeschlagen und wurdest bewusstlos. Und dann bist du im Wasser versunken und …« Sie brach ab, als könnte sie es nicht aussprechen, und schluchzte stattdessen, während sie erneut in Tränen ausbrach.

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