Kitabı oku: «IM ANFANG WAR DER TOD», sayfa 6

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KAPITEL 7

I

Anja war froh, als es endlich Mittag war. Sie hatte zuletzt zwar wieder versucht, sich auf ihre eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren, dabei allerdings nicht viel erreicht.

Sie beschloss spontan, in der Mittagspause nach Hause zu fahren, um sicherheitshalber noch einmal gründlich die Wohnung zu durchsuchen. Sie befürchtete, dass die Lederhandschuhe, die sie letzte Nacht benutzt hatte, doch noch irgendwo herumlagen und bei einer Durchsuchung gefunden wurden. Wie der Kapuzenpulli und die Laufschuhe könnten sie ebenfalls Blutspuren aufweisen und ihr damit trotz allem, was sie bislang unternommen hatte, um ihre Spuren zu verwischen, das Genick brechen.

Allerdings fuhr sie nicht direkt nach Hause, sondern bei einem nahen Sportfachgeschäft vorbei, um sich Ersatz für ihre Schuhe und den Pulli zu besorgen, die sie entsorgt hatte. Anschließend machte sie noch einen kleinen Abstecher in eine Bäckerei, die auf dem Weg lag, und kaufte eine Breze und eine Nussschnecke. Sie hatte Heißhunger auf etwas Süßes. Vielleicht lieferte der Zucker den notwendigen Treibstoff für ihre grauen Zellen und sorgte dafür, dass sie nichts übersah oder vergaß.

Zu Hause machte sie zunächst Kaffee. Während die Maschine lief, suchte sie noch einmal in der ganzen Wohnung nach den Handschuhen. Sie sah in der Wäsche und unter der Couch nach und fuhr sogar mit der Hand in die Ritzen, obwohl es sie davor ekelte. Doch alles, was sie dabei zum Vorschein brachte, waren Staub, Dreck, Fussel, Haare und Krümel. Schließlich gab sie ihre ergebnislosen Bemühungen auf, wusch sich die Hände und setzte sich an den Küchentisch. Während sie zwei Becher Kaffee trank und dazu die Breze und die Nussschnecke aß, dachte sie angestrengt über alles nach, was sie seit ihrem Aufwachen aus dem Albtraum erlebt hatte. Doch noch immer machte das alles für sie nicht mehr Sinn als zuvor. Und vor allem die entscheidende Frage, warum sie Pfarrer Hartmann umgebracht hatte, war durch Nachdenken allein nicht zu lösen und blieb damit weiterhin offen.

Nachdem sie das schmutzige Geschirr und Besteck in die Spülmaschine geräumt hatte, klappte sie ihren Laptop auf, um ihre privaten E-Mails zu checken. Konstantin und sie kommunizierten vorwiegend über WhatsApp, doch manchmal, vor allem, wenn sie sich mehrere Tage nicht sahen, schickten sie sich auch E-Mails, die es ihnen erlaubten, längere Nachrichten zu verfassen.

Es dauerte ewig, bis das betagte Gerät endlich hochgefahren war. Doch für Anjas Zwecke – E-Mails verschicken und empfangen, ab und zu im Internet surfen und gelegentlich einen Brief schreiben – war der Laptop mehr als ausreichend. Sobald der Computer bereit war, startete sie den Browser und ging auf die Seite ihres E-Mail-Dienstes. Anschließend gab sie ihre E-Mail-Adresse und ihr Passwort ein. Es war lang und daher vermutlich relativ sicher; dafür änderte sie es nie, weil sie sich kein neues merken wollte.

Sie hatte seit gestern fünf E-Mails bekommen. Allerdings sah sie auf den ersten Blick, dass keine von Konstantin darunter war.

»Schade«, sagte sie und seufzte leise.

Vier der Nachrichten wurden automatisch als Junkmails aussortiert und in den Junkordner verschoben. Wahrscheinlich ging es darin um Potenzmittel oder Kredite.

Danach war nur noch eine E-Mail übrig. Der Absender sagte Anja allerdings nichts, denn es handelte sich dabei nicht um einen Namen, sondern um eine scheinbar willkürliche Abfolge von Zeichen, die keinen Sinn ergaben. Sie vermutete, dass es sich um eine weitere Spammail handelte, die das Programm übersehen hatte. Allerdings löschte sie die Nachricht nicht umgehend, sondern öffnete sie, um sicherzugehen, dass es nicht doch etwas Wichtiges war.

Die Mail war kurz. Sie enthielt lediglich einen knappen fett und kursiv gedruckten Text in der Mitte der Seite, der aus vier Worten bestand:

In principio erat Mors …

Nicht schon wieder Latein!, dachte Anja genervt und verzog gequält das Gesicht.

Der Apokalypse-Killer hatte ihr nach jedem Mord Bibelstellen aus der Offenbarung des Johannes in lateinischer Sprache geschickt. Da sie in der Schule kein Latein gehabt hatte, hatte sie ihren damaligen Wohnungsnachbarn Raphael um Hilfe gebeten, ohne zu ahnen, dass sie damit gewissermaßen den Bock zum Gärtner machte.

Obwohl er kurz war, las sie den Text mehrere Male, ohne dadurch jedoch schlauer zu werden. Mit jedem Mal wurde ihr unbehaglicher zumute. Denn längst war ihr klar geworden, dass es sich dabei nicht um eine gewöhnliche Junkmail handelte. Nein, diese Nachricht, das spürte sie instinktiv, war ernst. Möglicherweise sogar im wahrsten Sinne des Wortes todernst. Unwillkürlich lief ihr ein Schauder über den Rücken.

Sie überlegte, wie sie herausfinden konnte, was der Text bedeutete. Schließlich öffnete sie in ihrem Browser einen weiteren Tab und begann, den Text in ihre bevorzugte Suchmaschine einzugeben. Bereits nach dem zweiten Wort wurde ihr »in principio erat verbum Übersetzung« vorgeschlagen. Das vierte Wort stimmte zwar nicht mit der Mail überein, sie klickte aber dennoch darauf und bekam als oberstes Ergebnis der Suche einen Wikipedia-Eintrag über »in principio«. Sie folgte dem Link und erfuhr, dass der Ausdruck »in principio« in der Tat lateinisch war und auf Deutsch »im Anfang« oder »am Anfang« bedeutete. Und »in principio erat verbum« wurde mit »am Anfang war das Wort« übersetzt.

Anja stutzte. Irgendwo hatte sie das schon einmal gehört oder gelesen. Und das war noch gar nicht so lange her. Deshalb musste sie nur kurz überlegen, bis ihr wieder einfiel, dass Krieger heute früh in der Kirche davon gesprochen hatte. Es handelte sich dabei um das Zitat, das in Anjas alter Bibel markiert worden war. Allerdings waren dort die letzten beiden Worte durchgestrichen und handschriftlich durch »der Tod« ersetzt worden. Sie vermutete daher stark, dass das lateinische Wort »mors« auf Deutsch »Tod« hieß.

Sie überprüfte es, indem sie in die Suchmaschine »mors Übersetzung« eingab. Und tatsächlich, es stimmte.

Nachdenklich betrachtete Anja die vier lateinischen Worte auf dem Bildschirm.

Was hat das zu bedeuten?

Es beunruhigte sie, dass ihr wie im Fall des Apokalypse-Killers wieder jemand lateinische Bibelzitate schickte. Das weckte ungute Erinnerungen, die sie lieber vergessen hätte. Bedeutete das etwa, dass die Sache noch nicht zu Ende war und weiterging? Allerdings war Johannes, der Absender der ursprünglichen Nachrichten, mausetot. Also konnte im Grunde nur sein Komplize dahinterstecken.

Aber wieso? Und warum ausgerechnet jetzt?

Außerdem entsprachen die vier lateinischen Worte der markierten und leicht abgeänderten Textstelle in Anjas ehemaliger Bibel. Es gab damit also einen eindeutigen Bezug zum Mord an Pfarrer Hartmann. Allerdings wusste momentan kaum jemand davon. Lediglich die beiden Mordermittler, die übrigen Kollegen, die am Tatort gewesen waren, und Anja.

Sie schüttelte den Kopf, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass einer der Kollegen hinter dieser Mail stecken könnte. Lediglich Krieger traute sie jede Gemeinheit zu. Doch würde er tatsächlich so weit gehen und ihr anonyme E-Mails schickten? Und was könnte er damit bezwecken? Wollte er sie etwa durch Psychoterror dazu bringen, ein Geständnis abzulegen?

Anja verwarf den Gedanken sofort wieder. Krieger war zwar nicht dumm, aber für eine derartig ausgeklügelte Maßnahme fehlte ihm dann doch die notwendige Intelligenz.

Sie wollte sich bereits ausloggen, als der Eingang einer weiteren Mail angezeigt wurde. Sie hoffte, dass wenigstens sie von Konstantin kam. Eine liebevolle Nachricht von ihm würde ihr jetzt guttun. Doch die Mail stammte nicht von ihm, sondern vom selben Absender, der ihr bereits den lateinischen Text geschickt hatte.

Anja bewegte den Mauszeiger, um die Nachricht zu öffnen, zögerte dann aber. Wenn sie ehrlich war, wollte sie eigentlich gar nicht wissen, was der Unbekannte ihr noch geschickt hatte. Doch die Polizistin in ihr war an der Aufklärung dieser mysteriösen Geschichte interessiert und drückte die Maustaste.

Erneut erwartete sie nur eine einzeilige Nachricht; doch dieses Mal war sie in deutscher Sprache verfasst worden und bestand aus sieben Wörtern:

Ich weiß, was du getan hast, Anja!

Anja erstarrte förmlich, als sie das las. Die Angst, die in ihrem Magen einen Knoten bildete, seit sie in der Kirche mit den Indizien konfrontiert worden war, und die sie zuletzt erfolgreich hatte ignorieren können, ließ sie jetzt am ganzen Körper schlottern. Ihr wurde speiübel, und der Schweiß brach ihr aus.

Sie wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn, während sie den kurzen Text immer und immer wieder las, als könnte er dadurch auf wundersame Weise doch noch seine Bedeutung verändern und weniger bedrohlich und angsteinflößend werden. Aber so etwas funktionierte im wirklichen Leben nicht.

Er weiß, was ich getan habe!

Ihr war sofort klar, was der Absender damit meinte. Es konnte nur eines bedeuten: Es gab jemanden, der wusste, dass sie Pfarrer Hartmann getötet hatte. Das machte schon allein die erste Mail mit dem Bibelzitat mehr als deutlich, die vom selben Absender stammte.

Erneut dachte sie fieberhaft darüber nach, wer ihr diese Nachricht geschickt haben könnte.

Stammt sie etwa doch von Krieger?

Immerhin war der Mordermittler felsenfest davon überzeugt, dass Anja die Mörderin des Geistlichen war. Wollte er ihr mit diesen E-Mails Angst einjagen? Sie vielleicht auch nur provozieren, damit sie einen Fehler beging und er sie endlich überführen konnte?

Aber so subtil würde jemand wie Krieger niemals vorgehen. Konnte er gar nicht. Er war der Typ, der den Presslufthammer einsetzte, um auf Nummer sicher zu gehen, wenn auch ein Schraubenzieher genügen würde. Deshalb waren diese Nachrichten auch so untypisch für ihn, dass er als Verdächtiger eigentlich von vornherein ausschied.

Aber wer ist es dann? Und was zum Teufel bezweckt er damit?

Die Lähmung, die sie beim Anblick der Nachricht ergriffen hatte, fiel allmählich von ihr ab, als sie sich von ihrem ersten Schock erholte. Sie konnte auch endlich wieder klarer denken. Deshalb bemerkte sie erst jetzt, dass die zweite Mail einen Anhang besaß, der aus mehreren Fotos bestand. Sie öffnete die Bilder der Reihe nach. Auf den ersten drei Aufnahmen war sie beim Entsorgen der Tüten mit den Beweismitteln an drei verschiedenen Orten zu sehen. Die übrigen zeigten Nah- und Detailaufnahmen der Dinge, die sie hatte loswerden wollen. Der Absender hatte sie auf eine weiße Oberfläche gelegt und nacheinander fotografiert. Zuerst sah sie den Kapuzenpulli. Danach kam eine Nahaufnahme der Blutflecken am Ärmel. Anschließend die Laufschuhe und eine weitere Detailaufnahme, auf denen die sternförmigen Umrisse der Blutstropfen, die sie weggewischt hatte, noch deutlich zu erkennen waren. Und schließlich Fotos des Messerblocks und sämtlicher Messer mit Ausnahme der Tatwaffe.

Anja hätte vorher nicht damit gerechnet, dass sich ihr Unwohlsein noch steigern ließe. Doch nachdem sie sich das letzte Foto angesehen hatte, wurde ihr so schlecht, dass sie ins Bad rennen und sich ein weiteres Mal übergeben musste.

II

Hinterher putzte sie sich die Zähne und wusch sich das verschwitzte, gerötete Gesicht.

Während sie diese alltäglichen Tätigkeiten geradezu automatisch verrichtete, herrschte in ihrem Verstand ein Wirbelsturm an Überlegungen.

Offensichtlich hatte sie heute früh jemand verfolgt und dabei beobachtet und fotografiert, als sie die Beweise, die sie mit dem Mord an Pfarrer Hartmann eindeutig in Verbindung brachten, loszuwerden versucht hatte. Und sie hatte davon nicht das Geringste mitbekommen, obwohl sie die ganze Zeit nach Verfolgern Ausschau gehalten hatte. Doch damit noch nicht genug! Der Unbekannte hatte sogar sämtliche belastenden Gegenstände an sich genommen und ebenfalls fotografiert.

Aber wozu?

Wozu wohl, du dumme Kuh? Da will dich anscheinend jemand erpressen. Denn wenn er dich ans Messer liefern wollte, hätte er das längst tun können, indem er die Beweise einfach der Polizei übergibt.

Anja nickte, während sie sich mit beiden Händen am Waschbecken abstützte und den Blick ihres blassen Spiegelbildes erwiderte, als würde sie mit ihm ein stummes Zwiegespräch führen.

Aber was will er oder sie von mir?

Geld?

Anja und ihr gespiegeltes Ebenbild, das sie aus geröteten Augen ansah, schüttelten synchron den Kopf. Ihnen war klar, dass es bei dieser Sache aller Voraussicht nach nicht um Geld ging.

Aber worum dann?, fragte sich Anja.

Das ist die große Preisfrage!

III

Sie kehrte in die Küche zurück, setzte sich wieder vor den Laptop und wartete noch ein paar Minuten. Doch es kam keine weitere Mail. Was immer der Unbekannte für sein Schweigen verlangte, sie würde sich gedulden müssen, bis er sich wieder bei ihr meldete. Entweder wollte er sie auf die Folter spannen, oder es war seiner Meinung nach ganz einfach noch nicht der richtige Moment gekommen, seine Forderung zu stellen.

Schließlich zuckte Anja die Achseln und markierte die beiden Mails, um sie zu löschen. Dann zögerte sie allerdings, denn es widerstrebte ihr, sie zu vernichten. Eventuell enthielten sie Hinweise, die zu ihrem Absender führten. Andererseits durfte sie aber auch niemand finden, der ihren E-Mail-Account durchsuchte.

Sie entschied sich schlussendlich für einen Kompromiss. Zuerst speicherte sie die beiden Nachrichten als HTML-Dateien. Anschließend öffnete sie mithilfe eines Passworts einen Datentresor, den sie auf der Festplatte ihres Laptops eingerichtet hatte. Darin waren all ihre privaten Dateien gespeichert. Sobald der Datentresor geschlossen wurde, wurden sämtliche darin enthaltenen Dateien verschlüsselt. Anja erzeugte ein Unterverzeichnis, dem sie einen möglichst unverfänglichen Namen gab. Dann verschob sie die beiden HTML-Dateien und die Fotos aus dem Anhang der zweiten Mail dorthin. Zuletzt schloss sie den Datentresor wieder und löschte die E-Mails in ihrem Account. Sie wusste nicht, ob ein Computerexperte die Nachrichten wiederherstellen konnte, aber immerhin waren sie nicht mehr sofort auffindbar, falls sich jemand – beispielsweise im Rahmen eines Durchsuchungsbeschlusses – Zugang zu ihrem E-Mail-Account verschaffte.

Anja schaltete den Laptop aus und klappte ihn zu. In Zukunft würde sie wieder öfter ihre Mails checken müssen. Allerdings rechnete sie gar nicht damit, dass sich der unbekannte Absender so schnell melden würde. Er hatte ihr mit den ersten beiden Nachrichten verdeutlicht, was er wusste und dass er jetzt die Beweise besaß, die sie in Teufels Küche bringen konnten. Nun konnte er sich entspannt zurücklehnen und musste nur noch auf den richten Moment warten, um ihr seine Forderung mitzuteilen.

Und Anja würde keine andere Wahl bleiben, als zu tun, was er von ihr verlangte. Egal, was es war!

IV

Während sie die Küche aufräumte, spekulierte sie noch immer darüber, wer ihr die Mails geschickt hatte. Am wahrscheinlichsten erschien ihr inzwischen, dass es sich um den Komplizen des Apokalypse-Killers handelte. Er musste sie bereits vor drei Monaten ständig beobachtet und ihre Lebensumstände ausgekundschaftet haben. Nur deshalb war es ihm gelungen, sie während ihrer damaligen Ermittlungen so erfolgreich zu manipulieren und in die Irre zu führen. Ohne es zu ahnen, und bis es beinahe zu spät gewesen war, war Anja damals seinem bizarren Drehbuch gefolgt. Nachdem sie seine letzte Nachricht am Grab ihres Vaters gefunden hatte, hatte sie zwar gehofft, er wäre wieder unerkannt untergetaucht, nachdem er sein Ziel nicht erreicht hatte. Doch vermutlich hatte er sie seitdem weiterhin im Auge behalten, um im richtigen Moment erneut damit zu beginnen, sein perfides Spiel mit ihr zu treiben. Und dieser Moment war gekommen, als er sie dabei beobachtet hatte, wie sie die Gegenstände entsorgt hatte, die sie des Mordes an Pfarrer Hartmann überführen konnten. Zu diesem Zeitpunkt musste er wie das Raubtier, das er im Grunde war, seine Chance gewittert haben und war wie ein Geist aus der Flasche wieder auf der Bildfläche erschienen.

Nachdem sie aufgeräumt hatte, verließ sie die Küche und ging ins Wohnzimmer. Dort holte sie zwei Akten aus dem Schrank, in dem sie auch die Mappe mit den Klassenfotos aufbewahrte. Eine davon war sehr dünn, die andere dafür wesentlich umfangreicher. Sie hatte vor, die beiden Akten mit ins Büro zu nehmen und dort durchzusehen.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es ohnehin Zeit wurde, dorthin zurückzukehren. Aber vorher wollte sie noch ihre Mutter anrufen und nach dem Verbleib der Bibel befragen.

Dagmar Kramer hatte zwei Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes erneut geheiratet. Anjas Stiefvater Josef Fröhlich gehörte die Druckerei, in der ihre Mutter noch immer an drei bis vier Tagen in der Woche im Büro arbeitete. Er hatte ebenfalls ein Kind mit in die Ehe gebracht, einen Sohn namens Sebastian. Dieser war nur wenige Monate jünger als Anja. Doch die beiden trennten mehr als nur diese Monate, denn Anja hatte ihren Stiefbruder von Anfang an nicht leiden können. Im Gegensatz zu ihrem Stiefvater, den sie mit der Zeit ins Herz geschlossen hatte. Das lag nicht nur daran, dass er nie versucht hatte, die Stelle ihres verstorbenen Vaters einzunehmen. Er hatte sie auch oft unterstützt, wenn sie wieder einmal mit ihrer Mutter in Streit geraten war.

Dazu gab es, solange die beiden Frauen unter einem Dach wohnten und Anja noch minderjährig war, mehr als genügend Anlässe. Anja zog deshalb, sobald sie volljährig wurde, in eine eigene Wohnung und begann nach dem Abitur an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege, Fachbereich Polizei, in Fürstenfeldbruck ein dreijähriges Studium. Sie wollte unbedingt Kommissarin bei der Kriminalpolizei werden und wie ihr verstorbener Vater in der Vermisstenstelle arbeiten.

Nach ihrem Auszug schlossen Mutter und Tochter stillschweigend einen Waffenstillstand, der allerdings brüchig war, wenn es um bestimmte Themenbereiche ging, in denen sie höchst unterschiedlicher Meinung waren. Und davon gab es noch immer genügend. Doch wenn sie sich trafen oder am Telefon miteinander sprachen, waren beide Seiten meistens bemüht, kontroverse Themen unausgesprochen zu lassen, um keinen unnötigen Streit vom Zaun zu brechen.

Anja hatte Glück, denn sie erwischte ihre Mutter schon beim ersten Versuch zu Hause und musste es nicht auch noch im Büro der Druckerei versuchen.

Wie immer freute sich Dagmar, von ihrer Tochter zu hören. Ihrer Meinung nach sahen und sprachen sie sich viel zu selten. Anja bemühte sich zwar, ihre Mutter mindestens einmal pro Woche anzurufen und auf dem Laufenden zu halten, hielt ihre Treffen allerdings in Grenzen. Einerseits wollte sie im Haus ihrer Mutter und ihres Stiefvaters nicht unbedingt ihrem ungeliebten Stiefbruder über den Weg laufen, der inzwischen ausgebildeter Rettungssanitäter war und daher unregelmäßige Arbeitszeiten hatte. Andererseits empfand sie ihre Gespräche oft als anstrengend, weil sie bei manch einem Thema gezwungen war, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, um den brüchigen Frieden zwischen ihnen nicht zu gefährden.

»Wie geht es dir?«, fragte Dagmar, nachdem sie sich begrüßt hatten.

»Gut.« Anja sah keinen Grund, ihrer Mutter von ihren augenblicklichen Sorgen und Problemen zu erzählen, denn sie wollte sie nicht beunruhigen. Deshalb gab sie die Standardantwort. »Und dir?«

»Ich kann eigentlich auch nicht klagen.«

Anja erkundigte sich pflichtschuldig nach dem Wohlergehen ihres Stiefvaters und ihres Stiefbruders, obwohl ihr Letzterer herzlich egal war. Doch ihre Mutter hätte es ihr vermutlich übelgenommen, wenn sie es nicht getan hätte.

Dagmar erwiderte, dass es allen gut gehe. Josef habe wie immer viel Arbeit in der Druckerei, und Sebastian sei im Dienst.

Anjas Stiefbruder war vor drei Monaten ebenfalls in die Gewalt des Apokalypse-Killers geraten. Allerdings hatte er ihm nur als Köder gedient, um Anja, die ihn zwischenzeitlich verdächtigte, der psychopathische Serienkiller zu sein, zu einem aufgegebenen Bauernhof zu locken. Dort war Anja dann vom Täter hinterrücks niedergeschlagen worden, als sie Sebastian schließlich in der Küche des heruntergekommenen Bauernhauses an einen Stuhl gefesselt gefunden hatte. Doch im Gegensatz zu den drei weiblichen Opfern hatte er die Begegnung mit dem Serienmörder überlebt und lediglich eine Platzwunde am Hinterkopf davongetragen.

»Und wie geht es diesem …? Wie heißt dein neuer Freund noch mal?«

»Konstantin«, sagte Anja und verzog genervt das Gesicht. Sie verdächtigte ihre Mutter, dass diese sich den Namen absichtlich nicht merkte. Vielleicht wollte sie damit ihr Missfallen darüber ausdrücken, dass Anja ihn ihr bislang noch nicht formell vorgestellt hatte. Aber sie war einfach noch nicht so weit. Schließlich standen sie noch am Anfang ihrer jungen Beziehung und waren noch immer dabei, sich besser kennenzulernen. Noch wusste Anja nicht, wohin diese Reise ging und ob ihre Liebe überhaupt Bestand haben würde. Und bevor sie Gewissheit darüber hatte, ob es sich nur um ein kurzfristiges Strohfeuer oder eine länger währende Sache handelte, würde sie den Teufel tun und Konstantin ihrer Mutter vorstellen.

Darüber hinaus befürchtete Anja, dass Dagmar kein gutes Haar an ihm lassen könnte, sobald sie ihn erst einmal persönlich kennengelernt hatte. Ihre Mutter trauerte ihrem verstorbenen Schwiegersohn noch immer hinterher. Für Dagmar war Fabian trotz seiner Fehler der perfekte Schwiegersohn gewesen. Auch Anja vermisste ihn sehr, denn obwohl er sie ständig mit anderen Frauen betrogen hatte, hatte sie ihn auch nach ihrer Trennung noch geliebt. Doch das Leben ging bekanntlich weiter und ließ ihr wenig Zeit, den Menschen nachzutrauern, die sie verloren hatte.

»Also sag schon, wie geht es Konstantin?«

Anja seufzte. »Es geht ihm gut, Mama.«

»Und? Macht er dich glücklich?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Anja, ohne zu zögern. In Gedanken setzte sie allerdings hinzu: Vorausgesetzt, wir sehen uns! Was wegen seines Nachtdienstes nicht so einfach war und nicht so oft vorkam, wie sie sich das eigentlich gewünscht hätte. Und wenn er die Nachtschichten erkrankter Kollegen übernehmen musste, wie es in letzter Zeit häufiger vorkam, dann waren sie sogar noch seltener zusammen. Aber das Leben war nun mal kein Wunschkonzert, und man konnte nicht alles haben. Anja war es leid, über Konstantin zu sprechen, deshalb wechselte sie rasch das Thema. »Ich hab dich aus einem ganz bestimmten Grund angerufen, Mama.«

»Das dachte ich mir schon«, erwiderte ihre Mutter. Ein weiterer feiner Nadelstich, den sie Anja versetzte. Sie vertiefte das Thema, dass sie ihrer Meinung nach viel zu selten miteinander telefonierten und ihre Tochter schon einen guten Grund benötigte, um sie anzurufen, zu Anjas Erleichterung aber nicht weiter.

»Weißt du zufällig, was mit der Bibel passiert ist, die ich damals zur Erstkommunion geschenkt gekommen habe?«

»Bibel?«, fragte Dagmar, als hätte sie diesen Begriff noch nie zuvor gehört und hielte ihn für einen Ausdruck aus einer fremden Sprache, die sie nicht kannte.

»Ja. Du weißt doch wohl, was eine Bibel ist, oder?«

»Natürlich weiß ich, was eine Bibel ist, Anja«, versetzte ihre Mutter in einem Tonfall, der Anja an vergangene Zeiten erinnerte, als sie beide noch unter einem Dach gewohnt und sich täglich mindestens einen heftigen verbalen Schlagabtausch geliefert hatten. »Aber wieso fragst du ausgerechnet jetzt nach dieser Bibel?«

»Weil ich mich heute zufälligerweise an sie erinnert habe«, log Anja, »und einfach nur wissen wollte, wo sie geblieben ist.«

»Und deshalb rufst du mich extra an?«

»Ja.«

»Bist du plötzlich religiös geworden?«

»Jetzt werde bloß nicht albern, Mama!«

Ihre Mutter schwieg eine Weile, als würde sie konzentriert nachdenken. Anja wollte schon nachfragen, ob sie noch in der Leitung war, als sie sich auch schon von selbst wieder zu Wort meldete: »Tut mir leid, Anja, aber ich fürchte, dabei kann ich dir nicht helfen.«

»Das heißt dann wohl, dass du ebenfalls keine Ahnung hast, wo sie abgeblieben sein könnte.«

»Genau das heißt es.«

»Hast du vielleicht noch irgendwelche alten Sachen von mir im Keller oder auf dem Speicher, wo sie dabei sein könnte?«

»Ausgeschlossen«, sagte Dagmar sofort. »Deine alten Sachen, die du nicht mehr brauchtest, haben wir schon vor Jahren weggegeben. Und an die Dinge kann ich mich noch gut erinnern. Es waren hauptsächlich Kinderbücher, Spielsachen und Stofftiere. Aber eine Bibel war ganz bestimmt nicht dabei. Das wüsste ich.«

»Aber du erinnerst dich doch an die Bibel, oder?«

»Ja. Nachdem du sie jetzt erwähnt hast, kann ich mich wieder erinnern. Du bekamst sie damals zur Erstkommunion. Ich weiß aber beim besten Willen nicht mehr, von wem.«

»Ich auch nicht«, gestand Anja. »Weißt du dann vielleicht noch, wann du sie zum letzten Mal gesehen hast?«

»Mmh«, machte Dagmar, während sie nachdachte. »Ich denke, das muss noch vor dem Tod deines Vaters gewesen sein. Zumindest kann ich mich nicht erinnern, dass sie mir danach noch einmal unter die Augen gekommen ist.«

Anjas Mutter glaubte natürlich noch immer, ihr Mann hätte Selbstmord verübt. Woher sollte sie auch die Wahrheit kennen? Die kannten schließlich nur der Mörder und seit drei Monaten auch Anja. Doch die hatte nicht vor, Dagmar die Wahrheit zu erzählen. Zumindest nicht, bevor sie herausgefunden hatte, wer ihren Vater ermordet hatte und warum er hatte sterben müssen.

»Wo die Bibel wohl hingekommen sein mag?«, fragte Anja versonnen.

»Ich das denn wirklich so wichtig?«

»Eigentlich nicht«, wiegelte Anja ab. »Ich wollte es einfach nur wissen.«

»Wahrscheinlich ist sie bei einem der Umzüge verloren gegangen«, mutmaßte ihre Mutter. »Nach Franks Tod sind wir aus dem Haus in eine kleinere Wohnung gezogen. Da haben wir viele Sachen aussortieren müssen, weil wir einfach nicht mehr genug Platz dafür hatten. Möglich, dass dabei auch die Bibel weggekommen ist, ohne dass es einer von uns beiden auffiel. Schließlich standen wir damals ziemlich unter Schock und hatten ganz andere Sorgen.«

Anja nickte, denn damit hatte Dagmar recht. Sie selbst erinnerte sich kaum noch an die Wochen und Monate nach dem Tod ihres Vaters. Sie war damals wie ein Schlafwandler durchs eigene Leben marschiert. Die Erinnerungen, die sie an diese Zeit besaß, kamen ihr daher eher wie unwirkliche Traumbilder vor. Wieso sollte es ihrer Mutter anders ergangen sein?

»Ich erinnere mich noch, dass ein paar Tage nach Franks Tod Pfarrer Hartmann zu uns kam, um mit uns über unseren Verlust zu sprechen.« Natürlich wusste Dagmar noch nichts vom Tod des Geistlichen. »Du wolltest damals nicht mehr in die Kirche gehen. Und auch mit dem Pfarrer wolltest du nicht sprechen. Stattdessen hast du ihm und Gott heftige Vorwürfe gemacht. Du warst auf Gott und die ganze Welt sauer, was ich dir nicht einmal verdenken konnte. Pfarrer Hartmann war über deine Zurückweisung sehr enttäuscht, hat sie jedoch akzeptiert. Er meinte zum Abschied, dass seine Kirche immer für dich offen stünde und du jederzeit zu ihm kommen könntest. Er habe stets ein offenes Ohr für dich.«

Tja. Letztendlich bin ich tatsächlich zu ihm gekommen. Allerdings hatte ich ein Fleischmesser dabei, und unser Gespräch ist vermutlich vollkommen anders verlaufen, als der gute Mann sich das vorgestellt hatte. Am Ende hatte er nicht nur ein offenes Ohr, sondern auch mehrere offene Wunden.

»Danach«, fuhr Dagmar fort, »hattest du, gelinde gesagt, mit Gott, Religion und dem Pfarrer nichts mehr am Hut. Ich nahm daher vermutlich an, dass du in deinem Zorn auf Gott auch die Bibel weggeworfen hattest.«

»Nein, das habe ich nicht getan. Ich hab sie auch nicht mehr gesehen.« Aber vielleicht hatte ihre Mutter recht, und die Bibel war während des darauffolgenden Umzugs verlorengegangen. Aber wie war es dann möglich, dass sie ausgerechnet jetzt am Schauplatz eines Mordes auftauchte?

Ihre Mutter redete weiter, doch Anja hörte ihr nicht mehr zu, weil sie konzentriert nachdachte.

Was, wenn die Bibel zufälligerweise in die Hände von Pfarrer Hartmann gelangt war? Und als er ihren Namen darin gelesen hatte, hatte er sie aufgehoben, um sie ihr irgendwann zurückzugeben, wenn sie, wie er insgeheim vielleicht noch immer hoffte, in den Schoß der Kirche zurückkehrte. Hatte er sich etwa deshalb mit ihr in Verbindung gesetzt und ein Treffen am gestrigen späten Abend in der Kirche vereinbart? Und sie hatte nach dem überraschenden Anruf des Pfarrers, an den sie jahrelang keinen Gedanken verschwendet hatte, nichts Besseres zu tun gehabt, als sich sinnlos zu betrinken und ein Fleischmesser mit zu ihrem abendlichen Rendezvous bei Kerzenschein in der Kirche zu bringen.

Anja schüttelte heftig den Kopf, als ihr wieder einmal bewusst wurde, was sie getan hatte, und sie musste ein Stöhnen unterdrücken. Aber darüber wollte sie hier und jetzt ganz bestimmt nicht nachdenken. Deshalb verdrängte sie die schmerzhaften Überlegungen.

Auf jeden Fall würde dieser Hergang erklären, wie die Bibel an den Tatort gelangt war. Aber wer hatte dann die Bibelstelle markiert und verändert? Pfarrer Hartmann? Und wenn er es tatsächlich gewesen war, warum hätte er so etwas tun sollen?

Die Fragen, die sie hatte, wurden mit der Zeit nicht weniger, sondern im Gegenteil immer zahlreicher. Und dabei hatte sie bis jetzt noch keine Einzige beantworten können.

Dagmar verstummte in diesem Moment, und Anja wollte die Gelegenheit nutzen, um das Gespräch zu beenden, weil sie zurück in die Dienststelle musste.

»Ich muss jetzt leider Schluss und mich wieder an die Arbeit machen, Mama.«

»Warte noch!«, sagte Dagmar hastig.

»Was ist denn noch?« Anja hoffte, dass sie nicht halb so genervt klang, wie sie sich fühlte, aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es wirklich Zeit wurde.

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