Kitabı oku: «IM ANFANG WAR DER TOD», sayfa 7
»Ich wollte dich heute ohnehin noch anrufen, aber dann kamst du mir zuvor.«
»Ach ja?«, fragte Anja argwöhnisch. »Und weswegen wolltest du mit mir sprechen?«
»Ich …« Dagmar stockte, als wäre sie sich nicht ganz sicher, wie sie beginnen sollte.
Das war so ungewohnt, dass Anja sofort nervös und misstrauisch wurde. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihrer Mutter zuletzt die Worte gefehlt hatten. »Was ist los? Nun sag schon, Mama! Ist etwas passiert?«
»Nein, natürlich nicht. Es ist nur …« Sie seufzte. »Ich bekam gestern einen Anruf.«
»Einen Anruf? Von wem?« Anjas Verstand blätterte blitzschnell durch ihr Personengedächtnis, als müsste er eine Liste von Verdächtigen abarbeiten, um all die Person herauszufiltern, die ihre Mutter angerufen haben könnten. Zuerst dachte sie natürlich an Krieger, der ihre Mutter über sie aushorchen wollte. Aber am gestrigen Tag war Pfarrer Hartmann noch am Leben gewesen. Krieger hatte daher auch noch keinen Grund gehabt, die Kollegin von der Vermisstenstelle für eine Mörderin zu halten. Als Nächstes kam ihr der Mörder ihres Vaters in den Sinn, der vermutlich auch hinter den beiden E-Mails steckte, die sie heute erhalten hatte. Zweifellos heckte er wieder irgendeine Gemeinheit aus. Aber aus welchem Grund sollte er ihre Mutter kontaktieren?
»Von … deinem Onkel«, sagte Dagmar in diesem Moment und beendete damit ihre Spekulationen.
»Onkel?«, echote Anja perplex. Welcher Onkel?, wollte sie schon fragen. Doch bevor sie dazu kam, fiel ihr der Bruder ihres Vaters wieder ein. Ähnlich wie bei Pfarrer Hartmann hatte sie auch an Onkel Christian schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gedacht.
Christian Kramer war der Jüngere der beiden Brüder. Als ihr Vater noch am Leben gewesen war, war der damals noch unverheiratete und kinderlose Christian oft zu Besuch gekommen und hatte mit seiner Patentochter Anja gespielt. Doch dann waren die beiden Brüder über irgendetwas in Streit geraten, und Christians Besuche hatten abrupt geendet. Kurze Zeit später hatte Anja ihren Vater erhängt im Arbeitszimmer gefunden. Es wurde ihr erst jetzt, als sie erstmals seit vielen Jahren wieder darüber nachdachte, bewusst, dass diese beiden Ereignisse, sofern sie es richtig in Erinnerung hatte, zeitlich sehr nah beieinandergelegen hatten. Erst der erbitterte Streit, der die beiden Brüder entzweit hatte, und dann der Tod ihres Vaters.
Natürlich wusste Anja nicht, worüber die beiden damals gestritten hatten. Und hätte sie zwischenzeitlich nicht erfahren, dass ihr Vater gar keinen Selbstmord verübt hatte, sondern ermordet worden war, hätte sie gewiss auch keinen Zusammenhang gesehen. Doch nun, da sie es wusste, machte dieser enge zeitliche Rahmen sie automatisch misstrauisch. Vor allem, seitdem der Mörder ihres Vaters wieder in ihr Leben getreten war.
Sie erinnerte sich, dass sie ihren Onkel zum letzten Mal bei der Beisetzung ihres Vaters gesehen hatte. Allerdings war es nur ein kurzes Aufeinandertreffen im strömenden Regen auf dem Friedhof gewesen, denn unmittelbar danach war er wieder verschwunden. Über gemeinsame Bekannte hatte ihre Mutter später erfahren, dass Christian, der von Beruf Ingenieur war, nach Südafrika gegangen war. Dort hatte er geheiratet und zwei Kinder bekommen. Mehr als diese vagen Informationen hatten sie allerdings nicht, denn er hatte sich in den dreiundzwanzig Jahren, die seitdem vergangen waren, kein einziges Mal gemeldet.
Aber wieso dann ausgerechnet jetzt?
»Was wollte er von dir?« Das Misstrauen ließ Anjas Stimme schärfer klingen, als sie beabsichtigt hatte.
»Du hörst dich ja an, als wolltest du mich verhören«, sagte ihre Mutter daraufhin. »Was ist los? Bist du sauer auf ihn, weil er so lange nichts von sich hören ließ?«
Anja zuckte mit den Schultern. Vom wahren Grund für ihr Misstrauen konnte sie Dagmar natürlich nichts sagen. Deshalb nahm sie das Stichwort, das ihre Mutter ihr gegeben hatte, dankend auf. »Hätte ich dafür nicht allen Grund? Immerhin ist er mein Patenonkel und hat in dreiundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal geschrieben oder angerufen.«
»Er wird seine Gründe dafür gehabt haben.«
»So? Welche denn?«
»Woher soll ich das denn wissen?«
»Weißt du vielleicht, worüber er und Papa damals gestritten haben.« Für Anja fühlte es sich jedes Mal merkwürdig an, wenn sie das Wort Papa in den Mund nahm. Sie hatte es seit dem Tod ihres Vaters nur noch selten ausgesprochen, es meist sogar geradezu krampfhaft vermieden. Deshalb war es jedes Mal wieder ungewohnt, wenn sie es benutzte. So wie ein Paar Schuhe, das man nur selten anzog. Es passte zwar noch, fühlte sich aber komisch an.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Dagmar. »Als Christian nicht mehr zu uns kam, habe ich Frank natürlich danach gefragt. Doch er wollte es mir nicht sagen und vertröstete mich auf später. Aber dann …« Sie ließ den Rest des Satzes ungesagt. Wahrscheinlich schmerzte es sie noch immer, über den Tod ihres ersten Mannes zu sprechen oder auch nur darüber nachzudenken. Da sie noch immer davon ausgehen musste, er hätte Selbstmord verübt, hatte sie vermutlich das Gefühl, er hätte sie und ihre Tochter im Stich gelassen. Auch Anja hatte das jahrzehntelang so empfunden, daher konnte sie ausnahmsweise nachfühlen, wie es ihrer Mutter ging. Gleichwohl konnte sie ihr nicht die Wahrheit sagen.
Noch nicht!
»Und warum hat Onkel Christian sich ausgerechnet jetzt wieder gemeldet?«, fragte Anja.
»Weil er wieder in Deutschland ist.«
Anja wurde sofort hellhörig. Onkel Christian war also wieder im Land! »Seit wann ist er wieder hier?«
»Warum willst du das wissen?«
»Es interessiert mich eben einfach.«
Dagmar seufzte, antwortete dann aber: »Ich glaube, er sagte etwas von sechs Monaten.«
Das würde passen!, dachte Anja. Wenn Christian – sie musste wirklich aufhören, ihn jedes Mal automatisch Onkel Christian zu nennen – schon so lange hier war, dann konnte er durchaus der Komplize des Apokalypse-Mörders sein.
»Warum ist er nach all den Jahren überhaupt zurückgekommen? Und was macht er hier?«
»Ich komme mir wirklich langsam vor wie in einem Verhör, Anja«, beschwerte sich ihre Mutter. »Einmal Polizistin, immer Polizistin, oder? Bei deinem Vater war es manchmal ganz genauso.«
Anja, die bei der Berufswahl bewusst in die Fußstapfen ihres Vaters getreten war, wertete das als unfreiwilliges Kompliment. »Entschuldige bitte, Mama. Manchmal kann ich eben einfach nicht aus meiner Haut. Aber würdest du meine Fragen bitte trotzdem beantworten.«
Dagmar war durch die Entschuldigung und Anjas bittenden Tonfall wieder besänftigt. »Ich muss zugeben, dass mich das natürlich ebenfalls brennend interessiert hat. Deshalb habe ich ihn natürlich danach gefragt.«
»Und?« Anja unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Manchmal, vor allem, wenn sie spürte, dass ihre Tochter etwas unbedingt wissen wollte, schien es ihrer Mutter eine diebische Freude zu bereiten, sich jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen zu lassen.
»Christian ist jetzt im Ruhestand.«
»Im Ruhestand? Er ist doch erst …« Anja überlegte kurz. »… Ende fünfzig oder so.«
»Siebenundfünfzig«, präzisierte Dagmar. »Er wurde fünf Jahre nach deinem Vater geboren.«
»Und wieso ist er dann schon im Ruhestand?«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er es in Südafrika zu einigem Wohlstand gebracht und das Geld gut angelegt. Er muss also nicht mehr arbeiten, sondern kann bequem von den Zinsen und Renditen leben, die er mit seinen Geldanlagen erzielt. Deshalb hat er sich zur Ruhe gesetzt und ist nach Deutschland zurückgekehrt, um seinen Lebensabend in der alten Heimat zu verbringen.«
»Und wo wohnt er jetzt?«
»Er hat sich ein Haus in Obermenzing gekauft. Anscheinend ist es gar nicht weit von dem Haus entfernt, in dem wir damals wohnten, als Frank noch lebte.«
Ausgerechnet Obermenzing!, dachte Anja. Dort lag auch die Kirche, in der sie Pfarrer Hartmann getötet hatte. Zufall?
»Was ist mit seiner Frau und den Kindern?«
»Seine Frau ist letztes Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und seine Tochter und sein Sohn sind erst jetzt nachgekommen und zu ihm gezogen. Deshalb hat er mich ja auch angerufen. Er will, dass wir uns alle treffen und endlich kennenlernen.«
Anja überlegte. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie eigentlich kein besonderes Interesse, diesen Mann wiederzusehen, nachdem er vor dreiundzwanzig Jahren sang- und klanglos verschwunden war und sich seitdem kein einziges Mal gemeldet hatte. Andererseits war da dieser nagende Gedanke in ihrem Hinterkopf, dass er ihren Vater ermordet haben könnte. Schon allein deshalb sollte sie die Gelegenheit nutzen, ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Außerdem gab es da noch ihre Cousine und ihren Cousin, die nichts mit der alten Geschichte zu tun hatten und die sie gern kennenlernen würde.
»Und was hast du ihm geantwortet?«, fragte sie ihre Mutter.
»Ich sagte ihm, dass ich dich fragen und ihm dann Bescheid geben würde. Also, was sagst du jetzt dazu? Willst du deinem Patenonkel noch eine Chance geben? Ich kann natürlich verstehen, dass du noch immer sauer auf ihn bist. Aber vielleicht hatte er gute Gründe für sein Verhalten. Dein Vater war auch nicht immer einfach. Manchmal konnte er richtig stur sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.« Sie verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um einen Charakterzug handelte, den sie auch bei ihrer Tochter allzu oft festgestellt hatte. »Außerdem wissen wir nicht, worüber die beiden damals gestritten haben. Ganz abgesehen davon könntest du dann auch Judith und Oliver kennenlernen.«
»Judith und Oliver?«
»So heißen deine Cousine und dein Cousin.«
»Na gut«, sagte Anja. »Ich werde ihm, wie du sagtest, eine Chance geben. Außerdem würde ich seine beiden Kinder tatsächlich gern treffen.«
»Das freut mich. Wann passt es dir denn?«
Anja dachte an Konstantin. Da er überraschend den Nachtdienst eines Kollegen übernehmen musste, würde sie ihn heute ohnehin nicht sehen. Sie hoffte allerdings, dass er morgen wieder Zeit für sie hatte. Deshalb wäre der heutige Abend für sie am ehesten für ein Treffen mit der Verwandtschaft geeignet. »Wie wäre es gleich heute Abend? Da hätte ich Zeit.«
»Mir wäre das ebenfalls recht«, sagte ihre Mutter. »Ich rufe Christian im Laufe des Nachmittags an und frage ihn, was er davon hält. Ich gebe dir dann rechtzeitig Bescheid.«
Da Anja es jetzt wirklich eilig hatte, in die Dienststelle zu kommen, verabschiedeten sie sich daraufhin voneinander und beendeten das Gespräch.
KAPITEL 8
I
Als sie ins Büro zurückkehrte, saß Daniel Braun wieder hinter seinem Schreibtisch. Er begrüßte sie lächelnd, konnte es sich aber nicht verkneifen, einen demonstrativen Blick auf die Uhr zu werfen, um zu verdeutlichen, dass sie fünf Minuten zu spät aus ihrer Mittagspause kam. Da er regelmäßig zu spät kam, macht es ihm besonders viel Spaß, sie zu ärgern, wenn sie sich ausnahmsweise verspätete.
Leck mich, Braun!, hätte sie am liebsten gesagt, verkniff es sich aber. Eigentlich kamen sie ganz gut miteinander aus. Anja schätzte an ihm vor allem, dass er sie nicht die ganze Zeit vollquatschte oder mit Fragen nach ihrem Privatleben löcherte, denn das konnte sie überhaupt nicht leiden. Sie hätte es bei ihrem Zimmerkollegen also auch schlechter treffen können. Deshalb wollte sie ihn nicht gegen sich aufbringen, was nur die Atmosphäre vergiftet hätte; und darunter hätten sie beide zu leiden.
Braun redete nicht, sondern widmete sich wieder der Akte, die er bei ihrem Kommen bearbeitet hatte. Entweder war er eingeschnappt, weil sie am Vormittag so kurz angebunden und einsilbig gewesen war, oder er hatte selbst im Augenblick keine Lust zum Reden, was bei ihm ebenfalls häufig vorkam und ihn in ihren Augen noch sympathischer machte.
Auch Anja schwieg und widmete sich dem Inhalt der ersten der beiden Akten, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Obwohl sie die darin enthaltenen Dokumente in den letzten zehn Wochen bereits unzählige Male aufmerksam studiert hatte und beinahe schon auswendig kannte, hoffte sie wider besseren Wissens, dass sie dieses Mal im Licht ihrer neu gewonnenen Erkenntnisse auf etwas stieß, das sie all die Male zuvor übersehen hatte. Allerdings enthielt die Akte nur ein paar magere Blätter; daher hatte Anja auch wenig Hoffnung, sie könnte etwas entdecken, das sie bislang noch nicht gesehen hatte.
Es handelte sich dabei um eine Kopie der Akte der Todesermittler, die vor dreiundzwanzig Jahren den vorgeblichen Selbstmord ihres Vaters untersucht hatten.
Die Todesermittler vom K12 werden immer dann gerufen, wenn nach einem Leichenfund eine nicht natürliche oder zumindest eine ungeklärte Todesursache festgestellt wurde. Ihre Aufgabe ist es, den Leichnam, die Lebensumstände der verstorbenen Person und die näheren Todesumstände zu untersuchen und zu ermitteln, ob bei dem Todesfall ein Fremdverschulden definitiv ausgeschlossen werden kann. Ist das nicht der Fall, geben sie den Leichnam auch nicht frei, sondern regen stattdessen an, eine Obduktion durchzuführen. Kommen sie im Laufe ihrer Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass ein Mord vorliegt, übergeben sie den Fall an die Mordkommission.
Anja hatte vor zweieinhalb Monaten im Archiv Einsicht in die Akte genommen und sich Kopien der wichtigsten Dokumente angefertigt. Allerdings hatte sie bei der Gelegenheit bewusst darauf verzichtet, sich auch die Fotos im Anhang anzusehen, auf denen die Leiche ihres Vaters zu sehen war. Als sie ihn damals gefunden hatte, hatte sich sein Anblick unauslöschlich in ihre Erinnerung eingebrannt, sodass er ihr bis heute in allen Einzelheiten gegenwärtig war. Außerdem hatte sie seit damals immer wieder davon geträumt. Und sie besaß jetzt natürlich das Polaroidfoto, das der Mörder ihr geschickt hatte und das ihren Vater unmittelbar vor seinem Tod zeigte. Es steckte im hinteren Teil des Dossiers in einer Klarsichthülle.
Ansonsten enthielt die dünne Akte lediglich den Obduktionsbericht des Pathologen und den sogenannten Ablebensbericht eines der beiden Todesermittler, die für den Fall zuständig gewesen waren. Sowohl der Rechtsmediziner als auch der Ermittler waren zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Hinweise für ein Fremdverschulden gegeben und der Verstorbene seinem Leben selbsttätig und eigenverantwortlich ein Ende gesetzt hatte.
Anja seufzte missmutig. Das alles wusste sie bereits und brachte sie keinen Schritt weiter.
Braun sah auf und warf ihr einen fragenden Blick zu. Doch Anja tat, als wäre sie so sehr in die Akte vertieft, dass sie es nicht bemerkte. Nach wenigen Augenblicken senkte er den Blick und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Anja nahm einen Notizzettel und notierte sich die Namen der beiden Todesermittler und des Gerichtsmediziners. Sie hatte vor, die drei Männer zu befragen. Vielleicht, so ihre Hoffnung, erinnerten sie sich an ein Detail, das keinen Eingang in die offizielle Akte gefunden hatte, weil sie es damals für unwichtig gehalten hatten und ohnehin davon überzeugt gewesen waren, dass es sich um einen Suizid gehandelt hatte.
Anschließend schloss Anja die dünne Mappe und schob sie unter die zweite, die im Gegensatz dazu erheblich umfangreicher war.
Auch dabei handelte es sich um Kopien der wichtigsten Dokumente einer Ermittlungsakte. Allerdings ging es darin nicht um den Tod eines einzelnen Menschen, sondern um das bis heute ungeklärte spurlose Verschwinden von drei jungen Mädchen vor dreiundzwanzig Jahren.
II
Die Erste, die damals verschwand, hieß Melanie Brunner. Das Mädchen mit den auffallend langen dunkelbraunen Haaren hatte erst vor wenigen Wochen seinen zwölften Geburtstag gefeiert. Es lebte mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern im Münchner Stadtteil Pasing und besuchte dort das städtische Bertolt-Brecht-Gymnasium für Mädchen.
Am Tag ihres Verschwindens fuhren Melanie und zwei Schulfreundinnen nachmittags mit der S-Bahn zum Marienplatz. Sie wollten in der Innenstadt durch die Modeboutiquen bummeln und Klamotten kaufen. Drei Stunden später kehrten sie zurück und trennten sich unweit des Bahnhofs München-Pasing, weil Melanie einen anderen Nachhauseweg als ihre Freundinnen hatte. Doch im Gegensatz zu den beiden anderen Mädchen kam Melanie nie zu Hause an. Obwohl sie nur einen knappen halben Kilometer zurückzulegen hatte, um zu ihrem Elternhaus zu kommen, verschwand sie dennoch auf dem Weg dorthin, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen, die Aufschluss darüber gab, was ihr widerfahren war. Und kein Mensch hatte sie nach der Trennung von ihren Freundinnen auf dem kurzen Nachhauseweg gesehen oder an diesem Tag sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt.
Eine Vermisstenfahndung wird in der Regel erst dann eingeleitet, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens hat die vermisste Person ihren gewohnten Lebensbereich verlassen. Zweitens ist ihr derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt. Und drittens muss davon ausgegangen werden, dass eine Gefahr für ihren Leib oder ihr Leben besteht, weil sie möglicherweise Opfer einer Straftat oder eines Unfalls wurde, sie hilflos ist oder gar die Absicht hegt, sich selbst etwas anzutun. Die letzte Voraussetzung gilt allerdings nur für vermisste Erwachsene. Sie haben, sofern sie im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen, ohne Angehörige oder Freunde darüber informieren zu müssen. Minderjährige dürfen hingegen ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen. Haben sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen und ist ihr Aufenthalt unbekannt, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie in Gefahr sind. Dabei gilt vor allem: je jünger das Kind, desto größer auch die Gefahr. Minderjährige werden daher sofort als vermisst angesehen.
Zur Entgegennahme von Anzeigen über vermisste Personen und zur Einleitung von Sofortmaßnahmen ist grundsätzlich jeder Polizeibeamte verpflichtet. Zuständig für die Bearbeitung des Vermisstenfalls ist zunächst die Polizeidienststelle, in deren Bereich sich der letzte Aufenthalts- oder Wohnort der vermissten Person befindet. Werden Kinder vermisst oder stoßen die örtlichen Dienststellen an ihre Grenzen, wird das zuständige Fachkommissariat, die sogenannte Vermisstenstelle, eingeschaltet.
Die ermittelnden Beamten vom K14 müssen dann alle Maßnahmen treffen, die zur Feststellung des Verbleibs der vermissten Person führen können. Außerdem klären sie nach Möglichkeit die Ursachen und näheren Umstände des Verschwindens und stellen fest, ob die vermisste Person möglicherweise Opfer einer Straftat, eines Suizids oder eines Unfalls wurde.
Der Fall der zwölfjährigen Melanie Brunner landete daher schon kurz nach ihrem Verschwinden auf dem Schreibtisch von Kriminalhauptkommissar Frank Kramer, der den Ernst der Lage augenblicklich erkannte, der sich vor allem aufgrund des Alters des Mädchens ergab. Er leitete deshalb umgehend die gesamte Palette an Fahndungsmaßnahmen ein, die ihm in diesem frühen Stadium der Ermittlungen zur Verfügung standen.
So befragte er beispielsweise sämtliche Bezugspersonen des Kindes, unter anderem natürlich die Eltern, die die Vermisstenanzeige aufgegeben hatten, die beiden Freundinnen, die die Letzten waren, die Melanie gesehen hatten, und ihre Lehrer. Doch niemand konnte sich das Verschwinden erklären oder hatte Hinweise, dass Melanie von sich aus von zu Hause ausgerissen sein könnte. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, die überall nur gute Noten erhielt und ausgesprochen gern zur Schule ging. Sie hatte auch weder Liebeskummer, noch gab es zu Hause Ärger, der sie zu einer Verzweiflungstat veranlasst haben könnte. Das Motiv und der Hergang ihres Verschwindens blieben daher ein einziges großes Rätsel.
Als Standartmaßnahme durchsuchte Frank schon bald das Zimmer des Mädchens und wertete ihr Tagebuch aus, ohne dabei allerdings auf etwas zu stoßen, das ihm verdächtig erschien. Außerdem sorgte er dafür, dass das ganze Gebiet zwischen dem Bahnhof und dem Elternhaus und sämtliche Wege, die Melanie genommen haben könnte, gründlich abgesucht und alle Anwohner und potenziellen Zeugen befragt wurden. Darüber hinaus ließ er das vermisste Mädchen im Informationssystem der Polizei, das abgekürzt INPOL genannt wird, ausschreiben sowie sämtliche Funkstreifen im Stadtgebiet nach ihr Ausschau halten und leitete schließlich auch noch eine Öffentlichkeitsfahndung in der Presse und anderen Medien ein. Doch trotz all dieser Fahndungsinstrumente kam er keinen einzigen Schritt weiter.
Dann verschwand dreieinhalb Wochen nach dem ersten ein zweites Mädchen.
III
Daniela Forstner war elf Jahre und neun Monate alt. Sie lebte mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einem Wohnblock in der Nähe des S-Bahnhofs München-Westkreuz im Osten des Stadtteils Aubing.
Die Elfjährige verschwand auf dem Heimweg von der Hauptschule in der Reichenaustraße, in der sie die fünfte Klasse besuchte, obwohl es sich nur um einen kurzen Fußweg von zehn Minuten handelte. Da die Mutter Kassiererin in einem nahen Supermarkt war und erst spät nach Hause kam, wurde das Verschwinden des Kindes erst am Abend entdeckt.
Der für den Fall zuständige Ermittler der Vermisstenstelle hieß Hans Baumgartner und setzte, nachdem er ihm zugeteilt worden war, ebenfalls umgehend sämtliche verfügbaren Hebel in Bewegung. Doch auch in diesem Fall gab es, wie schon beim Verschwinden von Melanie Brunner, keinerlei verwertbaren Spuren oder Hinweise, wo das Kind sich aufhielt und was ihm zugestoßen war.
Obwohl damit innerhalb weniger Wochen nicht weit voneinander entfernt bereits zwei Mädchen in ähnlichem Alter spurlos verschwunden waren, wollten die Ermittler noch nicht an einen Zusammenhang glauben. Die beiden Kriminalhauptkommissare Frank Kramer und Hans Baumgartner verglichen zwar sämtliche Details und die mageren Ermittlungsergebnisse beider Fälle miteinander, fanden jedoch keine Gemeinsamkeiten oder Übereinstimmungen. Wie es aussah, waren sich die beiden Mädchen nie begegnet. Sie hatten verschiedene Kindergärten und Schulen besucht, kamen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, hatten keine gemeinsamen Freunde oder Bekannte und auch keine übereinstimmenden Interessen oder Hobbys. Das einzige Merkmal, das sowohl Melanie als auch Daniela besaßen und das sie verband, waren ihre auffallend langen dunkelbraunen Haare. Doch das konnte auch Zufall sein und genügte nach Meinung der Ermittler nicht, um einen Zusammenhang zu konstruieren oder gar auf ein und denselben Täter zu schließen. Denn mittlerweile waren die Beamten überzeugt, dass die Kinder nicht freiwillig verschwunden waren, sondern vermutlich Opfer einer Straftat geworden waren.
Die Einschätzung der Polizisten änderte sich allerdings, als zweieinhalb Wochen nach Daniela Forstner das dritte Mädchen mit auffallend langen dunkelbraunen Haaren verschwand.
IV
Helena König war ebenfalls erst elf Jahre alt. Sie wohnte mit ihren Eltern und einem zwei Jahre älteren Bruder im Stadtteil Obermenzing und ging aufs Gymnasium. An zwei Nachmittagen in der Woche besuchte das Mädchen zudem eine Musikschule und hatte dort Klavierunterricht. Im Sommer fuhr Helena die etwas über einen Kilometer lange Strecke mit dem Fahrrad, im Winter ging sie hingegen zu Fuß.
Als sie am Tag ihres Verschwindens um achtzehn Uhr dreißig noch immer nicht nach Hause gekommen war, obwohl der Klavierunterricht schon seit einer halben Stunde beendet war, rief die besorgte Mutter den Klavierlehrer an. Doch der konnte ihr nur mitteilen, dass er den Unterricht pünktlich beendet und gesehen hatte, wie Helena vor der Musikschule auf ihr Fahrrad gestiegen und losgeradelt war. Daraufhin setzte sich der Vater kurzerhand ins Auto, fuhr die Strecke und sämtliche Nebenstraßen ab und suchte nach seiner Tochter. Als er fünfundvierzig Minuten später zurückkam, ohne das Kind oder ihr Fahrrad gefunden zu haben, beschloss das Ehepaar, den Vater einer Klassenkameradin ihrer Tochter anzurufen, der zufälligerweise bei der Vermisstenstelle arbeitete und Frank Kramer hieß.
Erneut setzte Anjas Vater alles daran, das Kind zu finden oder zumindest herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Doch wie in den beiden vorangegangenen Fällen gab es auch hier weder eine Spur noch den kleinsten Hinweis, was dem Mädchen widerfahren war. Sogar das auffällige Fahrrad blieb wie seine Besitzerin unauffindbar.
Da alle drei Mädchen innerhalb kurzer Zeit und in unmittelbarer Nähe zueinander verschwunden waren, wurde jetzt eine Sonderkommission unter der Leitung von Frank Kramer und Hans Baumgartner gebildet. Denn niemand glaubte noch länger daran, dass die drei Vermisstenfälle nichts miteinander zu tun hatten und es nur ein Zufall war. Die Beamten ermittelten fieberhaft, um herauszufinden, was die Mädchen außer ihren Haaren, ihrer Statur und ungefähren Größe und einer entfernten Ähnlichkeit in den Gesichtszügen noch alles gemeinsam gehabt hatten, um ins Visier ihres Entführers zu geraten. Doch sosehr sie auch suchten, stießen all ihre Bemühungen dennoch ins Leere. Die einzige weitere Gemeinsamkeit zwischen den Vermisstenfällen war allenfalls, dass es keinerlei Spuren, Hinweise oder Zeugen des Verschwindens gab. Es erschien beinahe so, als hätten sich die Mädchen auf dem Nachhauseweg urplötzlich einfach in Luft aufgelöst, ohne dass es jemand mitbekommen hatte. Aber das konnte natürlich nicht die Lösung sein. Vielmehr musste es einen Grund dafür geben, dass ausgerechnet diese drei Mädchen verschwunden waren. Und es musste einen Ort geben, an dem sie nach ihrem Verschwinden gelandet waren. Doch ohne jegliche Spuren und Hinweise konnte kein Fall aufgeklärt werden. Alles, was sie Beamten tun konnten, so schwer es ihnen auch fiel und so furchtbar der Gedanke auch war, bestand darin, darauf zu warten, dass der Täter erneut zuschlug. Denn mittlerweile waren alle Beteiligten davon überzeugt, dass die drei Vermisstenfälle auf das Konto ein und desselben Täters gingen. Und daher hofften sie, dass der Unbekannte dieses Mal einen Fehler beging, der es den Polizisten ermöglichte, ihm und seinen Opfern endlich auf die Spur zu kommen.
Weder die ermittelnden Beamten noch die betroffenen Eltern gaben sich irgendwelchen Illusionen hin, sondern schätzten die Chancen, die Mädchen lebend wiederzusehen, von Tag zu Tag geringer ein. Auch wenn niemand es laut aussprach, sondern den anderen gegenüber entgegen der eigenen Überzeugung weiterhin so tat, als könnten Melanie, Daniela und Helena jeden Moment putzmunter durch die Tür marschieren.
Doch immer mehr Tage voller ergebnisloser, frustrierender Ermittlungsarbeit vergingen. Und bevor der Täter ein weiteres Mal zuschlagen oder eines der Mädchen – tot oder lebendig – gefunden werden konnte, starb für alle vollkommen überraschend einer der beiden Leiter der Soko.
V
Nachdem Frank Kramer von seiner zwölfjährigen Tochter erhängt im häuslichen Arbeitszimmer gefunden worden war, herrschte unter seinen Kollegen die nahezu einhellige Meinung, dass er sich umgebracht hatte, weil es ihm und der Sonderkommission nicht gelungen war, auch nur einen einzigen Schritt weiterzukommen und die drei Mädchen zu finden. Dabei hatte er nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er dies hätte zum Ausdruck bringen können.
Die Soko wurde daraufhin nur noch von Hans Baumgartner geleitet. Doch auch seine Tage als Leiter waren gezählt, denn wenig später übernahm eine Kriminaloberkommissarin namens Sabine Schwarzmüller diese Aufgabe.
Anja fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Baumgartner damals ersetzt worden war. Hatte er resigniert und keinen Sinn mehr in der Suche nach den vermissten Mädchen und ihrem Entführer gesehen? War ihm der vermeintliche Suizid ihres Vaters derart nahegegangen, dass er die Soko nicht weiter führen konnte? Oder waren seine Vorgesetzten der Meinung gewesen, sie müssten ihn durch jemanden ersetzen, der in der Lage war, neue Impulse zu setzen und den verfahrenen Ermittlungen neuen Schwung zu verleihen?
Sie erinnerte sich, dass sie Baumgartner vor dem Tod ihres Vaters mehrere Male gesehen hatte. Die beiden waren befreundet gewesen und hatten sich auch privat getroffen. Er war auch zur Beerdigung gekommen und hatte ihrer Mutter und ihr sein Beileid ausgesprochen und den verstorbenen Freund und Kollegen dabei in den höchsten Tönen gelobt. Doch danach war sie ihm nie wieder begegnet und wusste daher auch nicht, was aus ihm geworden war. Denn als sie viele Jahre später ihren Dienst in der Vermisstenstelle angetreten hatte, war er schon nicht mehr da gewesen.
Anja notierte sich seinen und den Namen seiner Nachfolgerin auf ihrem Notizzettel, bevor sie weiterlas.
VI
Der belebende Effekt, den sich die Polizeioberen durch die Ernennung von Sabine Schwarzmüller zur Leiterin der Sonderkommission möglicherweise erhofft hatten, verpuffte jedoch, denn auch danach gab es in den Fällen der drei vermissten Mädchen keinerlei Fortschritte. Die Ermittler traten weiterhin auf der Stelle, denn es gab keine Spuren oder Hinweise, denen sie nachgehen konnten. Außerdem gab es genügend offene und neue Vermisstenfälle, für die sie weiterhin zuständig waren und denen sie sich vermehrt widmen mussten, sodass für die festgefahrene Soko immer weniger Zeit blieb.
Es erweckte in Anja im Nachhinein den Eindruck, als hätten alle nur darauf gewartet, dass ein weiteres elf- oder zwölfjähriges Mädchen mit langem dunkelbraunem Haar verschwand oder zumindest die Leiche eines bereits vermissten Kindes gefunden wurde. Beides hätte, so schrecklich es auch gewesen wäre, neuen Schwung in die zum Erliegen gekommenen Ermittlungen gebracht. Doch nichts davon geschah.
Und so wurde die Soko wenige Monate nach dem Tod ihres Vaters aufgelöst. Zuständig für die Fälle der drei Mädchen war von da an allein die ehemalige Leiterin. Allerdings galten sie bereits als ausermittelt und kamen daher zu den Altfällen, die nicht mehr intensiv bearbeitet, sondern nur noch in regelmäßigen Abständen hervorgeholt und daraufhin überprüft wurden, ob es möglicherweise neue Ansatzpunkte gab.