Kitabı oku: «SCHRECKENSNÄCHTE», sayfa 3

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Auch Elke musterte den nächtlichen Besucher, der vor ihr im Treppenhaus stand, aufmerksam. Sie musste allerdings mit Entsetzen feststellen, dass er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen von damals hatte, mit dem sie fast zwei Jahre lang zusammen gewesen war. Der Mann vor ihr sah nämlich eher aus wie etwas, das die Katze nach einem nächtlichen Beutezug nach Hause schleppt, nachdem sie es stundenlang gequält hat, und dann als Geschenk an ihre menschlichen Dienstboten auf der Türschwelle liegen lässt.

Er muss krank sein!, war daher Elkes erster Gedanke. Denn ihrer Meinung nach konnte sich kein Mensch in wenigen Jahren in solch einem Ausmaß verändern, wenn mit ihm gesundheitlich alles in Ordnung war.

Als sie ihn verlassen hatte, war er ein etwas pickeliger, aber dennoch attraktiver, lebenslustiger junger Mann von fast neunzehn Jahren gewesen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie seine großen dunkelbraunen Augen sie traurig angesehen hatten, nachdem sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie nicht nur ihre Beziehung beenden, sondern sogar aus dem Ort wegziehen würde.

Er hatte sie damals gar nicht nach den Gründen gefragt, weder für die Trennung noch für den Umzug. »Wenn du woanders hinziehst, ist eine Trennung vermutlich unumgänglich, obwohl es momentan noch verdammt wehtut«, hatte er bemüht tapfer gesagt und ihr zum Abschied einen letzten Kuss gegeben, allerdings nicht mehr auf den Mund, sondern nur noch auf die Stirn. Anschließend hatte er sich ohne ein weiteres Wort umgedreht und war mit hängendem Kopf weggegangen. Seine Schultern und sein Oberkörper hatten dabei gezuckt, als hätte er heftig geweint. Er hatte sich aber nicht mehr nach ihr umgesehen, während sie ihm hinterhergeblickt hatte, und seit diesem Moment hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Rückblickend erkannte sie, dass es vermutlich das einzige Mal gewesen war, als sie ihn wirklich unglücklich gesehen hatte, denn sonst war er stets fröhlich und gut gelaunt gewesen. Und so überkamen sie plötzlich heftige Schuldgefühle, als sie sich fragte, ob etwa sie an seinem jetzigen Zustand schuld war, weil sie ihn damals verlassen hatte? Aber nein, beantwortete sie ihre Frage sogleich selbst, eine Trennung konnte doch nicht die Ursache für eine derart radikale Veränderung sein. Oder doch?

Aufgrund der lebhaften Erinnerung hatte sie noch immer ein deutliches Bild seines früheren Selbst vor Augen, das sich nun wie eine Doppelbelichtung über das schob, was sie vor sich sah, und so einen unmittelbaren Vergleich erlaubte.

Damals hatte er sein dunkelbraunes Haar schulterlang getragen und täglich gewaschen. Außerdem war stets tadellos rasiert gewesen. Sein jetziges Aussehen war Welten davon entfernt, sodass sie sich sie in diesem Moment am liebsten umgedreht hätte, zurück in ihre Wohnung gerannt wäre, die Tür hinter sich zugeschlagen und den Schlüssel umgedreht hätte. Denn der Mann, der ihr im kalten Licht der Treppenhausbeleuchtung gegenüberstand, konnte nie und nimmer derselbe Mensch sein, den ihre Erinnerung ihr zeigte. Stattdessen schien ein Fremdling vor ihr zu stehen, dem sie noch nie zuvor begegnet war.

Doch sie unterdrückte den Fluchtreflex und blieb, wo sie war, denn ihr Verstand wusste es besser und erkannte an einigen wenigen charakteristischen und unveränderlichen Merkmalen, dass es doch stimmte und es sich tatsächlich um Rainer handelte. Aber was konnte geschehen sein, dass sich ein Mensch innerhalb weniger Jahre so dramatisch zu seinem Nachteil verändert hatte?

Vielleicht ist das ja sein anderes, sein wahres Ich, flüsterte etwas in ihr, das sie nur entfernt an ihre eigene Stimme erinnerte, weil sie viel kühler, rationaler und emotionsloser klang. Das ist vermutlich die dunkle, zerstörerische Seite von ihm, die erst zum Vorschein kam, nachdem wir uns getrennt hatten. Doch sie brachte die innere Stimme, deren Emotionslosigkeit sie frösteln ließ, energisch zum Verstummen, und sah den Mann, der so fremd auf sie wirkte, stattdessen noch einmal etwas genauer an.

Wie das sprichwörtliche Gestalt gewordene Häufchen Elend stand er vor ihr und schien nicht nur etwas mehr als die vier Jahre, die tatsächlich vergangen waren, sondern mindestens zehn Jahre älter geworden zu sein. Die ehemals schulterlangen Haare waren nur noch halb so lang wie ein Streichholz und ungepflegt, und die verklebten Strähnen standen wie Borsten vom Kopf ab. Elke erkannte sogar einen Streifen aus weißem Haar, der sich wie eine gekrümmte Schlange quer über den Kopf zog. Rainers untere Gesichtshälfte war von schmutzstarrenden, teilweise ergrauten Bartstoppeln übersät, und der Mund war zu einem Ausdruck voller Bitterkeit verzogen, der auf lang erduldetes Leid hinzuweisen schien. Das Gesicht war so eingefallen und hager, dass man deutlich die darunterliegenden Knochen des Schädels erkennen konnte, und zahlreiche tiefe Furchen hatten sich kreuz und quer in die Haut gegraben, was vorwiegend dazu beitrug, ihn wesentlich älter aussehen zu lassen, als er tatsächlich war.

Doch was sie in diesem Moment an ihm am meisten erschreckte, waren seine Augen, die wie zwei entzündete Wunden wirkten. Sie waren dunkel umrandet und blutunterlaufen, lagen tief in ihren Höhlen und glänzten fiebrig. Vor allem gefiel Elke der Blick nicht, mit dem Rainer sie ansah, obwohl sie gar nicht hätte sagen können, was der sonderbare Ausdruck darin zu bedeuten hatte. Dennoch ließ er sie unwillkürlich erschaudern und machte ihr Angst. Man sagt ja, dachte sie, dass die Augen die Fenster zur Seele seien. Doch wenn das tatsächlich so war, dann wollte Elke lieber keinen intensiveren Blick durch diese beiden Fenster in Rainers Inneres werfen.

Siehst du denn nicht, dass er wahnsinnig ist und vermutlich komplett den Verstand verloren hat?, meldete sich erneut die Stimme in ihrem Kopf mit neu gewonnener Kraft zu Wort.

Doch bevor sie genauer über diese naheliegende Vermutung und die möglichen Konsequenzen für sich selbst nachdenken konnte, fiel ihr zum ersten Mal die Wunde in der Mitte seiner Stirn auf. Sie wirkte frisch, blutete allerdings nicht mehr, sondern war von einer dünnen Kruste aus geronnenem Blut bedeckt. Sie sah aus wie ein Stigma. Ihre berechtigten Zweifel an seiner geistigen Gesundheit wurden mit einem Schlag in den Hintergrund ihres Denkens gedrängt, als sie realisierte, dass er verletzt war und Hilfe benötigte. Und da sie in der Lage war, ihm zu helfen, indem sie ihn in ihre warme Wohnung ließ, ihm trockene Sachen zum Anziehen gab und seine Wunde verarztete, zögerte sie nun auch nicht mehr länger.

»O mein Gott, Rainer, du hast dir ja wehgetan!« Sie ging zu ihm, nahm den noch immer Reglosen kurzerhand am Arm und zog ihn mit sich in ihre Wohnung. Er ließ es geradezu emotionslos und teilnahmslos über sich ergehen, während seine Augen noch immer an ihrem Gesicht hingen, als wollte er jede einzelne neu hinzugekommene Linie darin erkunden. Elke konnte nun keine Spur mehr von dem entdecken, was ihr zuvor Angst eingejagt hatte, sondern nur noch das Leid und die Qualen darin erkennen, die er durchgemacht haben musste. Sie verbannte daher fürs Erste alle Zweifel und Ängste aus ihrem Bewusstsein – Habe ich mich denn tatsächlich vor ihm, vor Rainer gefürchtet?, fragte sie sich verwundert. –, denn es war nun wichtiger, dass seine Verletzung versorgt wurde und er aus den nassen Sachen und ins Warme kam. »Los, komm mit! Ich werde deine Wunde versorgen. Das sieht ja böse aus. Wer hat dich denn so zugerichtet?« Die Worte sprudelten jetzt nur so aus ihr heraus, als wollte sie die emotionslose Stimme in ihrem Hinterkopf damit zum Schweigen bringen.

Doch die Zweifel waren, einmal geweckt, hartnäckig und ließen sich nicht so einfach beiseite drängen. Wie unerwünschte Besucher klopften sie erneut leise an die Pforte ihres Verstandes und begehrten energisch Einlass in ihr Denken. Was ist nur mit ihm geschehen?, fragten sie. Und weiter: Vor wem oder was fürchtet er sich nur dermaßen? Denn dass er große Angst hatte, das konnte man deutlich sehen? Und ist das, vor dem er davonzulaufen scheint, noch immer hinter ihm her? Wird es ihn vielleicht sogar bis hierher, bis in meine Wohnung verfolgen? Eine Frage folgte der anderen, bis sie in ihrem Verstand umeinander kreiselten wie in einem Kettenkarussell.

Elke hatte jetzt jedoch weder Zeit noch Lust, sich Gedanken über mögliche Antworten auf diese Fragen zu machen. Daher schloss sie nicht nur energisch die Wohnungstür hinter ihnen, sondern gleichzeitig auch in ihrem Verstand eine imaginäre Tür zwischen ihrem Denken und den wirbelnden Fragen.

Sie ließ Rainers Arm los, der kraftlos nach unten fiel wie bei einer Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren. Für den Bruchteil einer Sekunde verkrampften sich die Finger zitternd und ballten sich zur Faust, ehe sie sich wieder entspannten.

Während sie das beobachtete, lief Elke ein weiterer Schauder über den Rücken, der sich wie ein eiskalter Knochenfinger anfühlte, der an ihrer Wirbelsäule entlang nach unten strich. Sie befand sich in einem inneren Zwiespalt, denn einerseits litt sie mit Rainer und wollte ihm unbedingt helfen, andererseits machte er ihr aber auch ein bisschen Angst. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, vor was sie sich mehr fürchtete: vor Rainer selbst oder vor dem, was in der Lage war, ihm solche Angst einzujagen, und vor dem er davonlief.

»Ich bin hingefallen«, sagte er plötzlich in einer Art und Weise, die sie unweigerlich an ein kleines Kind erinnerte. Es dauerte einen kurzen Moment, bevor Elke begriff, dass es sich um die verspätete Antwort auf ihre Frage nach seiner Stirnverletzung handelte. Trotzdem erweckte er noch immer den Eindruck eines Schlafwandlers, wie er mit herabbaumelnden Armen und schlaffem Gesichtsausdruck vor ihr stand. Er sah ihr zwar in die Augen, schien sie jedoch überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern durch sie hindurchzusehen.

Dann jedoch straffte sich sein Körper, und er schien wieder in die Realität zurückzufinden, als wäre er soeben aus einem Traum erwacht. In seine Augen kehrte Leben zurück, und er sagte mit flehender Stimme: »Elke, du musst mir unbedingt helfen!«

Sie sagte nichts dazu, nahm ihn stattdessen erneut am Arm und ging mit ihm durch den Flur ins Wohnzimmer, wo sie ihn wortlos zu einem schwarzen Ledersessel führte. Er nahm zwar gehorsam Platz, als sie ihn mit einer Geste dazu aufforderte, doch sein ganzer Körper wirkte dabei angespannt und wie auf dem Sprung, als rechnete er damit, jeden Moment wieder aufspringen und davonlaufen zu müssen.

Sie bemühte sich, ihn zu beruhigen und ihm ein wenig seiner Angst zu nehmen. »Natürlich helfe ich dir, soweit ich dazu in der Lage bin, Rainer. Das versteht sich doch von selbst. Aber zuallererst werde ich mich um deine Verletzung kümmern. Ich muss den Dreck entfernen, damit sie sich nicht entzündet. Aber vorher ziehst du gefälligst die nassen Sachen aus. Ich hol dir so lange trockene Sachen zum Anziehen.«

Er nickte wie ein folgsames Kind, das artig seiner Mutter zuhörte, während Elke erstmals seine Kleidung genauer in Augenschein nahm. Sie war nicht nur nass, wie sie jetzt sah, sondern auch ziemlich verdreckt, so als hätte er darin mehrere Tage und Nächte im Wald verbracht. Außerdem waren es offensichtlich keine Kleidungsstücke, die man in seiner Freizeit anhatte. Es handelte sich um eine Hose, ein Hemd und eine kurze Jacke aus strapazierfähigem, blauem Stoff, die der robusten Berufsbekleidung von Handwerkern oder Bauarbeitern ähnelten. Trotz des festen, groben Stoffs waren die Kleidungsstücke für die gegenwärtige Witterung viel zu dünn, sodass es kein Wunder war, dass Rainer einen durchgefrorenen Eindruck machte. Darüber hinaus waren ihm die Sachen mindestens eine Nummer zu groß, unmodern geschnitten und wirkten eher wie die Kleidung eines Strafgefangenen oder eines …

Sie würgte den Gedanken ab, ehe er sich vervollständigen konnte, schüttelte energisch den Kopf und schalt sich selbst eine Närrin. Rainer benötigte jetzt zuallererst ihre Hilfe. Seine Wunde musste versorgt werden und er brauchte trockene Sachen zum Anziehen. Über alles andere konnte sie sich später immer noch Gedanken machen.

Sie wandte sich abrupt ab und verließ das Wohnzimmer, um trockene Kleidung aus ihrem Schlafzimmer und Verbandsmaterial aus dem Bad zu holen.

6

Nachdem Elke ihn allein gelassen hatte, sah sich Rainer zum ersten Mal genauer in dem kleinen Wohnzimmer um, in dem er gelandet war. Dabei löste sich nach und nach seine innere Anspannung, und er begann langsam damit, sein Hemd aufzuknöpfen.

Sein interessierter Blick fiel als Erstes auf eine Schrankwand aus hellem Holz, die beinahe die gesamte Längswand einnahm, die dem noch immer offen stehenden Fenster gegenüberlag. In den zahlreichen Fächern standen die üblichen Dinge: Bücher, Bilderrahmen, Fotoalben, eine kleine kompakte Stereoanlage, ein Fernsehgerät und verschiedene Ziergegenstände aus Porzellan und Glas. Ein Stück weiter rechts, neben der Tür, stand ein kleineres Rattan-Regal, auf dem mehrere Zimmerpflanzen ihren Platz gefunden hatten. Den Rest des Raumes nahm eine lederne Sitzgruppe ein, die aus einer kleinen Couch und zwei Sesseln bestand, die sich um einen niedrigen Couchtisch mit gläserner Platte gruppierten. Und überall an den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Zeichnungen in den unterschiedlichsten Größen.

Auch ohne einen näheren Blick auf die Bilder wusste er, dass sie ausnahmslos von Elke stammten. Schon damals, als sie noch in ihrem gemeinsamen Heimatort gelebt hatte und sie miteinander gegangen waren, wie man so sagte, war sie eine begabte Zeichnerin gewesen und musste ihr Talent an der hiesigen Kunsthochschule in den letzten Jahren noch um Einiges verfeinert haben.

Als sie noch zusammen gewesen waren, hatte sie auch von ihm ein Porträt gezeichnet und ihm zum neunzehnten Geburtstag geschenkt. Nach ihrer Trennung hatte er die gerahmte Zeichnung gehütet wie seinen Augapfel und ihr einen Ehrenplatz eingeräumt. Sie hatte direkt neben seinem Bett an der Wand gehangen, sodass er sie jeden Abend vor dem Einschlafen und jeden Morgen nach dem Aufwachen ansehen konnte. Und dabei hatte er stets sehnsuchtsvoll an Elke gedacht.

Doch er besaß das Bild längst nicht mehr. Es war den Flammen zum Opfer gefallen.

Der Gedanke genügte, um eine ganze Reihe von Erinnerungsbildern an das Feuer heraufzubeschwören, das sein gesamtes Hab und Gut vernichtet hatte. Doch daran wollte er jetzt gar nicht denken, sondern lieber den kostbaren Augenblick genießen in dem Wissen, dass er in Elkes Wohnzimmer saß und sie nur wenige Schritte von ihm entfernt war. Zum Glück kehrte Elke in diesem Moment ins Wohnzimmer zurück. Ihr Auftauchen lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf sie und sorgte dafür, dass sich die schlimmen Erinnerungen auflösten wie Nebelschwaden im Sonnenlicht. Über Elkes linkem Unterarm hing frische Wäsche, während sie in der rechten Hand einen kleinen Verbandskasten trug. Sie legte die Kleider auf den Glastisch und setzte sich dann neben ihn auf die Sessellehne.

»Dann lass uns mal mit dem Verarzten anfangen, Rainer«, sagte sie, während sie den Verbandskasten öffnete.

Rainer zuckte mehrere Male zusammen, als sie die verkrustete Wunde sorgfältig reinigte und dann mit Desinfektionsmittel behandelte, und zerbiss mehr als nur einen Schmerzenslaut tapfer zwischen den Zähnen. Doch die Behandlung war relativ rasch vorbei, da die Wunde nicht so schwerwiegend war, wie sie aussah. Zum Abschluss klebte Elke noch ein großes Pflaster über die Verletzung.

»Gut, das war’s schon«, sagte sie zufrieden, stand auf und ging zum Fenster, um es zu schließen. »Und jetzt zieh dich bitte um, bevor du dir in den nassen Sachen noch den Tod holst. Ich mach uns inzwischen Kaffee. Den können wir wahrscheinlich beide ganz gut gebrauchen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer erneut, um ihm Gelegenheit zu geben, sich ungestört umzuziehen.

Sobald Elke das Zimmer verlassen hatte, entledigte er sich rasch seiner Kleidung. Er fröstelte ein wenig, als er nur in Unterhose dastand, denn da das Fenster eine Weile offen gestanden hatte, war es etwas kühl im Zimmer.

Während er die trockenen Sachen anzog, die sie für ihn hingelegt hatte, echote ein Satz von Elke durch seinen Verstand, als wäre es ein Ohrwurm, den man im Radio gehört hat und nicht mehr aus dem Kopf kriegt: Und jetzt zieh dich bitte um, bevor du dir in den nassen Sachen noch den Tod holst, hatte sie gesagt. Dabei waren nasse Klamotten seine geringste Sorge, denn der Tod war ihm schon längst leibhaftig ganz dicht auf den Fersen und scherte sich vermutlich einen Dreck darum, ob er ihn in trockener oder nasser Kleidung in die Finger bekam. Auch jetzt, in diesem Moment, lauerte er irgendwo dort draußen, aber zweifellos ganz in der Nähe in der Finsternis und wartete nur auf den richtigen Moment und die passende Gelegenheit, um vernichtend zuschlagen zu können. Hoffentlich kam er wenigstens nicht auf die Idee, hierher in Elkes Wohnung zu kommen.

Nachdem Rainer sich fertig umgezogen und wieder hingesetzt hatte – die schlabbrige Jogginghose aus dunkelblauem Stoff, der weite Kapuzenpullover und die Tennissocken mussten Elke gehören, passten ihm aber trotzdem ganz gut, weil er viel dünner war als früher –, kehrte Elke zurück, in den Händen zwei große dampfende Tassen mit aromatisch duftendem Kaffee. Eine stellte sie vor ihm auf den Tisch. Er bedankte sich mit einem Nicken und nahm sofort einen großen Schluck. Elke setzte sich ihm gegenüber auf die Couch, schlug die Beine übereinander und trank aus ihrem Kaffeebecher, den sie mit beiden Händen umfasst hielt, als wäre ihr kalt und sie müsste sich daran aufwärmen.

Rainer schloss für einen Moment die Augen und genoss das angenehme Gefühl, als ihn die wohlschmeckende, heiße Flüssigkeit erfüllte und von innen wärmte. Um die angenehme Empfindung perfekt zu machen, fehlte seiner Meinung nach nur noch eine Dosis Nikotin. »Hast du auch Zigaretten da?«, fragte er Elke, während er darüber nachdachte, wie lange er schon nicht mehr geraucht hatte. Es musste Monate her sein, seit er sich zum letzten Mal eine Zigarette angesteckt hatte.

Elke nickte, stellte ihre Tasse auf den Tisch und brachte aus einer der beiden großräumigen Taschen an ihrem Morgenmantel eine Zigarettenschachtel und ein Einwegfeuerzeug zum Vorschein. Nachdem sie sich selbst eine Zigarette genommen und angezündet hatte, warf sie ihm Schachtel und Feuerzeug über den Tisch hinweg zu.

Es gelang ihm zumindest, mit einer Hand das Feuerzeug zu fangen. Die Schachtel landete in seinem Schoß, richtete dort jedoch aufgrund ihres geringen Gewichts keinen Schaden an.

»So, Rainer, jetzt erzähl mir aber bitte mal, was hier eigentlich los ist!«, forderte Elke ihn auf, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und mit dem Feuerzeug in Brand setzte. »Zuerst rufst du mich am Abend aus heiterem Himmel an, nachdem wir jahrelang nichts voneinander gehört haben, und zwar, wie du sagtest, vom Bahnhof, von wo man sogar zu Fuß in weniger als zwanzig Minuten hier sein kann. Dennoch dauert es anschließend fast fünf Stunden, bis du endlich hier aufkreuzt. Und dann auch noch in diesem erbärmlichen Zustand.« Dabei deutete sie mit der Hand, in der sie die Zigarette hielt, zuerst auf seine bepflasterte Stirn und danach auf die abgelegte, schmutzige Kleidung, die in einem Haufen auf dem Boden neben seinem Sessel lag.

»Sie … sie verfolgen mich!«, platzte es aus ihm heraus, bevor er auch nur überlegen konnte, wie er seine Geschichte vernünftigerweise beginnen sollte, ohne sofort wie ein Irrer mit Verfolgungswahn zu wirken.

Elke hob überrascht die Augenbrauen und machte den Mund auf, als wollte sie etwas darauf erwidern, schloss ihn dann aber doch wieder, ohne einen Laut von sich zu geben.

Durch ihr Schweigen fühlte sich Rainer ungewollt dazu veranlasst, weitere Einzelheiten preiszugeben, auch wenn ihm gleichzeitig bewusst war, dass sie Elke vermutlich wenig halfen, da sie momentan noch zu wenig wusste und deshalb die Zusammenhänge nicht kannte. »Sie kommen jedes Jahr zurück! Letztes Jahr konnte ich ihnen gerade noch entkommen, aber sie geben einfach keine Ruhe!«

»Von wem sprichst du überhaupt, Rainer?«, fragte Elke nun doch nach, als hätte sie erkannt, dass sie seine Überlegungen durch gezielte Fragen in die richtigen Bahnen lenken musste, um vernünftige Antworten zu bekommen und die Geschichte von Anfang an zu hören. »Wer gibt keine Ruhe? Etwa die Polizei? Und warum verfolgen sie dich? Hast du eine Dummheit begangen?«

»Eine Dummheit!«, wiederholte er und schüttelte heftig den Kopf. Dann winkte er mit der linken Hand ab, als wäre schon der Gedanke lächerlich und abwegig. Er seufzte tief, bevor er antwortete: »Nein, nicht die Polizei. Es ist … es ist viel schlimmer, denn die … die wollen mich nicht bloß verhaften oder verprügeln. Nein, die wollen mich umbringen!« Er wusste, dass sich seine Worte für sie anhören mussten wie aus einem Dialog in einem der grottenschlechten Filme, die im Fernsehen aus gutem Grund meist lange nach Mitternacht und nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt wurden. Aber im Moment fehlten ihm einfach die richtigen Gedanken und Worte, sich verständlicher auszudrücken. Und wer nicht wie er alles selbst erlebt hatte, der konnte es ohnehin nicht so leicht verstehen oder glauben. Er seufzte noch einmal, ehe er hilflos mit den Schultern zuckte. Er senkte den Blick und sah zu Boden, als wären dort mit viel Glück die Worte zu finden, nach denen er in seinem verwirrten Verstand bislang vergeblich gesucht hatte.

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