Kitabı oku: «SCHRECKENSNÄCHTE», sayfa 4

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»Umbringen?«, wiederholte Elke zögernd und skeptisch wie ein unsicher gewordenes Echo. »Aber wieso denn? Und wer überhaupt? Handelt es sich um Kriminelle? Hast du dich mit den falschen Leuten eingelassen?« Die Fragen, die seine Worte in ihr erzeugt hatten, schossen mit der Geschwindigkeit eines Schnellfeuergewehrs aus ihr heraus.

Elke war entsetzt, denn Rainers Probleme besaßen allem Anschein nach weitaus größere Dimensionen, als sie zunächst angenommen hatte. Sofern das, was er sagte, überhaupt stimmte. Schließlich hatte sie Rainer schon ganz am Anfang im Treppenhaus einen kurzen Moment lang für wahnsinnig gehalten. Vielleicht war er das ja tatsächlich und bildete sich in seinem Wahn imaginäre Verfolger ein, die es angeblich auf sein Leben abgesehen hatten. Verfolgungswahn oder Paranoia nannte man so etwas wohl. Und falls er ihr als Nächstes auch noch erzählte, dass er der einzige Mensch wäre, der die Welt vor diesen Unholden retten könnte, würde sie vermutlich keine Sekunde länger zögern, schnurstracks zum Telefon marschieren und die Polizei rufen. Aber noch schreckte sie vor diesem Schritt zurück, denn vielleicht tat sie ihm ja Unrecht, und er wurde wirklich verfolgt.

Rainer blinzelte nervös und schluckte krampfhaft, als hätte er einen dicken Kloß im Hals. Er vermied direkten Augenkontakt und ließ seinen Blick stattdessen ziellos umherschweifen, als könnte er die Antworten auf ihre Fragen an den Wänden ablesen. Dabei befanden sich die Antworten in seinem eigenen Verstand. Allerdings schien er große Angst davor zu haben, sie würde ihm nicht glauben. Dass sie ihm vielleicht gar nicht glauben wollte, weil er sich schon die ganze Zeit wie ein Verrückter benahm. Und vielleicht befürchtete er ja – zu Recht, wie Elke insgeheim zugeben musste – sie könnte schon nach seinen ersten Erklärungsbemühungen einfach aufstehen und die Polizei rufen, damit jemand kam und ihn umgehend abholte.

Elke ahnte, dass es momentan so oder ähnlich hinter seiner gerunzelten Stirn zugehen musste. »Bitte, Rainer«, beschwor sie ihn daher sanft, »sag mir doch endlich, was los ist. Ich glaube dir ja, dass du Hilfe brauchst. Und ich möchte dir ja auch gerne helfen. Das kann ich aber nicht, solange ich nicht weiß, was mit dir geschehen ist und vor wem du davonläufst. Also tu mir bitte diesen Gefallen und fang endlich an zu reden!«

Rainer seufzte tief und drückte seine Kippe im Aschenbecher aus. Dabei zitterte seine Hand so stark, dass er beinahe seine Kaffeetasse umgestoßen hätte, die direkt danebenstand.

»Du hast ja recht«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Schließlich bin ich hierhergekommen, um dir alles zu erzählen.« Erneut legte er eine Pause ein und runzelte nachdenklich die Stirn, als wollte er endlich die richtigen Worte finden und damit den schlechten Eindruck, den sie bislang von ihm gewonnen haben musste, nicht noch verschlimmern. »Zuerst einmal: Es … es sind keine Kriminellen, die mich verfolgen. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinn, auch wenn sie gesetzeswidrige Dinge tun, sondern eher … Wie soll ich es bloß ausdrücken? Also, diejenigen, die mich jagen, sind eigentlich … noch schlimmer und gnadenloser als gewöhnliche Verbrecher. Kriminelle können einen allenfalls töten, aber was meine Verfolger tun und auch mit mir vorhaben, ist viel schrecklicher. Sie … sie töten ihre Opfer nämlich nicht nur, sondern rauben ihnen anschließend auch irgendwie die Seele, damit sie so werden wie sie.«

Elkes Unglaube musste deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen sein, doch Rainer achtete nicht darauf. Er sah sie nicht einmal an. Sie beschloss allerdings, noch etwas Geduld mit ihm zu haben und ihm zumindest die Chance zu geben, alles zu erklären. Vielleicht hatte er sich ja auch nur missverständlich ausgedrückt und es gar nicht wortwörtlich so gemeint, wie er es gerade gesagt hatte: … rauben ihnen anschließend auch irgendwie die Seele, damit sie so werden wie sie?

Er schien nicht zu ahnen, auf welch schmalem Grat ihr Verständnis balancierte, trank einen Schluck Kaffee und zündete sich eine neue Zigarette an. Erst dann fuhr er fort, und seine Stimme, die leise begann, gewann mit jedem Wort an Lautstärke und Festigkeit: »Am besten fange ich wohl bei null an, ganz am Anfang der Geschichte. Also gut, alles … alles begann vor vier Jahren, nur wenige Monate, nachdem du den Ort verlassen hattest und hierher gezogen warst.«

Er verstummte, verzog ein wenig das Gesicht und schluckte betreten, als überkämen ihn plötzlich schmerzhafte Erinnerungen an ihre Trennung. Er wandte den Kopf ab und starrte auf die Zeichnungen an den Wänden.

Elke zündete sich ebenfalls eine neue Zigarette an, lehnte sich auf der Couch zurück und sog den Rauch tief in ihre Lungen. Sie sagte jedoch nichts, sondern schwieg und wartete geduldig, dass er seine Erzählung von sich aus fortsetzte. Sie hoffte, dass es bald geschah, denn sie wollte endlich die ganze Geschichte hören und erfahren, wer oder was die Verantwortung dafür trug, dass aus Rainer dieses menschliche Wrack geworden war.

Ihre Geduld wurde belohnt, denn unvermittelt, wie auf ein unhörbares Kommando, riss Rainer seinen Blick von den Bildern los und richtete ihn erstmals wieder auf seine Zuhörerin. In seinen Augen war nun nichts mehr von dem irrsinnigen Funkeln zu sehen, das Elke zuvor dort wahrgenommen zu haben glaubte, als er sich innerlich einen Ruck zu geben schien und seine Erzählung fortsetzte:

»Nachdem du damals so plötzlich und total aus meinem Leben verschwunden warst, ging es mir eine Zeitlang nicht so gut. Die Trennung machte mir anfangs noch ziemlich zu schaffen. Allerdings musste das Leben ja trotzdem irgendwie weitergehen, und vielleicht, so versuchte ich mich zu trösten, fand ich ja demnächst wieder jemanden, bei dem ich mich so wohlfühlte wie bei dir früher. Schließlich war ich noch jung und hatte den größten Teil meines Lebens noch vor mir. Zumindest dachte ich das damals, als ich noch nichts von den schrecklichen Dingen ahnte, die uns bevorstanden. Aber ich sollte nicht schon wieder vorgreifen und alles schön der Reihe nach erzählen. Also, wo war ich? Ja, genau, mein Leben ging auch nach der Trennung noch irgendwie weiter. Ich besuchte weiterhin das Gymnasium und traf mich mit meinen Freunden. Unsere Clique, die damals aus fünf Jungs bestand, war mein einziger Trost in dieser Zeit und half mir über viele schwere Stunden hinweg. Wie du dich vermutlich noch erinnern kannst, gingen wir alle auf dieselbe Schule und verbrachten auch den größten Teil unserer Freizeit zusammen. Am Wochenende trafen wir uns am Abend meistens in unserer örtlichen Stammkneipe, dem Gasthof zum Hirschen, wo wir uns dann überlegten, was wir noch unternehmen könnten. So war es auch an jenem verhängnisvollen Abend, als alles begann …«

ZWEITES KAPITEL

1984 - Die erste Schreckensnacht

1

»Im Gegensatz zu euch Pappnasen könnte ich jederzeit eine Nacht im Leichenhaus verbringen, ohne dass es mir etwas ausmachen würde!«, behauptete Uli mit lauter Stimme, wobei seine Worte schon etwas undeutlich und verwaschen klangen, nachdem er mit einem einzigen kräftigen Zug sein halb volles Bierglas geleert hatte, und schlug wie zur Verdeutlichung seiner Worte mit der geballten Faust auf den Tisch. Sämtliche Gläser und der restlos überfüllte Aschenbecher hoben kurzzeitig von der Tischplatte ab und landeten Sekundenbruchteile später wieder scheppernd. Wie durch ein Wunder gab es weder Scherben noch Bierlachen. Lediglich ein paar verkrümmte Zigarettenkippen wurden aus dem Aschenbecher gewirbelt und purzelten wie gefallene Miniatursoldaten auf einem Schlachtfeld über die Tischplatte.

Wie immer saßen wir fünf an dem runden Tisch im Hintergrund der Wirtschaft, unserem Stammplatz. Und da ich Uli heute zufällig gegenübersaß, konnte ich ihm direkt in seine glasigen Augen blicken. Den Ausdruck, den ich in diesem Augenblick dort sah, kannte ich, denn er bekam diesen ganz speziellen Blick immer dann, wenn er ein oder gerne auch zwei bis drei Bier zu viel intus hatte.

Ich hatte an diesem Abend zwar auch schon ein paar Gläser getrunken, wie immer am Wochenende und vor allem seit der Trennung, ich war aber noch deutlich nüchterner als mein Gegenüber. Das lag in erster Linie daran, dass Uli absolut keinen Alkohol vertrug. Das wussten alle – er und ich ebenso wie Bernie, Mark und Martin, die auch am Tisch saßen und im Vergleich zu Uli ebenfalls noch relativ nüchtern wirkten –, dennoch schüttete er den Gerstensaft immer wieder ohne Rücksicht auf Verluste literweise in sich hinein, als gäbe es kein Morgen.

»Keiner von euch vier Jammergestalten hätte doch, ganz im Gegensatz zu mir, jemals den Mut, eine ganze Nacht in einem Leichenhaus zu verbringen«, fuhr Uli fort, ehe er nach der Bedienung rief.

Ich wusste schon nicht mehr, wer das Thema als Erster zur Sprache gebracht hatte, doch irgendwie waren wir mit unserer Unterhaltung an diesem Abend beim örtlichen Leichenhaus gelandet. Jeder von uns kannte es, wenn auch in den meisten Fällen zum Glück nur von außen. Es stand am Rande des kleinen Friedhofs, der etwas außerhalb unseres Ortes lag, und hatte im Grunde nichts ausgesprochen Furchterregendes an sich. So hatte beispielsweise noch nie jemand behauptet, dass es darin spucken würde oder dort nachts die Toten umgingen. Dennoch übte das einsame steinerne Gebäude, gewissermaßen der Wartesaal der Toten, in dem sie die Zeit bis zu ihrem Begräbnis ausharren mussten, eine bestimmte Faszination auf uns Jugendliche aus. Von daher mochte Uli mit seiner Behauptung gar nicht so unrecht haben, denn schon allein die Vorstellung, mit einem oder mehreren kürzlich Verstorbenen eine Nacht oder auch nur wenige Stunden in ein und demselben Raum zu verbringen, ließ mich nicht nur erschaudern, sondern bescherte mir darüber hinaus eine Gänsehaut und brachte meine Fantasie dazu, eine ganze Reihe furchtbarer Schreckensszenarien heraufzubeschwören. Vielleicht sollte ich einfach nicht mehr so viele Horrorromane lesen.

»Du meinst also, du hättest als Einziger von uns den Mut dazu. Hab ich dich richtig verstanden?«, fragte Bernie, der rechts neben mir saß, und hatte dabei ein listiges Funkeln in den Augen. Allerdings schien Uli es nicht zu bemerken, vielleicht war es ja nur mir aufgefallen. Bernie war nicht nur der Älteste in unserer Clique, sondern auch der Größte – zumindest hinsichtlich der Körpergröße. Vor einigen Monaten hatte er sich spontan dazu entschlossen, sich fortan nicht mehr zu rasieren, um sich einen Bart sprießen zu lassen. Seine Barthaare hatten jedoch im Gegensatz zu seinem hellbraunen Kopfhaar eine rötliche Färbung angenommen und wuchsen nur an einzelnen Stellen, sodass seine Ausbeute bislang nur für einen kümmerlichen Ziegenbart an seinem Kinn reichte.

Bernie sah Uli durch seine starken Brillengläser hindurch grimmig an und schien auf dessen Antwort geradezu zu lauern. Auch Martin, Mark und ich warteten gespannt, was Uli darauf erwidern würde, denn aus langjähriger leidvoller Erfahrung wussten wir alle nur allzu gut, dass Uli nach ein paar Bierchen sein Maul immer besonders gern und vor allem extrem weit aufriss. Er war dann ein Prahlhans und Aufschneider sondergleichen, was uns immer wieder gewaltig auf die Nerven ging, aber bis zu diesem Tage war es uns leider nicht gelungen, ihm eine Lehre zu erteilen und sein großes Mundwerk zu stopfen.

Heute Nacht allerdings, das ahnte ich in diesem Moment instinktiv, hatten wir vielleicht endlich die einmalige Chance, ihm genau den Denkzettel zu verpassen, den er meiner Meinung nach längst verdient hatte und den er sich hoffentlich in Zukunft zu Herzen nahm. Damit es klappte, mussten wir jedoch geschickt vorgehen, sonst roch er den Braten womöglich und machte im letzten Moment doch noch einen Rückzieher.

Uli schien nach einer passenden Antwort zu suchen und starrte dazu in sein leeres Bierglas, als könnte er sie dort finden. Aber vielleicht fragte er sich in seinem Rausch auch nur, warum es schon wieder leer war. Wie auch immer, nach einer Weile blickte er auf jeden Fall auf und sah uns der Reihe nach an, wobei ganz langsam, wie in Zeitlupe, ein Grinsen auf seinem Gesicht erschien. Ich ging schon vom Schlimmsten aus und befürchtete, er hätte uns durchschaut und würde unter irgendeinem Vorwand ablehnen. Doch zu meiner großen Überraschung sagte er mit lauter, leicht verwaschener Stimme: »Aber ‘türlich. J…j…jederzeit!« Und als befürchtete er, wir hätten ihn nicht verstanden, nickte er dazu mehrmals heftig.

Während ich mich bemühte, eine neutrale Miene aufrechtzuerhalten, triumphierte ich innerlich. Endlich!, dachte ich. Endlich haben wir die einzigartige Gelegenheit, ihm sein großes Maul zu stopfen! Aber jetzt durften wir uns bloß keinen Fehler erlauben.

Der konsumierte Alkohol schien bei Uli allmählich seine volle Wirkung zu entfalten. Er strich sich mit einer unsicheren Bewegung über sein müde aussehendes Gesicht und rieb sich dann die geröteten Augen. Seine Lider hingen schon auf halbmast, als wollten sie sich jeden Moment endgültig schließen, und die dunklen, lockigen Haare, die inzwischen wieder einigermaßen nachgewachsen waren, nachdem ein anderer Freund von ihm sie vor wenigen Monaten im Suff abrasiert hatte, hingen traurig nach unten. Genauso wie die vereinzelten Barthaare, die noch jämmerlicher als bei Bernie aussahen, und daher eher lächerlich als männlich wirkten.

Die Bedienung kam an unseren Tisch und brachte Uli das Bier, das er bestellt hatte. Vermutlich Nummer fünf oder sechs, so genau hatte ich nicht mitgezählt. Martin und ich nutzten die Gelegenheit, tranken unsere Gläser leer und gaben sie der jungen Frau mit dem Wunsch nach Nachfüllung mit auf den Weg. Erst als sie wieder außer Hörweite war, setzten wir unsere Unterhaltung fort.

»Wenn du wirklich so mutig bis, wie du sagst, dann kannst du uns ja gleich in der kommenden Nacht beweisen, ob du das tatsächlich schaffst oder hier wieder mal nur heiße Luft produzierst«, schlug Bernie vor.

Ich nickte zustimmend und fischte mir eine Camel aus der Schachtel. Beim Anzünden musste ich wider Willen an leblose Körper in Leichenhäusern denken. Dank des Tabaks und der unzähligen Giftstoffe, die im Zigarettenrauch enthalten waren, würde ich ihnen vermutlich ohnehin eher früher als später Gesellschaft leisten. Ich erschauderte bei diesem Gedanken und drückte die Zigarette schon nach den ersten beiden Zügen im vollen Aschenbecher aus, weil sie mir auf einmal nicht mehr schmeckte.

Ulis Antwort auf Bernies Vorschlag ließ unterdessen auf sich warten, obwohl wir alle sehr gespannt darauf waren. Doch er machte es spannend und ließ uns zappeln, während er entweder ernsthaft darüber nachdachte, die Herausforderung anzunehmen, oder, was ich eher glaubte, in seinem berauschten Gehirn nach einem Weg suchte, wie er sich aus dieser unangenehmen Situation wieder herauswinden konnte. Doch dann, nachdem ich schon fast die Hoffnung aufgeben wollte, heute noch eine Antwort von ihm zu hören, legte er die Stirn in einer zu theatralisch wirkenden Weise in Falten, als dass es überzeugend ausgesehen hätte, wiegte betont zweifelnd den Kopf hin und her und meinte, für seinen Zustand erstaunlich klar und eloquent: »Ich persönlich hätte natürlich absolut nichts dagegen, es zu tun, aber … Na ja, ich weiß natürlich nicht, was meine Mutter zu so einem Schwachsinn sagt, wenn ich ihr erzähle, dass ich nicht zu Hause schlafen kann, weil ich wegen einer idiotischen Wette die Nacht im Leichenhaus verbringen muss.«

»Deine Mutter?«, entfuhr es mir. Ich war so überrascht, dass ich Augen und Mund gleichzeitig weit aufriss. Ich hatte mit allen möglichen Ausreden gerechnet, allerdings nicht mit dieser. Schließlich war Uli volljährig und damit schon lange kein kleines Kind mehr, das seine Mutter jedes Mal um Erlaubnis fragen musste, wenn er über Nacht wegblieb, um mit seinen Freunden einen draufzumachen.

»Erzähl jetzt bloß nicht so einen Scheiß, Mann!«, rief Martin wütend, wobei Speicheltröpfchen aus seinem Mund flogen, und packte Uli, der neben ihm saß, grob am Oberarm, als wollte er ihn jetzt gleich höchstpersönlich zum Leichenhaus zerren.

Ich hob überrascht die Augenbrauen, denn so aufbrausend hatte ich Martin selten erlebt. Er war sonst die Ruhe in Person, aber jetzt erweckte es den Eindruck, als wäre er total sauer auf Uli. An Ulis Ausredeversuch allein konnte das kaum liegen. Ich ging daher eher davon aus, dass irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen war. Soweit ich wusste, waren die beiden in der vorigen Nacht gemeinsam unterwegs gewesen. Vielleicht hatte es dabei Streit zwischen ihnen gegeben, den sie noch nicht ganz beigelegt hatten. Und ich vermutete stark, dass es dabei wieder einmal um eine Frauengeschichte gegangen war. Worüber sollten sich die beiden Freunde auch sonst in die Haare geraten?

»Diesmal wirst du dich nicht wieder herausreden!«, fuhr Martin fort, ließ aber wenigstens Ulis Arm los. »Dieses Mal ziehen wir die Sache durch, oder du gibst endlich zu, dass du nur ein elendes Großmaul bist und Schiss hast!«

»Du musst doch deiner Mutter gar nichts von der Sache erzählen«, sagte ich, während ich mir, die eigene Sterblichkeit und sämtliche Lungenkrebsopfer in den Leichenhäusern dieser Welt ignorierend, wie es wohl alle Raucher ständig unbewusst tun, doch wieder eine neue Zigarette ansteckte. »Schließlich bist du volljährig, oder etwa nicht?«

Und Bernie ergänzte: »Sag ihr doch einfach, du würdest bei einem von uns übernachten. Wir treffen uns dann eine halbe Stunde vor Mitternacht …«

»Vor der Geisterstunde!«, präzisierte Mark und bemühte sich, seiner Stimme einen gruseligen Klang zu verleihen, was ihm jedoch nicht besonders gut gelang.

Bernie ließ sich vom Zwischenruf seines Bruders nicht irritieren und setzte seinen angefangenen Satz einfach fort, als hätte Mark gar nichts gesagt: »… draußen am Friedhof, und du wirst dort dann die halbe Nacht bis, na ja, sagen wir mal, bis sechs Uhr früh im Leichenhaus verbringen. Wir andern warten draußen im Auto und passen auf, dass du nicht heimlich einen Abgang machst.«

Uli zuckte mit den Schultern, dachte nach und willigte schließlich ein: »Na gut, einverstanden.« Vielleicht hatte er ja eingesehen, dass er sich diesmal nicht so leicht herausreden konnte wie sonst und wir entschlossen waren, die Sache durchzuziehen. »Aber was springt für mich eigentlich heraus, wenn ich es tue und auch durchhalte, wovon ich überzeugt bin?«

»Wie wäre es mit einer Kiste Bier deiner Wahl?«, fragte Bernie.

Worauf Mark, Bernies Bruder, sofort ergänzte: »Aber wenn du es nicht durchstehst und heulend herausgerannt kommst, ehe die vereinbarte Zeit um ist, wovon wiederum ich überzeugt bin, dann bekommen wir von dir einen Bierkasten.«

Uli nickte. »Gut, abgemacht. Ich freu mich schon auf das Bier, das ihr mir spendieren müsst. Ich werde es besonders genießen. Aber ihr braucht nicht zu denken, dass ihr was davon abkriegt.« Anscheinend hatte er zu seiner gewohnten Überheblichkeit und Selbstüberschätzung zurückgefunden und traute es sich in seinem derzeitigen Zustand durchaus zu, eine Nacht in Gesellschaft der Toten zu verbringen.

Ich selbst hätte es mir dagegen nicht so ohne Weiteres zugetraut, was vermutlich vor allem daran lag, dass seit einigen Jahren im Gefolge von George R. Romeros Klassiker Zombie unzählige Zombie-Filme die Kinos überschwemmten. Zumeist zeigten sie nichts anderes als bloße Metzeleien mit Unmengen an Blut und Innereien, bei denen man sich schon beim Zuschauen wünschte, man hätte lieber Gummistiefel und Regenmantel angezogen, um nichts abzukriegen. Gleichwohl blieben einem diese billig produzierten und in Rekordzeit heruntergekurbelten Filme unweigerlich im Gedächtnis und regten die Fantasie an, sodass man nach dem Kinobesuch hinter jedem Busch, an dem man vorüberkam, und unter jedem Flecken Erde, über den man ging, einen wiedererwachten Leichnam vermutete, auch wenn es sich, nüchtern betrachtet, natürlich nur um Fiktion handelte, die den Gehirnen schlecht bezahlter Autoren und Regisseure entsprungen war.

Als ich Uli in diesem Augenblick ansah, vermutete ich, dass ihm gerade dieselben Gedanken durch den Kopf gingen wie mir. Und vielleicht erging es den anderen ja ebenso, denn wir waren meist gemeinsam im Kino gewesen, um uns diese Filme anzusehen. Wir hatten zwar während und nach der Vorstellung gelacht und Späße gemacht, doch jetzt, bei dem Gedanken an die bevorstehende Nacht, war vermutlich keinem zum Scherzen zumute.

Die Toten musste man nicht mehr fürchten, sondern nur die Lebenden, hatte ich mal irgendwo gehört oder gelesen. Doch stimmte das wirklich? Mein Verstand weigerte sich zwar beharrlich, daran zu glauben, dass Tote aus ihren Gräbern steigen könnten, um Jagd auf die Lebenden zu machen, doch meine Fantasie, von zahlreichen Horrorromanen und -filmen angeregt, zeigte mir ganz andere Bilder.

Die Bedienung brachte Mark und mir unsere vollen Gläser, und so ließen wir und die anderen sie klirrend gegeneinanderstoßen. Wir stießen auf die Wette an und tranken dann auf die morgige Nacht, auf Ulis zu erwartende vollgeschissene Hose und natürlich auf den Kasten Bier, den wir von ihm bekommen würden. Uli ließ unsere Trinksprüche ausnahmsweise unkommentiert und lächelte nur schmallippig.

Auch ich blieb für den Rest des Abends eher ruhig und nachdenklich, denn ich machte mir bereits Gedanken darüber, wie wir dem Großmaul endlich seine große Schnauze stopfen und gleichzeitig auch noch eine Kiste Bier gewinnen konnten. Und als ich nach dem Absetzen meines Glases einen Blick in die Runde warf, entdeckte ich auch in den Augen von Mark und Bernie ein hinterhältiges Glitzern, das mir verriet, dass auch sie sich darauf freuten, dass wir Uli ein für alle Mal drankriegen konnten.

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