Kitabı oku: «SCHRECKENSNÄCHTE», sayfa 5

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Wir verließen den Hirschen eine halbe Stunde nach Mitternacht. Da wir alle schon ziemlich müde waren, hatte keiner Lust, noch irgendwo anders hinzugehen. Außerdem wollte ich mit Bernie, Mark und Martin den Plan besprechen, den ich mir bereits in groben Umrissen für die morgige Nacht überlegt hatte, sobald Uli in sein Auto gestiegen und davongebraust war.

Eiskalte Luft, die direkt vom Nordpol hierher geströmt war, hatte uns in diesem Jahr einen überraschend frühen Wintereinbruch im Oktober beschert. Die Temperaturen waren schon den ganzen Tag über so stark gesunken, dass am späten Abend sogar leichter Schneefall eingesetzt hatte. Kaum zu glauben, aber vor wenigen Tagen hatte man noch im T-Shirt herumlaufen können. Nun empfing uns draußen nicht nur beißende Kälte, sondern auch eine dünne Schneeschicht, die alles aussehen ließ, als wäre es mit feinem Zucker überpudert worden.

Auf dem Parkplatz vor der Wirtschaft zündete ich mir erst einmal eine Zigarette an, stellte den Kragen meiner dünnen Jacke hoch und vergrub die Hände so tief wie möglich in den Taschen meiner Jeans.

»Soll ich jemanden mitnehmen und nach Hause fahren?«, fragte Uli laut in die Runde und steuerte mit unsicheren Schritten auf seinen Wagen zu. Er sah dabei aus, als würde er nicht über festen Boden laufen, sondern über das schwankende Deck eines Schiffes, das sich inmitten eines Orkans befand.

Im Gegensatz zu Uli hatte ich mein Auto zu Hause gelassen, da ich aus Erfahrung wusste, dass wir freitagabends selten nüchtern genug aus der Kneipe kamen, um beim Tütchenblasen-Wettbewerb mit der Polizei als Sieger hervorzugehen. Ich hatte meinen Führerschein, den ich erst vor einem Dreivierteljahr gemacht hatte, aus eigener Tasche finanzieren müssen und wollte ihn nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

»Ich bin doch nicht lebensmüde«, lehnte Mark ab. »Fahr du mal lieber allein, wenn du dich in diesem Zustand unbedingt noch hinters Steuer setzen musst.«

Marks Worte kamen nicht von ungefähr. Wir alle kannten Ulis Fahrstil. Schon, wenn ich nur daran dachte, brach mir der Angstschweiß aus. Zugegeben, auch ich fuhr nicht unbedingt langsam und hielt mich nicht an jede Geschwindigkeitsbegrenzung, aber Ulis Fahrstil ging schon in nüchternem Zustand weit über die Begriffe »halsbrecherisch« oder »lebensgefährlich« hinaus. Seit ich vor einem halben Jahr in Österreich bei ihm auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und dabei gefühlte tausend Tode gestorben war, brachten mich keine zehn Pferde in ein Auto, hinter dessen Steuer Uli saß, egal, ob er nüchtern oder stockbesoffen war, was ohnehin keinen großen Unterschied machte.

»Ich möchte morgen Nacht noch erleben, wie du dir in die Hose machst«, sagte ich deshalb nur und erntete einen potenziell tödlichen Blick von Uli, der mich jedoch nicht davon abhielt, mich anschließend mit den anderen vor Lachen über meine eigene Bemerkung auszuschütten.

»Hey, Leute, seht euch bloß mal das hier an!«, forderte uns Bernie auf und deutete auf die Frontpartie von Ulis Honda. »Ich fasse es ja nicht, aber unser Freund ist schon wieder irgendwo dagegen gefahren.«

Mark und ich gingen näher heran, um uns anzusehen, wovon Bernie sprach. Ich blinzelte, denn mir standen noch vom Lachen Tränen in den Augen. Martin blieb als Einziger zurück, als interessierte ihn die Sache nicht. Ich nahm die Frontpartie des Wagens genauer in Augenschein und sah sofort, dass Bernie sich nicht getäuscht hatte. Na gut, zu irgendetwas musste die Brille mit den starken Gläsern auf seiner Nase schließlich gut sein. Trotz der ungünstigen Lichtverhältnisse und der dünnen Schneeschicht auf dem Wagen konnte ich erkennen, dass die Stoßstange vorn rechts ziemlich eingedellt war und die Motorhaube unmittelbar darüber eine große Beule aufwies, als wäre etwas Schweres darauf gelandet. Dann bemerkte ich, dass auch das rechte Scheinwerferglas etwas abbekommen hatte und zersplittert war.

»Stimmt doch gar nicht!«, rief Uli empört. »Dafür konnte ich überhaupt nichts! Als Martin und ich gestern auf dieser langweiligen Party waren, ist mir irgendein Trottel beim Ausparken reingefahren. Genau so war’s doch, Martin, oder?«

Mark, Bernie und ich wandten synchron die Köpfe. Wie Laserzielpunkte, die ihr Opfer ins Visier nahmen, richteten sich unsere Blicke auf Martin, der ein paar Meter entfernt stand, mit einem Fuß im Schnee scharrte und so zögerlich nickte, als wäre er sich alles andere als sicher. Er sah blass aus, das konnte aber auch am kalten Licht der Neonschrift über dem Eingang der Wirtschaft liegen.

»Hast du eine Ahnung, wer es war?«, fragte Bernie.

Uli schüttelte den Kopf. »Woher denn? Das Schwein ist einfach abgehauen.«

»Warst du dann wenigstens schon bei der Polizei und hast die Sache gemeldet?«, fragte ich, während ich mich nach vorn beugte und das kaputte Scheinwerferglas aus der Nähe ansah. Ich bemerkte mehrere kreisrunde, dunkle Flecken auf dem Reflektor des Scheinwerfers, die ich für Dreckspritzer hielt.

»Dazu hatte ich noch keine Zeit«, antwortete Uli auf meine Frage. »Aber ich fahre gleich am Montag hin und erstatte Anzeige.«

»Wenn es dann nicht zu spät ist«, meinte Bernie. Er wollte damit wahrscheinlich zum Ausdruck bringen, dass die Polizei den Schuldigen dann unter Umständen nicht mehr ermitteln konnte, weil bis dahin zu viel Zeit verstrichen war oder Spuren verloren gegangen waren. Er sollte recht behalten, allerdings auf ganz andere und viel schrecklichere Weise, als wir alle in diesem Moment ahnen konnten.

Uli hatte anscheinend die Nase voll von dem Kreuzverhör, das wir mit ihm veranstalteten, denn er öffnete die Fahrertür des Hondas und ließ sich hinters Steuer fallen. »Wenn niemand nach Hause gefahren werden will, dann fahr ich eben allein. Selber schuld! Servus!« Er schlug die Tür so fest zu, dass an allen Seiten Schnee vom Auto fiel, und ließ den Motor an. Die Wischerblätter schoben die dünne Pulverschneeschicht von Front- und Heckscheibe, die zum Glück nicht zugefroren waren, sodass Uli einigermaßen freie Sicht hatte und nicht auch noch im Blindflug durch die Gegend rasen musste. Als er die Scheinwerfer einschaltete, brannte jedoch nur der linke. Er ließ den Motor mehrmals im Leerlauf aufheulen, bevor er den ersten Gang hineinknüppelte und das Gaspedal durchtrat, um mit jaulendem Motor loszurasen. Die Räder drehten allerdings auf dem rutschigen, schneebedeckten Untergrund durch, sodass der Wagen zunächst gar nicht von der Stelle kam. Doch dann griffen die Reifen. Das Auto machte wie ein springendes Raubtier einen Satz nach vorn und raste heftig schlingernd los. Mark und ich konnten gerade noch rechtzeitig einen Schritt zur Seite machen, sonst hätte das ausschlagende Heck womöglich noch einen von uns erwischt.

Ich sah dem davonjagenden Wagen hinterher, bis er die nächste Kurve erreichte. Die Bremslichter leuchteten in der Dunkelheit grellrot, als Uli in die Eisen stieg. Ich erwartete jeden Moment, dass es krachte, weil unser Freund zu schnell gefahren war und aus der Kurve getragen wurde, doch es ging noch einmal alles gut. Das Auto fuhr um die Kurve und verschwand aus meinem Blick. Ein paar Sekunden hörten wir noch das Heulen des gequälten Motors, ehe es sich in der Ferne verlor.

»Jetzt ist er weg«, stellte Mark überflüssigerweise fest und rieb sich mit den Zeigefingern über die vom Alkohol, Zigarettenrauch und Lachen geröteten Augen.

»Das ist auch gut so«, sagte Bernie und setzte sich in Bewegung. »Jetzt können wir ungestört einen Plan schmieden, wie wir Uli morgen Nacht drankriegen.«

Ich schloss zu Bernie auf und passte mich seiner Geschwindigkeit an, um ihm endlich die Frage stellen zu können, die mich schon die ganze Zeit über beschäftigt hatte: »Sag mal, Bernie, weißt du eigentlich, ob die Toten in der Leichenhalle schon in Särgen liegen?« Denn wenn das der Fall war, hätte es ganz und gar nicht in den Schlachtplan gepasst, den ich für morgen Nacht ausgeheckt hatte.

Bernie seufzte, als hätte ich ihm eine Rechenaufgabe gestellt, die zu schwer für ihn war. Er überlegte kurz, ehe er die Achseln zuckte und antwortete: »Das kann ich dir leider auch nicht sagen, schließlich bin ich kein gelernter Leichenbestatter. Aber ich vermute mal stark, dass es ganz darauf ankommt, wie lange die Verstorbenen schon dort sind. Ich meine, wenn eine Leiche gerade erst dorthin gebracht wurde, also gewissermaßen noch ganz frisch ist – sofern man das in diesem Zusammenhang überhaupt so sagen kann –, dann wird sie vermutlich noch nicht in einer Kiste liegen. Wenn ein Toter hingegen in Kürze beerdigt werden soll, wird er wohl fix und fertig in einem Sarg liegen«, dozierte Bernie, während wir langsam nebeneinander die Straße entlangschlenderten, die um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter so verlassen war wie ein Mondkrater. »Momentan liegt in unserem Leichenhaus meines Wissens ohnehin nur eine einzige Leiche.«

»Woher weißt du das denn?«, fragte ich verblüfft, da mir unverständlich war, woher ausgerechnet jemand wie Bernie darüber Bescheid wissen sollte, wie viele Tote gerade in der Leichenhalle aufgebahrt waren. Außer natürlich, er ging aus Interesse oder aufgrund einer makabren Neigung, von der er uns nichts erzählt hatte, jeden Tag dort ein und aus. Obwohl ich bei Bernie bislang keine besondere Vorliebe für Leichen festgestellt hatte. Ich sah ihn misstrauisch an. Er ging direkt neben mir, überragte mich jedoch um einen ganzen Kopf, sodass ich aufschauen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen, das mir jedoch nichts von dem verriet, was gerade in seinem Kopf vorging und welche verborgenen Neigungen er hatte. Er hatte beim Gehen seine Pfeife herausgeholt, die er noch rasch gestopft hatte, kurz bevor wir die Wirtschaft verlassen hatten, und vor wenigen Augenblicken angezündet. Jetzt zog er mehrmals kräftig daran und stieß dicke Rauchwolken aus, die träge auf uns herabsanken, die wir allesamt kleiner als er waren, bevor sie von den leichten, aber dennoch eisig kalten Böen verweht wurden. Als ich ihm dabei zusah, wie er genüsslich an seiner Pfeife nuckelte, bekam ich natürlich auch Lust auf eine Zigarette. Doch ich blieb ausnahmsweise standhaft und ließ es bleiben, denn meine letzte Kippe war erst vor ungefähr zwanzig Schritten in einem Schneehaufen erloschen.

Bernie räusperte sich und spuckte in den Schnee, bevor er weitersprach. »Woher ich das weiß? Ganz einfach: In den letzten Tagen gab es im Ort eben nur eine einzige Tote. Eine ganz tragische Geschichte im Übrigen! Vielleicht habt ihr ja in der Zeitung davon gelesen?«

Mark und ich schüttelten synchron die Köpfe, denn wir waren keine großen Zeitungsleser. Martin zeigte keinerlei Reaktion, hielt den Blick gesenkt und starrte auf seine Schuhspitzen, als gäbe es dort etwas ungemein Fesselndes zu beobachten.

»Also gut, dann erzähl ich euch schnell die Kurzfassung. Hört zu! Ihr kennt doch bestimmt das Mädchen aus der Familie, die vor ungefähr fünf Monaten in das leer stehende Haus neben der Post eingezogen ist, oder?«

»Meinst du das hübsche Mädchen mit den langen dunklen Haaren, das bei jedem Wetter mit ihrem Fahrrad durch die Gegend fährt?«, fragte Mark.

»Ja, genau die«, sagte Bernie.

Durch Marks Beschreibung wurde auch mir klar, von wem Bernie sprach. Und Mark hatte recht, es handelte sich tatsächlich um ein ausgesprochen gut aussehendes Mädchen, sodass ich mir auch schon Gedanken darüber gemacht hatte, ob ich sie ansprechen und näher kennenlernen sollte. Ich hatte mich allerdings vorerst dagegen entschieden, da die Trennung damals noch nicht so lange her und die Wunde, die sie erzeugt hatte, noch viel zu frisch war. Aber vielleicht wäre ich ja in ein paar Wochen oder Monaten so weit, einen Versuch zu wagen, hatte ich mir noch gedacht.

Doch da durchfuhr mich wie ein Blitzschlag eine schreckliche Erkenntnis, denn noch während ich mir ihr Bild gedanklich vergegenwärtigte, zog mein Verstand bereits von sich aus die Verbindung zwischen dem Mädchen und dem, was Bernie zuvor gesagt hatte. »Willst du damit etwa sagen, dass sie diejenige ist, die tot im Leichenhaus liegt?«, platzte es aus mir heraus.

»Bedauerlicherweise ja«, bestätigte Bernie. »Sie wurde letzte Nacht auf der Straße, die am alten Sportplatz vorbeiführt, von einem Auto angefahren, als sie wieder einmal mit ihrem Fahrrad unterwegs war. Keine Ahnung, was sie um diese Zeit dort verloren hatte. Sie war allerdings nicht sofort tot und hätte vermutlich noch gerettet werden können, wenn sie rechtzeitig medizinische Hilfe bekommen hätte. Aber der Typ, der sie umgefahren hat, ließ sie einfach sterbend auf der Straße liegen und fuhr davon.«

Die Nachricht von Tod des Mädchens machte uns alle betroffen, und so gingen wir eine Weile schweigend weiter. Während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, war es so still, dass nur der Schnee leise unter unseren Sohlen knirschte.

Ich hatte jedoch bemerkt, wie heftig, ja geradezu erschrocken Martin bei Bernies letzten Worten zusammengezuckt war. Ich ging allerdings zum damaligen Zeitpunkt davon aus, dass Martin das Mädchen besser gekannt hatte als wir anderen und daher natürlich auch stärker von ihrem tragischen Tod getroffen wurde, vor allem, wenn er gerade erst durch Bernie davon erfahren hatte. Und vielleicht, so dachte ich mir, hatte er sich sogar in sie verliebt und sich Hoffnungen gemacht, zwischen ihnen könnte mehr entstehen als bloße Freundschaft. Wenn ja, dann war es vergebliche Hoffnung, denn nun war sie tot.

Im Nachhinein weiß ich natürlich, wie unrecht ich mit meinen Vermutungen hatte. Aber damals wusste ich eben noch nicht, was ich heute weiß und welche Tragödie in Wahrheit hinter Martins Reaktion steckte.

Ich kam jedoch nicht dazu, länger darüber nachzudenken, denn schon im nächsten Moment brach Bernie das Schweigen, indem er auf meine anfangs gestellte Frage zurückkam, und riss mich dadurch aus meinen Überlegungen: »Aber sag mal, Rainer, wieso interessierst du dich eigentlich dafür, ob die Toten in der Leichenhalle in ihren Särgen liegen oder nicht?«

Damit kehrten wir wieder zu unserem eigentlichen Thema zurück. Es wurde ohnehin Zeit, dass wir beratschlagten, was wir in der nächsten Nacht mit Uli anstellen sollten, bevor die Ersten von uns – in diesem Fall Bernie und Mark – ihr Zuhause erreichten.

Ich hatte mir, wie gesagt, bereits ein paar Gedanken darüber gemacht, wie wir Uli einen gehörigen Denkzettel verpassen konnten. Also umriss ich für meine Freunde nun kurz, was ich mir überlegt hatte. Sie waren davon ziemlich angetan – zumindest Bernie und Mark, während Martin sich verhielt, als gehörte er gar nicht zu uns, sondern hätte nur zufällig denselben Weg –, und wir stimmten nach kurzem Beratschlagen überein, dass wir es genau so machen wollten.

Mein Plan war eigentlich relativ simpel und bestand im Wesentlichen darin, dass einer von uns als Leiche verkleidet im Leichenhaus auf Uli warten würde, um pünktlich zur Geisterstunde scheinbar »von den Toten aufzuerstehen« und dadurch Uli dermaßen in Angst und Schrecken zu versetzen, damit er sich bestenfalls in die Hose schiss oder wenigstens in Zukunft etwas kleinlauter war.

»Ich sehe ihn schon vor mir, wie er, kreidebleich und mit vollen Hosen, laut kreischend aus der Leichenhalle rennt und nach seiner Mami schreit«, sagte Bernie und lachte gehässig.

»Hoffentlich hat er danach wenigstens nicht mehr so eine große Klappe«, verlieh Mark unserer größten Hoffnung Ausdruck.

»Wenn wir es klug anstellen und keinen Fehler machen, wird diese Rosskur vermutlich sogar ihn heilen«, zeigte sich Bernie vom Erfolg unserer Mission überzeugt. »Wenn nicht, will ich die nächsten zehn Jahre wie ein Mönch leben, also auf alles verzichten, was Spaß macht. Aber wer von uns übernimmt die Rolle des wiedererweckten Toten? Gibt es vielleicht einen Freiwilligen?«

Wir sahen uns gegenseitig an, nur Martin starrte weiterhin auf seine Füße, doch niemand meldete sich freiwillig. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, denn es war keine Aufgabe, um die ich mich riss. Und den anderen erging es wohl ebenso.

»Dann muss das Los entscheiden!«, schlug Mark vor. »Das geht nicht nur schnell, sondern ist auch die gerechteste Lösung, weil der Zufall bestimmt, wer es sein wird.«

Wir hatten das Haus erreicht, in dem Mark und Bernie mit ihren Eltern wohnten, und blieben davor stehen. Bernie, der einzige Pfeifenraucher unter uns und damit auch der Einzige, der anstelle eines Feuerzeugs Zündhölzer bei sich hatte, griff in die Tasche seines Daunenanoraks, wühlte sekundenlang darin herum und brachte eine Streichholzschachtel zum Vorschein. Er entnahm ihr vier Streichhölzer, steckte die Schachtel wieder ein, und verkürzte ein Zündholz am unteren Ende geschickt um ein gutes Drittel.

Ich nutzte die Wartepause, um mir mit meinem Feuerzeug eine Zigarette anzustecken, und trat dabei von einem Fuß auf den anderen, weil mir kalt war.

»Wer das kurze Zündholz zieht, spielt den Zombie«, erklärte Bernie uns die einfache Regel, ballte die Hand zur Faust, sodass nur noch die roten Zündköpfe der vier Streichhölzer herausragten, und hielt sie als Erstes seinem jüngeren Bruder hin.

Ich kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah ganz genau hin, konnte aber beim besten Willen nicht erkennen, welches das verkürzte Hölzchen war.

Mark griff sogleich beherzt zu, ohne lange zu überlegen. Er nahm das zweite Streichholz von rechts und zog es ganz langsam heraus, als wollte er dadurch die Spannung steigern. Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Erst als das Zündholz fast ganz herausgezogen war, konnten wir erkennen, dass es intakt war und die normale Länge besaß. Mark atmete hörbar auf und wischte sich theatralisch die Stirn. Aber obwohl er sich nach außen betont gelassen zeigte, konnte ich dennoch erkennen, dass er insgeheim erleichtert war, dass ihm dieses Los erspart blieb.

Auch mir war nicht wohl bei dem Gedanken, im Leichenhaus in absoluter Finsternis neben einem verstorbenen Mädchen zu liegen und darauf zu warten, dass Uli endlich kam, um ihm in dieser ohnehin schon makabren und unheimlichen Umgebung einen Schrecken einzujagen. Und dabei war das Ganze meine eigene Idee gewesen.

Nach Mark war ich an der Reihe. Ein Zündholz war weg, damit blieben noch drei übrig. Und eins von ihnen war das kurze. Die Chance, dass ich es zog, hatte sich soeben von 25 auf 33 Prozent erhöht.

Ich ließ mir mehr Zeit und sah mir den sichtbaren Teil der drei verbliebenen Hölzchen noch einmal genauer an. Dennoch konnte ich noch immer nichts entdecken, nicht einmal den kleinsten Hinweis, der mir bei meiner schweren Entscheidung geholfen hätte. Also atmete ich noch einmal tief durch, ehe ich mich spontan und aus einem reinen Bauchgefühl heraus für das linke Streichholz entschied. Im Gegensatz zu Mark zog ich es mit einem Ruck heraus und hoffte dabei, dass mir Fortuna beistand. Sie tat es, denn als ich die Hand umdrehte, sah ich, dass ich ein Streichholz mit normaler Länge gezogen hatte. Vor Erleichterung fiel mir ein riesiger Felsbrocken vom Herzen.

Nun waren nur noch Martin und Bernie übrig. Einen von ihnen würde es treffen, und die Chance dafür lag jetzt schon bei 50 Prozent. Bernies ausgestreckter Arm beschrieb einen weiteren Viertelkreis, ehe er vor Martin anhielt.

»Nein, bitte nicht. Ich kann das nicht!«, sagte Martin mit so verzweifelt klingender Stimme, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er im nächsten Moment zu weinen angefangen hätte. Er schüttelte ruckartig seinen Lockenkopf und wollte sich von uns abwenden.

»Halt!«, brüllten Mark und ich jedoch wie aus einem Mund. Zusätzlich sprang Mark nach vorn und griff nach Martins Arm, als befürchtete er, Martin könnte plötzlich davonrennen.

»Aber ich will nicht!«, jammerte Martin mit ungewohnt weinerlicher Stimme. »Hört zu! Ich kann das nicht machen, weil … weil …« Seine Stimme erstarb jedoch, und er behielt die Gründe für seine verzweifelte Reaktion auf den Losentscheid für sich.

Und im Grunde interessierte es uns momentan auch nicht, da wir Martin nur für einen Feigling hielten, der sich vor einer unangenehmen Aufgabe drücken wollte. Deshalb blieben wir unerbittlich.

»Jetzt mach schon, Martin! Zieh gefälligst ein Streichholz, so wie die anderen beiden auch!«, forderte Bernie ihn mit der Autorität des Gruppenältesten auf. »Wir anderen haben doch auch Schiss davor, mit dem toten Mädchen allein im Leichenhaus zu liegen. Aber einer von uns muss es nun mal tun, wenn wir Uli eins auswischen wollen. Also stell dich nicht so an und zieh endlich ein Hölzchen. Mir ist nämlich scheißkalt hier draußen, und ich bin hundemüde!«

Martin blickte mit verzweifelter Miene in die Runde, sah aber keinerlei Verständnis, sondern nur unsere entschlossenen Gesichter. Er seufzte und zuckte resignierend mit den Schultern, als hätte er eingesehen, dass er bei uns für eine Weile verschissen hätte, wenn er dieses Mal den Schwanz einzog und nicht mitmachte.

»Bei meinem Glück in letzter Zeit zieh ich sowieso das Kurze«, sagte er und zog rasch das rechte der beiden verbliebenen Streichhölzer aus Bernies Faust. »Na also, ich hab’s doch gewusst«, flüsterte er im nächsten Moment, zeigte uns das abgebrochene Hölzchen auf seiner Handfläche und lächelte dabei so gequält, dass ich sogar ein bisschen Mitleid mit ihm bekam. Aber nur ein bisschen, denn gleichzeitig war ich heilfroh, dass es ihn und nicht mich erwischt hatte.

Bernie öffnete die eigene Faust und ließ uns das letzte Streichholz sehen, das die normale Länge hatte, um uns zu demonstrieren, dass er nicht gemogelt hatte. »Damit wäre das schon mal erledigt«, sagte er und sah mich fragend an, um weitere Details meines Plans zu erfahren.

Eigentlich hatte ich alles noch gar nicht so detailliert, sondern nur in groben Zügen angedacht gehabt, schließlich hatte ich nicht gewusst, ob die anderen meinen Plan überhaupt gutheißen würden. Doch als ich nun kurz darüber nachgrübelte, fielen mir sofort weitere Einzelheiten ein, so als hätten sie bereits fix und fertig in meinem Hinterkopf gelegen und nur darauf gewartet, laut ausgesprochen zu werden. »Wir treffen uns am besten morgen Abend möglichst frühzeitig, vielleicht so gegen acht bei mir. Jeder bringt irgendwelche Schminkutensilien, Knetmasse, Pappe, Kleber et cetera mit. Eben alles, was er daheim so findet. Damit verwandeln wir Martins Gesicht dann in eine richtig scheußliche Zombie-Visage.«

»Viel müssen wir bei der Fresse ja nicht mehr verändern«, meinte Mark und lachte. Bernie und ich fielen in das Gelächter mit ein. Nur Martin schien seines gewohnten Humors mittlerweile vollständig verlustig gegangen zu sein. Vermutlich war ihm der für ihn ungünstige Losentscheid auf den Magen geschlagen. Er präsentierte uns eine so gequälte Leidensmiene, dass ich schon wieder Mitleid mit ihm bekam.

Aber wie schon gesagt: besser er als ich.

Bevor wir uns schließlich trennten, beschlossen wir noch, alles Weitere am nächsten Abend zu besprechen. Dann wünschten uns Bernie und Mark eine gute Nacht und verschwanden im Haus.

Martin und ich gingen rasch weiter, redeten jedoch nicht miteinander. Ich hing meinen Gedanken nach, die sich in erster Linie auf Details meines Plans und unser weiteres Vorgehen konzentrierten, und Martin schien auch keinen großen Wert auf eine Unterhaltung zu legen. Die Aussicht auf die bevorstehende Nacht im Leichenhaus musste ihm verständlicherweise ziemlich zu schaffen machen.

Mir wurde noch einmal bewusst, wie sonderbar sich Martin verhalten hatte, und ich überlegte, welche Ursache es dafür geben könnte. Er war zwar schon den ganzen Abend über ruhiger als sonst gewesen, hatte sich aber noch merkwürdiger und verschlossener verhalten, nachdem wir die Wirtschaft verlassen und uns Ulis beschädigten Wagen angesehen hatten. Und als Bernie uns von dem toten Mädchen erzählt hatte, war er sogar noch in sich gekehrter geworden und hatte fast die ganze Zeit nur noch auf seine eigenen Füße gestarrt. Auf dem ganzen Weg von der Wirtschaft bis zu Marks und Bernies Zuhause hatte er kein einziges Wort gesprochen. Und als er dort ein Streichholz ziehen sollte, hatte er geradezu panisch reagiert.

Nachdem ich gründlich darüber nachgedacht hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass ihn der Tod des jungen Mädchens besonders hart getroffen haben musste, viel härter als uns Übrige, weil er vermutlich insgeheim in sie verknallt gewesen war. Und wenn man sein ganzes Verhalten erst einmal aus dieser Perspektive betrachtete, wurden seine Reaktionen in dieser Nacht sogar verständlich.

Als wir bei mir zu Hause ankamen, wünschte ich Martin eine gute Nacht.

Er verharrte einen Augenblick unschlüssig neben mir, als wollte er etwas sagen, aber als ich gähnte, hob er nur grüßend die rechte Hand, in der er immer noch das abgebrochene Streichholz hielt, als wäre es dort festgefroren, und ging davon, ohne ein Wort zu sagen. Er lief gebeugt wie ein alter Mann, dem die Last der Jahrzehnte den Rücken gekrümmt hatte. Doch in Martins Fall waren es natürlich keine Jahrzehnte, sondern vermutlich nur irgendwelche Sorgen oder Bedenken, über die er nicht sprechen konnte oder wollte.

Ich sah ihm unschlüssig hinterher und überlegte, ob ich ihn zurückrufen und auffordern sollte, mir zu erzählen, was ihn bedrückte, doch da musste ich erneut so heftig gähnen, dass ich beinahe eine Kiefersperre bekam, und erinnerte mich wieder an die Uhrzeit. Am morgigen Tag war schließlich auch noch genügend Zeit, ihn nach seinen Problemen zu fragen. Ich wartete, bis er in die übernächste Querstraße einbog und um die Ecke verschwand, dann ging ich ins Haus. Martin hatte noch ein paar Hundert Meter zu gehen, bevor er sich in sein warmes, gemütliches Bett legen konnte. Ich hatte mehr Glück und lag schon wenige Minuten später in meinem eigenen Bett. Dort hatte ich dann gar keine Zeit mehr, mir weiter den Kopf zu zerbrechen, denn ich schlief augenblicklich ein, sobald mein Kopf auf dem Kissen lag.

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