Kitabı oku: «ZAHLTAG IN DER MORTUARY BAR», sayfa 2

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Max beobachtete die schattenhafte Gestalt auf dem Barhocker neben ihm aus den Augenwinkeln, während sie sprach. Nun hatte sie es doch noch geschafft, sein Interesse zu wecken, denn er war selbst ein paar Jahre in der Baubranche tätig gewesen. Das hatte ihm ein paar leicht verdiente Millionen eingebracht. Er dachte immer wieder gern an diese Zeit und an die zahlreichen Träumer zurück, die ihm ihr Geld und ihr Vertrauen geschenkt hatten. Dummköpfe! Er hatte sie um beides betrogen und sie am Ende in ihren halb fertiggestellten Bauruinen zurückgelassen. Max lächelte verträumt, als er an die damaligen Bombengeschäfte zurückdachte. Damals war für ihn fast jeden Tag Zahltag gewesen, er hatte das Geld gar nicht so schnell zählen können, wie es in seine Taschen geflossen war.

»Ich wandte mich damals an einen Bauträger, der mir versprach, ein wunderschönes Einfamilienhaus ganz nach meinen Vorstellungen zu bauen. Und das zu einem verhältnismäßig günstigen Preis. Meine Ersparnisse reichten dafür nicht, also musste ich einen großen Teil finanzieren. Aber mit der Boutique im Rücken war es kein Problem, einen Kredit zu bekommen.«

Interessiert hörte Max zu. Er konnte sich schon jetzt lebhaft vorstellen, wie diese für einen weniger herzlosen Menschen gewiss rührende Geschichte ausgegangen war.

»Die Firma begann mit dem Bau, doch schon kurz nach Errichtung des Rohbaus wurden die Arbeiten von einem Tag auf den anderen eingestellt. Alles, was ich besaß, war eine Bauruine. Außerdem waren all meine Ersparnisse weg, und den Kredit musste ich auch zurückbezahlen. Ich war nicht das einzige Opfer, Hunderten war es ähnlich ergangen. Alle waren um ihr Geld betrogen worden und saßen nicht nur in unbewohnbaren Rohbauten, sondern auch auf einem Berg von Schulden. Rechtlich war nichts zu machen, denn der vermeintliche Geschäftsführer der Bauträgerfirma war nur ein Strohmann, der von den miesen Machenschaften des wahren Eigentümers nichts gewusst hatte und selbst um seinen Lohn betrogen worden war. Er hatte kein Geld und litt darüber hinaus an einer unheilbaren Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselte. Ihn zu verklagen, wäre sinnlos gewesen.«

Leukämie!, dachte Max und grinste selbstzufrieden über seinen eigenen Einfallsreichtum, wenn es darum ging, die Geldströme von den Konten anderer Leute elegant in die eigene Tasche umzuleiten.

»Mein Geld war natürlich mitsamt dem Betrüger spurlos verschwunden«, fuhr Anna mit tonloser Stimme fort. »Die monatliche Belastung durch die Kredittilgung und die ständig wachsenden Zinsbeträge wurde irgendwann zu viel. Ich musste mein Geschäft verkaufen, um wenigstens einen Teil meiner Schulden ausgleichen zu können. Anschließend stand ich beruflich vor dem Nichts.«

»Schlimme Sache«, heuchelte Max Mitgefühl, das ihm wesensfremd war, während er über die Dummheit dieser Frau hinter vorgehaltener Hand heimlich grinste.

»Am Ende sah ich keinen anderen Ausweg mehr«, fuhr Anna fort. »Von meinem letzten Bargeld kaufte ich im Baumarkt einen robusten Strick und erhängte mich im Badezimmer!«

Ihre letzten Worte wischten das Grinsen aus Max’ Gesicht. Irritiert schreckte er hoch. Moment mal, was erzählt die Alte bloß für einen Mist? Da sie hier neben ihm hockte, konnte die Sache mit dem Erhängen ja nicht geklappt haben! Konnte diese Versagerin eigentlich gar nichts richtig machen?

»Ganz im Gegenteil, Max. Diesmal hab ich alles richtig gemacht«, widersprach Anna, beugte sich nach vorn, bis ihr Gesicht wieder ins Licht geriet, und starrte ihn aus ihren tief in den Höhlen liegenden Augen anklagend an. »Fast eine ganze Woche hing ich an dem verdammten Seil, bis ich endlich gefunden wurde. Es war der Gerichtsvollzieher, der gekommen war, um mich aus meiner Wohnung zu werfen, weil ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Und das alles nur wegen dir und deiner verfluchten Skrupellosigkeit. Du hast mich auf dem Gewissen, Max Ackermann!«

Erschrocken wich Max zurück, so weit es ihm der Barhocker gestattete. Die Alte war ja komplett wahnsinnig! Es war gut möglich, dass er sie vor einigen Jahren tatsächlich um ihr Geld gebracht hatte. Es waren damals so viele gewesen, dass er sich nicht mehr an jeden Einzelnen erinnern konnte. Aber er hatte doch nur ihr Geld genommen und nicht ihr … ihr Leben.

»Mein Tod geht auch auf dein Konto, Max Ackermann!«, ertönte in diesem Moment eine neue Stimme unmittelbar hinter ihm.

Max wirbelte auf dem Hocker um die eigene Achse und sah sich nach dem Sprecher um.

Die übrigen Gäste in der Bar hatten ihre Plätze verlassen. Während seiner Unterhaltung mit Anna waren sie lautlos und unbemerkt aus ihren Nischen geschlüpft und näher herangekommen. In einem engen Halbkreis standen sie nun vor ihm im trüben Lichtschein und präsentierten sich in all ihrer Schönheit. Und einer sah schlimmer aus als der andere.

»Bei mir lief die Sache nahezu identisch ab«, sagte ein Mann. »Ich hab mich allerdings nicht aufgehängt, sondern mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Das ging schneller.« Er bohrte seinen Zeigefinger in das schwarz verkrustete Einschussloch in seiner rechten Schläfe, bis die vorderen beiden Fingerglieder komplett darin verschwunden waren.

»Mich hast du auch über den Tisch gezogen, Max Ackermann«, meldete sich ein weiterer Mann zu Wort, dessen verzerrte Gesichtszüge Max sogar vage vertraut vorkamen. »Du hast mir meine Firma gestohlen! Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als meine ganze Familie mit in den Tod zu nehmen, um ihnen ein Leben in Armut und Schande zu ersparen.«

Die Frau an seiner Seite nickte heftig. Man konnte noch immer sehen, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste. Doch jetzt sah ihr Schädel aus, als wäre er von einem brutalen Axthieb in zwei ungleichmäßige Hälften gespalten worden. Auch die Körper und Köpfe der beiden kleinen Kinder, die in ihren mit Comicfiguren bedruckten Schlafanzügen vor dem Paar standen und Max aus großen leblosen Augen finster anstierten, sahen schrecklich deformiert und verunstaltet aus.

»Du hast meine gesamten Ersparnisse gestohlen, die ich dir für Anlagezwecke anvertraut hatte!«, rief eine Frau aus dem Hintergrund. Sie hob ihre Arme und präsentierte ihm ihre blutleeren aufgeschlitzten Handgelenke, als wären es grauenerregende Trophäen.

»Meine auch, du Betrüger!«

»Ackermann, du hast uns ruiniert!«

»Gemeiner Dieb!«

»Wir haben alles verloren!«

Nachdem so ziemlich jeder der Anwesenden mit Ausnahme des Barmanns seinem Unmut lautstark Luft gemacht hatte, kehrte zunächst wieder Ruhe ein. Sogar die Hintergrundmusik war mittlerweile verstummt.

Max war während der anklagenden Worte unwillkürlich auf der Sitzfläche des Hockers immer weiter nach hinten gerutscht, bis er mit dem Rücken gegen die Bar stieß und nicht mehr weiter zurückweichen konnte.

»Was auch immer du jedem Einzelnen von uns angetan hast, Max Ackermann«, meldete sich da wieder Anna zu Wort, »heute ist endlich der lang ersehnte Zahltag gekommen. Denn heute Nacht wirst du für deine Untaten bezahlen – mit deinem Leben, mit deinem Blut und mit deinem Fleisch!«

Max wandte rasch den Kopf, obwohl er am liebsten alle Anwesenden gleichzeitig im Auge behalten hätte. Die Frau, die sich ihm mit dem Namen Anna vorgestellt hatte, stand nun unmittelbar neben ihm im düsteren Licht. Er konnte die schwarzen Wundmale an ihrem Hals erkennen, wo sich der Strick tief in ihr nachgiebiges Fleisch gegraben hatte.

Max räusperte sich und setzte zum Sprechen an. Er wollte die Menge mit den beruhigenden Worten des geborenen Verführers, der er war und ihm bisher so viel Erfolg beschert hatte, zur Vernunft bringen. Zur Not würde er ihnen sogar versprechen, das Geld mit Zins und Zinseszins zurückzuerstatten.

Doch die gierige Meute vor ihm kannte nun kein Halten mehr. Als wären Annas Worte der Startschuss gewesen, stürzten sich alle gleichzeitig schreiend und heulend auf den Mann in ihrer Mitte, den sie zuvor bereits mit Worten zu der Strafe verurteilt hatten, die sie nun eigenhändig vollstrecken wollten.

Max schrie gellend, als zahlreiche eisig kalte Klauen gleichzeitig nach ihm griffen und an seinen Armen und Beinen zerrten. Zähne gruben sich an mehreren Stellen durch seine Kleidung und tief in sein Fleisch. Ein besonders gieriges Maul schloss sich um sein rechtes Ohr und riss es ihm mit einem einzigen extrem schmerzhaften Ruck vom Kopf. Etwas Spitzes bohrte sich in sein rechtes Auge und hebelte den Augapfel aus seiner Höhle. Dann wühlten sich gekrümmte Klauenfinger in seinen Hals und rissen ihm den Kehlkopf heraus.

Max Ackermanns qualvoller Schrei endete wie abgeschnitten. Im Hintergrund setzte wieder leise Barmusik ein, als der Barmann den CD-Spieler anmachte, und begleitete das Reißen nachgebenden Fleisches und das Krachen berstender Knochen. Nach einer Weile wurden diese Geräusche jedoch leiser und durch lautes Schlürfen und genießerisches Schmatzen ersetzt. Gelegentlich rülpste sogar jemand laut.

Nachdem die erbarmungslose, rachsüchtige Meute ihr grausiges Mahl vollendet hatte, wandte sie sich stumm von den Überresten ab und verschwand wie eine Prozession von Geistern einer nach dem anderen geräuschlos durch eine im Schatten liegende Tür im hinteren Teil der Bar.

Der schweigsame Barkeeper nahm einen Lappen und einen Eimer mit Wasser und wischte die dunklen Flecken auf, die von Max Ackermann übrig geblieben waren. Er sammelte auch die zerfetzten, bluttriefenden Reste der ehemaligen Designerkleidung, eine teure Armbanduhr, ein Schlüsselbund, eine dicke Brieftasche und ein paar zerbrochene, ausgelutschte Knochenstücke ein, ehe er hinter den Tresen zurückkehrte und begann, die Gläser abzuräumen.

Während er die Gläser spülte, öffnete sich die hintere Tür ein weiteres Mal und entließ einen Schwung merkwürdiger, schweigsamer Gestalten. Die neuen Gäste kamen ebenso wortlos und diszipliniert, wie die alten zuvor das Feld geräumt hatten, in die Bar und verteilten sich anschließend an der Theke und auf die Sitznischen.

Trotz der leisen Hintergrundmusik hörte der Barmann schon bald darauf, wie draußen ein Wagen in die Gasse fuhr und neben dem Porsche des kürzlich verstorbenen Multimillionärs Max Ackermann anhielt, dann verstummte der Motor. Der Barkeeper wartete noch eine halbe Minute, ehe er auf einen unter dem Tresen verborgenen Knopf drückte, wodurch die Neonbeleuchtung über dem Eingang – mit Ausnahme des ausgefallenen o in Mortuary – wieder zu leuchtendem Leben erweckt wurde.

Kurz darauf hörte man, wie eine Autotür zuschlug und zaghafte Schritte die steinernen Stufen vor der Tür herunterkamen.

Die unheimlichen Gestalten in den Schatten und der Barkeeper warteten stumm und reglos auf den nächsten Gast, der in dieser besonderen Nacht hierher bestellt worden war und gleich durch die Tür in die Bar kommen würde.

Da sollte noch mal einer behaupten, das Geschäft in dieser Gegend liefe schlecht. Genau das Gegenteil war der Fall. Schließlich war heute Zahltag in der Mortuary Bar!

PETERS GEHEIMNIS

Kevin ließ seinen aufmerksamen Blick über den Teil des Friedhofs gleiten, den er von seinem Versteck aus einsehen konnte, entdeckte seinen Freund aber nirgends. Wo steckte Peter bloß? Vorsichtig ließ Kevin die Äste der Büsche, die er mit den Händen geteilt hatte, an ihren Platz zurückgleiten, lehnte sich dann mit dem Rücken gegen die Friedhofsmauer und dachte nach, was er tun sollte.

Natürlich konnte er nicht einfach über den Friedhof spazieren, um nach Peter zu suchen, denn viele Besucher – in seinen Augen größtenteils uralte Leute, die bald für immer hier wohnen würden – mochten es nicht, wenn Kinder an diesem Ort der Trauer spielten, herumtobten und Lärm machten. Und der Friedhofsarbeiter, den sie wegen seines merkwürdigen Aussehens und seines humpelnden Gangs Quasimodo getauft hatten, jagte sie mit seinem Gehstock, sobald er sie entdeckte. Peter hatte ihm erzählt, der Mann würde alle Kinder, die er erwischte, in kleine Särge stecken, die er in seinem Häuschen neben dem Friedhof selbst anfertigte, und heimlich vergraben. Nachts könnte man manchmal ihre gedämpften Schreie hören, sofern man überhaupt den Mut hatte, zu dieser Zeit über den Friedhof zu gehen.

Kevin hatte es bei der Geschichte ziemlich gegruselt, obwohl er nicht sagen konnte, ob er wirklich daran glaubte. Peter erzählte ständig solche Geschichten. Aber wenn sie wirklich stimmte, hätte man Quasimodo doch längst ins Gefängnis gesteckt, oder? Andererseits sah der Mann ganz so aus, als wäre er zu derartigen Dingen in der Lage. Kevin erschauerte bei dem Gedanken unwillkürlich und sah sich furchtsam um, ob Quasimodo sich nicht heimlich angeschlichen hatte und in diesem Moment seine krummen Finger, an denen in der Regel noch die Erde eines frisch ausgehobenen Grabes klebte, nach ihm ausstreckte. Zu seiner Erleichterung war jedoch niemand in der Nähe.

Kevin verstand ohnehin nicht, warum die Erwachsenen nicht wollten, dass sie hier waren. Sie machten schließlich nichts kaputt. Und außerdem konnte man hier prima spielen. Besser als auf dem Spielplatz, wo einen die größeren Jungs ärgerten, der Sandkasten voller Hundescheiße war und die meisten Spielgeräte seit Langem kaputt waren. Hier wuchsen entlang der Mauer, die den ganzen Friedhof umgab, so viele Büsche und Bäume, dass es mindestens zwanzig, wenn nicht sogar hundert gute Verstecke gab.

Kevin hatte nur ganz selten richtig Angst, wenn er hier war. Nur manchmal, wenn sie in ihrem Lieblingsversteck saßen, während es schon dunkel wurde, und Peter eine seiner Gruselgeschichten erzählte, dann hatte er schon ein bisschen Angst. Aber eigentlich nur ganz wenig, nicht mal halb so viel wie beim Zahnarzt.

Natürlich, unser Lieblingsversteck!, dachte Kevin und lächelte. Warum bin ich Hirni nicht gleich darauf gekommen? Er klatschte sich mit der Handfläche gegen die Stirn, stieß sich von der Mauer ab und spähte durch eine Lücke in den Büschen nach draußen. Im Moment war niemand zu sehen, weder ein Besucher noch der fiese Quasimodo, der Kinder jagte, um sie nachts heimlich zu verscharren.

Kevin schlüpfte vorsichtig aus dem Versteck und rannte dann geduckt über das Gräberfeld, so wie sie es in den Soldatenfilmen machten, wenn sich die Kompanie an feindliche Linien anschlich. Sein Ziel war die gegenüberliegende Seite des Friedhofs, wo sich ihr bestes und liebstes Versteck befand. Zwei Bäume waren dort schief gegeneinander gewachsen und bildeten so ein natürliches Dach, unter dem die beiden Freunde bequem Platz und bei schlechtem Wetter sogar Schutz vor den Elementen fanden. Außerdem wurde die Stelle durch mehrere Büsche vor den Blicken anderer Leute abgeschirmt und bot so den idealen Unterschlupf.

Kevin stoppte auf halber Strecke hinter einem schwarzen polierten Grabstein aus Granit und spähte daran vorbei. Ein gutes Stück entfernt kauerte eine dunkel gekleidete, schon ziemlich alte Frau vor einem Grab und goss die Pflanzen aus einer grünen Plastikgießkanne. Kevin glaubte nicht, dass sie ihn hören konnte, denn dazu war sie viel zu weit weg. Außerdem war sie höchstwahrscheinlich schon genauso schwerhörig wie Oma Gertrud.

Er rannte weiter und kam in den neueren Teil des Friedhofs. Er spurtete an einem frischen Grab vorbei, das mit welkenden, intensiv riechenden Blumen und zahlreichen Kränzen übersät war und noch keinen Grabstein, sondern nur ein schlichtes hellbraunes Holzkreuz besaß, auf dem lediglich der Vorname der Person stand, die hier begraben lag. Auf einer Schleife, die im leichten Wind flatterte, konnte er im Vorbeilaufen die Worte »Unser geliebter Sohn« lesen, dann war er aber schon vorbei und sauste zu den Büschen. Er teilte sie gekonnt mit den Armen, ohne mit der Kleidung irgendwo hängen zu bleiben oder sich wehzutun, und schob sich dann hindurch, als würde er im Sommer mit einem Hechtsprung ins Schwimmbecken des Freibads eintauchen.

»Na, endlich lässt du dich auch mal blicken«, begrüßte ihn Peter. »Wo warst du denn so lange?«

Kevin ließ sich vor seinem besten Freund auf die Knie fallen und atmete schwer. Peter lag auf der Seite, hatte den Kopf lässig in eine Hand gestützt und schaute betont cool auf seine Lego-Armbanduhr, um die Kevin ihn insgeheim beneidete.

»Ich musste erst noch Schularbeiten machen«, antwortete Kevin, als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. »Und dann war ich erst im falschen Versteck, bevor mir einfiel, dass du vermutlich hier bist.«

»Schularbeiten?«, fragte Peter und verzog dabei angewidert das Gesicht, als wäre von etwas furchtbar Ekligem die Rede, beispielsweise von Eukalyptusbonbons, die Kevin immer lutschen musste, wenn er erkältet war, oder Spinat, den er mehr als alles andere verabscheute.

»Ja, Schularbeiten!«, wiederholte Kevin und streckte seinem Freund die Zunge heraus. »Und wieso warst du heute eigentlich nicht in der Schule? Bist du etwa krank?«

Peter zuckte mit den Schultern. »Nö! Ich hatte keine Lust. Wieso, hat jemand nach mir gefragt?«

Kevin überlegte, zuckte dann mit den Schultern und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Nö.«

»Siehst du. Die trotteligen Lehrer bemerken es noch nicht mal, wenn ich nicht da bin.«

»Und wo warst du dann?«

Peter sah sich um, als befürchtete er, jemand könnte ihr Gespräch belauschen. Aber sie waren noch immer unter sich. »Ich war an einem geheimen Ort«, flüsterte er dann in einem verschwörerischen Tonfall.

Kevin kicherte. »Mensch, Peter! Du spinnst doch nur wieder und erzählst Geschichten.«

Peter stieß sich mit den Händen vom Boden ab und brachte sich in eine sitzende Position. Dann beugte er sich vor und flüsterte: »Es stimmt aber, Kev, ehrlich! Ich kann es sogar beschwören!« Er hob die linke Hand und spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab, während er die andere Hand auf die Brust legte, dorthin, wo sein Herz war. »Ich schwöre es!«

»Echt?« Kevin machte große Augen. Peters ernsthaftes Verhalten überzeugte ihn, dass dieser ausnahmsweise nicht flunkerte. Immerhin hatte er richtig geschworen, und damit machten die beiden Jungs keine Späße. Ein Schwur war eine ernste Sache. Kevin wurde ganz aufgeregt und konnte nur mit Mühe ruhig hocken bleiben, denn wenn es etwas gab, das ihn mehr als alles andere faszinierte, dann waren es Geheimnisse aller Art, zum Beispiel Geheimverstecke, Geheimagenten, geheime Piratenschätze und natürlich geheime Orte. »Und wo ist dieser geheime Ort?«

Peter hob bedauernd die Schultern. »Tut mir leid, Kev, aber wenn ich dir das sage, muss ich dich anschließend töten!«

»Was?«

»War nur ein Scherz, Kevin«, sagte Peter und lachte leise. »Aber im Ernst, ich kann es dir nicht verraten.«

»Hey, das ist jetzt aber voll gemein«, rief Kevin zutiefst entrüstet, dämpfte aber sofort wieder seine Stimme, als er sich an die anderen Friedhofsbesucher und vor allem an Quasimodo und dessen selbst gefertigte Kindersärge erinnerte. »Du kennst es doch auch. Warum darf ich es dann nicht wissen?«

»Eben darum.«

»Eben darum?«, wiederholte Kevin ungläubig. »Eben darum ist überhaupt kein richtiger Grund. Eben darum ist blöd! Das ist so gemein von dir, Peter!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und wandte den Blick ab, als ihm Tränen in die Augen traten, die sein Freund nicht sehen sollte. Er fühlte sich von Peter verraten, der einen geheimen Ort kannte und ihm nichts verraten wollte. »Und dabei dachte ich, wir wären die besten Freunde«, sagte er leise und zutiefst enttäuscht.

»Na gut«, lenkte Peter da ein und seufzte. »Ich zeig dir den Ort.«

Kevin hätte vor Freude beinahe laut gejubelt, beherrschte sich jedoch gerade noch. Stattdessen kicherte er nur leise, riss die Arme nach oben und wischte sich mit den Ärmeln verstohlen die Tränen vom Gesicht. »Wann? Jetzt gleich?«

Peter schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt geht das nicht.«

»Was? Wann denn dann? Jetzt sag schon!«

»Heute Nacht.«

»In der Nacht?«, fragte Kevin verblüfft. »Spinnst du? Da muss ich doch schlafen!«

»So ist aber die Regel. Wenn du den geheimen Ort sehen willst, dann geht das nur in der Nacht! Also, kommst du jetzt oder kommst du nicht?«

Kevin überlegte. Im Grunde war es für ihn überhaupt kein Problem, heimlich aus dem Fenster seines Zimmers in den Garten zu steigen, wenn seine Mutter ihn zu Bett gebracht hatte. Nachdem Peter ihm den geheimen Ort gezeigt hatte, konnte er dann ebenso problemlos wieder ins Haus zurück. Niemand würde bemerken, dass er überhaupt weg gewesen war. »Okay, ich bin dabei!«

»Dann ist es abgemacht! Aber es gibt noch eine Regel.«

»Welche?«

»Du darfst keiner Menschenseele davon erzählen. Nicht einmal deiner Mama oder deinem Papa.«

»Mach ich schon nicht. Was glaubst du denn? Es ist schließlich unser Geheimnis, Peter.«

»Dann schwöre es!«

Kevin hob die linke Hand und spreizte wie zuvor sein Freund drei Finger. Die andere Hand presste er gegen die Brust. »Ich schwöre, dass ich keiner Menschenseele, nicht einmal meiner Mama oder meinem Papa, ein Sterbenswörtchen von Peters Geheimnis erzählen werde!«

Peter nickte zufrieden. »Okay.«

»Erzählst du mir jetzt schon was über den geheimen Ort, Peter?«

»Das geht nicht. Aber du wirst es ja heute Nacht selbst sehen.«

Kevin wurde noch aufgeregter. Das musste ja ein super-obergeheimer Ort sein, wenn ihm sein Freund nicht mal ein klitzekleines bisschen darüber erzählen durfte. Er konnte es nicht lassen, eine weitere Frage zu stellen. »Aber sag mir wenigstens, wie es denn so an dem geheimen Ort ist?«

Peter hob den Blick, lächelte versonnen und starrte verträumt ins Leere. »Da ist es voll … cool. Es wird dir dort bestimmt gefallen, Kev. Das verspreche ich dir.«

Kevin grinste. »Super. Ich wünschte nur, es wäre schon so weit. Ich kann es kaum erwarten.«

»Ach, bevor ich es vergesse, ich hab noch was für dich«, sagte Peter und griff in die Tasche seiner Jeans, an der noch Friedhofserde klebte. Er brachte einen kleinen, mattweiß schimmernden Gegenstand zum Vorschein und legte ihn in Kevins Handfläche. »Hier, das schenk ich dir.«

»Was ist das denn?«, fragte Kevin und betrachtete das seltsame Ding aufmerksam von allen Seiten. So etwas hatte er noch nie gesehen.

»Das stammt von dem geheimen Ort. Da gibt es noch viel mehr davon.«

»Echt? Das ist ja voll endgeil!«, sagte Kevin begeistert. Vielleicht war das Ding sogar wertvoll, auch wenn es momentan nicht danach aussah. Unter Umständen war es Teil eines geheimen Schatzes. Kevin stellte sich vor, wie er nach Hause kam, mit Gold, Juwelen und jeder Menge toller Spielsachen beladen. Seine Eltern würden jubeln, ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Gut, dass du nachts heimlich aus dem Fenster geklettert und zu diesem geheimen Ort gegangen bist, Kevin! Jetzt sind wir endlich steinreich, und du musst nie wieder Spinat und Eukalyptusbonbons essen!«

»Du darfst es aber niemandem zeigen«, ermahnte ihn Peter und riss ihn dadurch aus seinen Träumereien. »Das ist die dritte Regel. Nicht einmal der doofen Katharina

Kevin schüttelte heftig den Kopf und schloss rasch die Hand um sein Souvenir von dem geheimen Ort. Seiner Schwester, Eingeweihten auch als doofe Katharina bekannt, würde er nie im Leben ein Geheimnis verraten oder diesen Gegenstand zeigen. Die würde nämlich nur zu den Eltern rennen und ihn verpetzen. Das machte sie immer! Er schob das Ding rasch in die Hosentasche, damit er es nicht verlor, und sah auf seine Uhr. Nachdem er an den Fingern abgezählt hatte, wie viele Stunden er noch warten musste, bis er den geheimen Ort sah, stöhnte er leise. Sie mussten unbedingt etwas tun, damit die Zeit schneller verstrich. »Lass uns Geheimagenten spielen, Peter!«, schlug er vor.

»Einverstanden, Kev!«

Als Kevin pünktlich um halb sechs nach Hause kam, bereitete seine Mutter in der Küche bereits das Abendessen vor.

»Na, wo hast du dich denn heute wieder herumgetrieben?«, fragte sie.

»Och, ich war nur spielen.«

»So? Warst du etwa ganz allein unterwegs?«

»Nö, natürlich nicht! Ich war doch mit Peter zusammen.«

Seine Mutter sah ihn mit traurigem Blick an und schüttelte sorgenvoll den Kopf. »O Kevin!«, seufzte sie. Dann bemühte sie sich jedoch wieder um ein Lächeln. »Jetzt aber ab ins Badezimmer mit dir! Wasch dir bitte die Hände, gleich gibt es Abendessen.«

Hinterher durften Kevin und seine Schwester noch ein bisschen fernsehen. Nach dem Sandmännchen wurde Katharina ins Bett gebracht, die zwei Jahre jünger als Kevin war. Sie protestierte und schrie, als würde man sie zum Schafott führen, so wie sie es jeden Abend tat, fügte sich dann aber, nachdem ihr Vater ihr einen tadelnden Blick zugeworfen hatte. Schmollend und mit zornesfinsterer Miene zog sie ab und ging ins Bad, um sich zu waschen und Zähne zu putzen.

Kevin genoss das Privileg, länger als seine Schwester aufbleiben zu dürfen, doch dann war auch seine Zeit abgelaufen. Obwohl auch er sonst heftig, wenngleich chancenlos um ein paar zusätzliche Minuten feilschte, ließ er es für heute bleiben. Der Vater warf der Mutter einen fragenden Blick zu, als Kevin anstandslos aufstand und davonstapfte, doch diese hob nur ratlos die Schultern.

Als Kevin im Bett lag, kämpfte er gegen die Müdigkeit, die ihn zu überwältigen drohte. Aber er durfte nicht einschlafen. Er hörte, wie seine Mutter zurück ins Wohnzimmer ging. Nun musste er nur noch warten, bis etwas Ruhe eingekehrt war. Da der Fernseher lief, würden seine Eltern nicht hören, wie er das Fenster öffnete und hinauskletterte. Und die doofe Katharina, deren Zimmer nebenan lag, schlief sicher schon tief und fest.

Kevin hatte den Gegenstand, den Peter ihm gegeben hatte, vor dem Ausziehen heimlich unter sein Kopfkissen gesteckt. Nun holte er ihn hervor und rieb unter der Bettdecke mit den Fingern daran herum, als wäre es Aladins Wunderlampe und könnte Wünsche erfüllen.

Er hörte, dass sich seine Eltern im Wohnzimmer unterhielten. Er konnte allerdings nichts verstehen, und es interessierte ihn auch nicht, worüber sie sprachen. Erwachsenensachen wahrscheinlich. Er ließ den geheimnisvollen Gegenstand durch seine Finger gleiten, ertastete seine merkwürdige, aber dennoch irgendwie vertraut wirkende Form und fuhr über die dicken Rundungen an beiden Enden und den dünnen, glatten Mittelteil.

Bald würde es so weit sein. Er lächelte voller Vorfreude, als er sich vorstellte, dass er noch in dieser Nacht Peters Geheimnis kennenlernen würde.

»Sag mal, was ist eigentlich mit Kevin los?«, fragte Stephan Bauer, als seine Frau ins Wohnzimmer zurückkam. »Kein Theater, kein Gejammer. Ist der Junge etwa krank?«

Rita Bauer ließ sich seufzend auf die Couch sinken. »Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist.«

Durch den Tonfall seiner Frau alarmiert, wandte er den Blick von der Mattscheibe und sah sie fragend an. »Was ist passiert? Hat es wieder etwas mit … mit seinem Freund zu tun?«

»Du meinst Peter?«, fragte Rita und zuckte mit den Schultern. »Ich fürchte schon.«

»Er kommt wohl immer noch nicht darüber hinweg, oder?«

»Ich glaube eher, dass er noch gar nicht realisiert hat, was geschehen ist«, widersprach sie.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Als ich ihn fragte, wo er heute war, sagte er vollkommen überzeugt, er sei spielen gewesen. Aber nicht allein, sondern natürlich mit … mit Peter.« Sie wischte sich rasch eine Träne weg, die ihr aus dem rechten Auge und übers Gesicht gelaufen war. »O Gott, was ist bloß mit unserem Jungen los?«

Stephan rückte näher und legte ihr mitfühlend und Trost spendend einen Arm um die Schultern. »Ich glaube, seine Reaktion ist in diesem Alter ganz normal. Er verdrängt einfach, was passiert ist. So ist es für ihn leichter zu ertragen.«

»Aber er war doch selbst dabei, als es passierte!«, wandte Rita schluchzend ein. »Er hat doch alles mit eigenen Augen gesehen …!«

In grausamer Deutlichkeit konnte sich Rita Bauer noch immer an den exakten Ablauf der Ereignisse erinnern, die erst vor vier Tagen ihr Leben erschüttert hatten. Zunächst hatte sie die Sirenen gehört. Wie jedes Mal beim Klang der Martinshörner war in ihr die Sorge um ihren Sohn erwacht, der mit seinem besten Freund draußen beim Spielen war. Doch zu ihrer Erleichterung kam Kevin schon kurze Zeit später wohlbehalten nach Hause.

»Nanu, was machst du denn schon hier, Kevin?«, fragte Rita. Einerseits war sie erleichtert, dass es ihrem Sohn gut ging. Andererseits kam er sonst nie vor dem vereinbarten Zeitpunkt nach Hause, sondern nutzte jede freie Minute, um mit Peter in der Umgebung herumzustromern und zu spielen.

»Peter musste … Er ist nach Hause gegangen.«

»Wieso das denn? Gab es etwa Ärger oder so?«

»Keine Ahnung«, meinte Kevin und schenkte sich ein Glas Apfelsaftschorle ein.

Erst anderthalb Stunden später, als die Polizei vor ihrer Tür stand, erfuhr sie, was an diesem Nachmittag tatsächlich geschehen war.

Die beiden Jungen hatten trotz mehrfachen ausdrücklichen Verbots beider Elternpaare an der Bahnstrecke gespielt. Sie hatten Ein- und Zwei-Cent-Münzen auf die Schienen gelegt, damit die Räder der vorbeifahrenden Züge sie platt walzten. Und dabei war das schreckliche Unglück geschehen. Aufgrund bisher ungeklärter, höchst tragischer Umstände war der siebenjährige Peter von einem Interregio-Express erfasst und förmlich in Stücke gerissen worden.

Kevin musste direkt danebengestanden und das Unglück mitangesehen haben, konnte sich allerdings an nichts erinnern. Vehement und nach Ritas Ansicht sehr überzeugend bestritt er, überhaupt in der Nähe der Bahnstrecke gewesen zu sein. Stattdessen erklärte er immer wieder, Peter sei nach Hause gegangen. Sie bedrängten den Jungen schließlich nicht weiter, da er standhaft bei seiner Geschichte blieb, sondern schickten ihn zu Bett.

Nachdem die Kinder im Bett und die Polizisten wieder gegangen waren, brachte Rita noch rasch die Wäsche in den Keller, um sie in die Maschine zu stecken. Sie war noch zu aufgewühlt, um sich vor den Fernseher setzen und auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentrieren zu können. Stattdessen musste sie sich bewegen und etwas tun. Als sie die Wäschestücke sortierte, stellte sie voller Entsetzen fest, dass die Flecken auf Kevins T-Shirt und Jeans, die sie auf den ersten Blick für Dreckspritzer gehalten hatte, unzählige kleine Blutstropfen waren, die die Kleidungstücke an der Vorderseite von oben bis unten bedeckten. Peters Blut!, hatte sie angewidert gedacht. Sie hatte die Sachen gar nicht mehr gewaschen, sondern umgehend in die Mülltonne vor dem Haus gesteckt.

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