Der verschwundene Brief

Abonelik
0
Yorumlar
Parçayı oku
Okundu olarak işaretle
Yazı tipi:Aa'dan küçükDaha fazla Aa

Dienstag, 7. Juni

Es klingelt.

„Das ist für mich“, sagt Hannah. „Jaron, ein IT-Student. Ich kenne ihn von der Uni. Er will mir ein Programm installieren.“

„Was denn für ein Programm?“ Mats ist an allem interessiert, was mit PCs zu tun hat.

Hannah ist schon an der Tür. „Eins, das mir eingescannte Texte vorliest. Tut mir leid, dass ich schon aufstehe! Esst einfach weiter!“

Sie öffnet die Haustür.

„Hallo, Hannah. Da bin ich.“

„Hi, Jaron. Echt nett von dir. Komm mit rein!“

Sie gehen in Hannahs Zimmer. Während ihr Kollege sich am Computer zu schaffen macht, beschäftigt Hannah sich mit einem Buch aus ihrer Bibliothek in Blindenschrift. Keiner stört den anderen durch unnötige Konversation.

Bis Hannah ein leichtes Lachen ausstößt.

„Liest du was Lustiges?“, fragt der Kommilitone.

„Eigentlich nicht“, lächelt Hannah. „Ich lese in der Bibel.“

„Okay – und da gibt es was zum Lachen?“

„Auf jeden Fall. Aber ich habe eben eigentlich gar nicht richtig gelacht.“

„Um was geht’s denn?“

„Ich habe gerade in einem Psalm gelesen: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“

„Schon beeindruckend, dass du über deine Behinderung noch Scherze machen kannst.“

„Vielleicht deswegen, weil der Satz stimmt: Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Auch wenn das mit den Augen eher schwierig ist.“

„So“, sagt Jaron, „fertig. Gib mir mal einen Text, zum Ausprobieren. Aber nicht in Brailleschrift.“

Hannah tastet auf ihrem Schreibtisch. „Hier … Ach nein, das geht nicht. Handschrift. Aber vielleicht das …“

Es dauert eine Weile, dann hört Hannah eine trockene Computerstimme: „Barmer BEK. Kassel, den vierzehnten fünften zweitausendundsechzehn. Betreff: Ihre Anfrage wegen Kostenerstattung. Sehr geehrte Frau Droste, wir bestätigen den Eingang Ihres …“

Jaron schaltet das Gerät ab. „Das reicht. Es funktioniert. Und ich muss ja nicht deine Post mithören.“

Er verschweigt, dass er sich schon heimlich in eine persönliche Angelegenheit Einblick verschafft hat. Während der Scanner arbeitete, hat er den handschriftlichen Brief überflogen, den Hannah ihm zunächst geben wollte. Merkwürdig! Ein Brief von 1941! Und da ist von einem Code die Rede! Irgendwas mit Judenverfolgung und verborgenen Schätzen. Er hat lautlos sein Smartphone genommen und den Brief fotografiert.

„Super, danke, Jaron! Jetzt musst du mir nur noch sagen, was ich in welcher Reihenfolge machen muss!“

Das tut Jaron auch. Zehn Minuten später verabschiedet er sich, und Hannah geht ins Wohnzimmer.

„Ich grübele schon über dem Code“, begrüßt Mats sie. „Ehrlich: Ich komme keinen Schritt weiter.“

„Wie bist du die Sache angegangen?“

„Erst mal habe ich gezählt, welcher Buchstabe wie oft vorkommt. Ich dachte, dass der häufigste für ein E steht oder ein N.

Aber kein Buchstabe fällt durch besondere Häufigkeit auf. Und selbst wenn es so wäre – wie sollte ich weitermachen, wenn ich wüsste, was ein E ist?“

„Es muss ja nicht sein, dass ein bestimmter Buchstabe im Code immer ein bestimmter Buchstabe im Klartext sein muss. Das wäre zu einfach.“

„Wie meinst du das?“

Hannah zuckt die Achseln. Es wirkt bei ihr immer etwas unbeholfen, denn sie hat das nie bei anderen gesehen, man hat ihr nur gesagt, dass Achselzucken ein Zeichen für „ich weiß nicht“ ist. „Es ist sicher nicht so ganz schlicht. Wenn sich die Jungs damals so eine Geheimschrift ausgedacht haben, werden sie vermutlich einiges an Überlegungen investiert haben, um die Sache einigermaßen sicher zu machen.“

„Weiß nicht, wie wir da ohne die Hilfe eines Fachmanns weiterkommen sollen!“

„Gib nicht gleich auf, Bruderherz! Hast du nicht ’ne Zwei in Mathe?“

„Das hat doch nichts mit Mathe zu tun! Außerdem – bist du in Mathe nicht noch besser gewesen?“

„Am besten, du diktierst mir mal die ganze Buchstabenfolge, und ich schreibe sie mir in Brailleschrift auf. Dann kann ich auch alleine darüber nachdenken.“

„Okay. Bleib sitzen, ich hole deine Maschine.“

Und dann diktiert Mats: „NPDBNUZJMILATHDCDUGBKAGL …“

Mama kommt rein. Sie macht ein Gesicht, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie zornig oder traurig sein soll.

„Ist was?“, fragt Mats. „Wo ist Mia?“

„Sie spielt. Ich habe mit Florian telefoniert. Unglaublich. Er will nicht zu Jennis Beerdigung kommen!“

„Aber das muss er!“, empört sich Hannah.

„Hab ich ihm auch gesagt. Sie war seine Freundin, und vor allem, sie ist die Mutter seines Kindes gewesen!“

Mats ergänzt: „Und wenn es Selbstmord war, kann man wohl auch sagen, dass er an ihrem Tod nicht ganz unbeteiligt ist.“

„Mit so einer Aussage muss man vorsichtig sein!“, mahnt seine Mutter. „Aber unabhängig davon – es ist egoistisch und ignorant und … ach, was rege ich mich auf. Ich habe mir schon oft genug fest vorgenommen, mich durch Florians Verhalten nicht in einen Nervenzusammenbruch treiben zu lassen. Was macht ihr da?“

„Hannah will den codierten Brief in Braille haben, damit sie miträtseln kann.“

Mama nickt und setzt sich neben ihrer Tochter auf das Sofa. „Wenn man sich das Elend von diesem Daniel Grüntal vorstellt … Es gab und gibt wohl noch größere Sorgen als meine.“

Mittwoch, 8. Juni

Hannah bleibt stehen, noch ehe ihr Stock an ein Hindernis gestoßen ist.

„Guten Abend, junge Frau!“, sagt eine Männerstimme. Sie klingt etwas piepsig, und Hannah hört auch, dass der Mann etwas kleiner sein muss als sie. „Nicht schlecht! Woher wussten Sie, dass ich Ihnen im Weg stehe? Ich war ganz leise!“

„Aber nicht der Hund, den Sie da neben sich haben.“

Dass der Mensch nicht besonders freundlich wirkt, liegt nicht nur an der übertriebenen Höflichkeit seiner altmodischen Formulierungen, sondern auch am Tonfall seiner Stimme.

„Würden Sie mir jetzt bitte den Weg freigeben?“

„Einen Augenblick noch, wenn Sie gestatten, Frau Droste.“

„Kennen wir uns?“

„Vermutlich kennen Sie mich nicht“, antwortet der Fremde, „aber ich kenne Sie. Habe Sie in den letzten Tagen beobachtet. Aber ich stelle mich gern vor. Blaschke ist mein Name. Hubert Blaschke. Sie sollten sich den Namen gut merken, weil ich Sie bitten muss, Ihrem Bruder Florian einen Gruß von mir zu bestellen. Ach – das ist eigentlich auch nicht nötig, ich kann ihn selbst grüßen, wenn Sie mir sagen, wo ich ihn finde.“

„Mein Bruder wohnt nicht hier.“

„Ich weiß. Deswegen brauche ich ja seine neue Adresse.“

„Warum sollte ich das tun?“ Hannah gibt sich gelassener, als sie sich fühlt.

„Ganz einfach. Er schuldet mir Geld. Und der Termin für die Rückzahlung war gestern. Darum muss ich ihn daran erinnern und – leider – noch einmal fünf Prozent aufschlagen. Für den angefangenen Monat. So steht es in unserem Vertrag.“

Hannah überlegt hektisch. Ist es wahr, was der Mann sagt? Und wenn es wahr sein sollte – was durchaus möglich ist, so, wie sie Florian kennt –, soll sie ihm dann seine Adresse geben? Muss sie ihren Bruder schützen? Oder ist es vielleicht sogar gut, wenn er lernt, mit seinen Problemen allein fertig zu werden?

„Ich warte!“, sagt der Fremde in ironisch freundlichem Ton.

„Ich kann doch nicht einfach jemandem, den ich nicht kenne …“

„Es tut mir leid, dass ich mich genötigt sehe, meinem Ersuchen etwas Nachdruck zu verleihen. Und zwar mit der Feststellung, dass ich mich auf jeden Fall schadlos halten werde. Wenn nicht bei meinem treuen Kunden Florian, dann eben bei seiner Verwandtschaft. Zum Beispiel bei seiner Schwester. Oder bei – ist das süße, blonde, kleine Mädchen, das in Ihrem Haus wohnt, nicht seine Tochter?“

Hannah nickt, zum Sprechen ist sie vor Schreck nicht fähig.

„Also?“, drängt der Mann. Der Hund neben ihm unterstreicht die Forderung seines Herrchens durch ein Knurren – seine Reaktion auf den plötzlich schärferen Ton. Da dem Mann vermutlich wegen seiner geringen Körpergröße die Autorität fehlt, die er in seinem Geschäft braucht, hat er sich den Hund zugelegt. Als Autoritätsverstärker.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr …“

„Blaschke. Hubert Blaschke.“

„Herr Blaschke. Morgen wird mein Bruder kommen. Vielleicht haben Sie mitbekommen, weil Sie doch so gut über uns informiert sind, dass seine frühere Freundin, die Mutter des kleinen Mädchens, gestorben ist. Morgen ist die Beisetzung. Da können Sie ihn selbst sprechen. Um vierzehn Uhr auf dem Friedhof.“

„Hm“, brummt Blaschke, „hm. Gut, bis dahin werde ich mich gedulden. So, Hektor, dann geh mal etwas zur Seite. Bitte, Frau Droste! Und auf Wiedersehen! Oder sagt man das nicht zu einer Blinden?“

Hannah antwortet einfach nicht und geht weiter. Mats kommt ihr mit dem Fahrrad entgegen und grüßt im Vorbeifahren. Zu Hause stellt sie fest, dass sie allein ist. Ihre Mutter macht anscheinend einen Spaziergang mit Mia oder tratscht mit einer Nachbarin.

Sofort nutzt sie die Gelegenheit, Florian anzurufen. Er ist auch gleich am Telefon.

„Hier ist deine Schwester.“

„Hallo, Hannah! Ich sage dir gleich: Zur Beerdigung komme ich nicht! Wenn es also darum geht, mich zu beknien, obwohl ich Mama schon abgesagt habe, dann hast du umsonst angerufen.“

„Du schämst dich echt gar nicht, oder?“

„Warum sollte ich? Mensch, Hannah, was ist los mit dir! Ich war nur ein paar Monate mit Jenni zusammen. Und das ist schon lange her. Ich habe nichts mehr mit ihr zu tun gehabt, gar nichts. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie es gern anders gehabt hätte.“

 

„Du hast gar nichts mit ihr zu tun? Das stimmt nicht ganz! Ihr habt eine gemeinsame Tochter.“

„Ich habe für sie gezahlt. Gut, nicht ganz so regelmäßig, aber was ich konnte, habe ich …“

„Und du meinst, mit Geld … Ach, vergiss es! Da du eh kein Mitgefühl kennst, brauchen wir gar nicht weiter drüber zu reden.“

„Gut. Kann ich dann auflegen? Oder war noch was Wichtiges?“

„Ich soll dir noch einen Gruß bestellen.“

„Ach?“

„Von Blaschke. Hubert Blaschke. Er müsse leider für den angefangenen Monat noch einmal fünf Prozent aufschlagen, meint er.“

„Scheiße!“

„Er hat mich nach deiner Adresse gefragt. Ich habe ihn vertröstet. Aber du kommst übermorgen zur Beerdigung, habe ich versprochen.“

„Ich habe doch gesagt, ich komme nicht!“

„O doch, du kommst! Er will sich das Geld von uns holen, wenn du nicht da bist. Und er will weder auf deine blinde Schwester noch auf dein vierjähriges Kind Rücksicht nehmen. Wir haben jedenfalls keine Lust, deine Probleme zu lösen! Wenn du morgen nicht da bist, und zwar rechtzeitig, dann erfährt dein Freund von mir, wie er dich erreichen kann. Und ich vermute, wenn er extra zu dir nach Bremen kommen muss, wird das für dich teurer und auch unangenehmer, als wenn du dich ihm stellst. Und ich denke, deine Firma muss dann auch erfahren, was ihr Mitarbeiter für Verbindungen …“

„Mann, Hannah! Ich hab keine Ahnung, wie ich das Geld auftreiben soll!“

„Meinst du, ich wüsste das?“

„Gibt es denn keine … lass mich überlegen!“

„Mach, was du willst, Hauptsache, du bist morgen da!“ Sie legt auf.

Eine Weile bleibt sie still sitzen. Erinnerungen an früher ziehen an ihr vorbei. Wie hat sie Florian vergöttert, als sie noch ein junges Mädchen und er ihr großer Bruder gewesen ist! Und wie sehr hat sie ihn immer bewundert! Es kommt ihr vor, als wäre es gestern gewesen, dass sie ihm mit den Händen über das Gesicht fuhr, um zu fühlen, wie er aussieht. Oder wie er sie auf die Schaukel im Garten gesetzt und angestoßen hat und sie das Gefühl hatte, als flöge sie in die Wolken. Oder wie er ihr, stockend und mit vielen Fehlern, als er im zweiten Schuljahr war, Geschichten vorgelesen hat. Oder wie er ihr Mutters altes Puppenhaus beschrieben und die einzelnen Möbel in die Hand gegeben und erklärt hat.

Wann hatte sie eigentlich aufgehört, diese Verbindung? Als Florian ein Teenager wurde, ja, aber warum? Hing es damit zusammen, dass ihr Vater, der damals noch lebte, zu streng war und Florian sich dagegen auflehnte? Nun, übertrieben streng war er eigentlich nicht, aber er hatte „christliche“ Prinzipien, denen Florian sich nicht unterwerfen wollte. Bei ihrer Mutter war der Glaube schon immer mehr Sache des Herzens gewesen, bei Vater eine der Verhaltensregeln. Das hat Florian genervt. Na ja, sie, Hannah, eigentlich auch. Aber sie ist kein rebellischer Typ. War sie nie. Eine Blinde, die weitgehend auf Hilfe angewiesen ist, rebelliert nicht so leicht.

Aber es war wohl noch mehr: Sie hat mehr vom Glauben ihrer Mutter übernommen. Florian aber hat immer nur aus Abwehr bestanden und darum nie verstanden, was der Glaube ihm hätte geben können. Schade …


Jaron bemüht sich schon seit Monaten um die Gunst von Jessica Hebel.

Jessica ist eine Schönheit. Das macht die Sache nicht leicht. Jaron weiß von mindestens zwei anderen Typen, die sich auch um sie bemühen. Aber er ist sicher, dass es noch mehr gibt, von denen er nur nichts weiß.

Dreimal hatten sie sich getroffen. Einmal in einem Café und zweimal zum Abendessen in einem besseren Lokal bei Kerzenschein. Sie hat auch nie etwas gegen einen Abschiedskuss gehabt, aber Jaron hatte jedes Mal den Eindruck, dass das bei ihr mehr ein notwendiges Ritual nach einem gemeinsamen Abendessen war. So, wie man sein Auto abschließt, wenn man angekommen und ausgestiegen ist. Während so ein Kuss bei ihm immer durch den ganzen Körper fuhr, schien er seine Wirkung bei Jessica schon unmittelbar hinter den Lippen, noch vor den Zähnen, verloren zu haben.

Heute wollen sie „eine Kleinigkeit essen“ – er fürchtet allerdings, so klein wird das Loch nicht, das in seinem Geldbeutel entstehen wird – und dann zusammen ins Kino gehen.

Aber Jaron hat einen Trumpf. Jessica ist Journalistin. Wenn er ihr das Foto mit dem Brief zeigt, wird sie begeistert sein. Sie ist immer auf der Suche nach einer Story. Besonders wenn die in der Gegend spielt, denn sie arbeitet in der Lokalredaktion.

Ehrlich gesagt zweifelt Jaron manchmal, ob er auf dem richtigen Weg ist, wenn er sich so um Jessica bemüht. Er ist sicher: Für eine gute Geschichte und ihre Journalistenkarriere würde sie auch ihn verraten. Aber was soll man machen, wenn man verliebt ist?

Als sie ihre „Kleinigkeit“ gegessen haben – für dreißig Euro einschließlich Trinkgeld –, lächelt er sie an und sagt: „Ich hab noch was für dich!“

„Ach? Was denn?“

Er zieht sein Smartphone heraus, ruft das Bild auf und legt es vor ihr auf den Tisch. „Eine Story. Ich muss allerdings gestehen, ich habe nicht um Erlaubnis gefragt. Aber das macht dir doch keine Probleme, oder? Quellenschutz und so.“

Jessica überfliegt den Brief. Er ist nicht leicht zu lesen – Handschrift, und dazu noch stark verkleinert. Aber je weiter sie kommt, desto mehr strahlt sie.

„Aber den codierten Brief von diesem Daniel so und so hast du nicht?“

„Nein. Den könnten wir ja sowieso nicht lesen.“

„Hm. Trotzdem, da kann man eine gute Geschichte draus machen. Ich muss gleich in die Redaktion. Vielleicht schaffe ich’s noch in die morgige Ausgabe.“

„Aber – wir wollten doch ins Kino!“

„Ich fürchte, daraus wird heute nichts, Jaron. Ein anderes Mal vielleicht.“


„Ich habe mir nur mal die ersten Zeilen vorgenommen“, berichtet Mats seiner Schwester.

„Habe die Buchstaben alle untereinandergeschrieben, die darin vorkommen, und gezählt. Dabei habe ich festgestellt, dass nicht alle Buchstaben aus dem Alphabet da stehen. Es fehlen zum Beispiel das W, das X, das V…“

„Bei so einem langen Text wäre es unwahrscheinlich, dass einzelne Buchstaben nicht auftauchen, wenn jeder im Code einem im Klartext entspräche.“

„Dachte ich mir auch. Aber nach welchem Schlüssel …“

Mia kommt rein. „Guck mal, Tante Hannah … Ach so, du kannst ja nicht gucken. Dann guck du mal, Onkel Mats!“

„Mia, stör uns nicht! Wir haben gerade was Schwieriges …“

„Das ist ganz lustig! Oben ist es ein König mit einer Krone, in der Mitte ist es der Schornsteinfeger, und unten ist es der Bauer. Und wenn ich so …“

„Wenn du das verschiebst …“

„Ja, dann ist es oben ein Clown. Und so wird es ein Feuerwehrmann in der Mitte …“

„Da kannst du jede Menge komische Figuren machen. Toll! Aber jetzt lass uns in Ruhe, wir haben hier ein Problem zu lösen!“

Hannah fragt: „Du hast ein Spiel, bei dem man aus verschiedenen Teilen immer andere Figuren zusammensetzen kann?“

„Ja.“

„Lass mal überlegen … Das ist die Idee! Das könnte die Lösung sein!“

„Wie meinst du das?“, fragt Mats.

„Kann es nicht sein, dass ein Buchstabe im Klartext immer durch zwei andere Buchstaben im Code geschrieben wird? Also zum Beispiel A und E bedeuten O. Oder so ähnlich.“

„Hm. Möglich. Aber wie sollen wir das rauskriegen?“

„Lass mich nachdenken!“

„Bitte – viel Spaß.“

Es ist eine Weile still. „Schreib mal alle Buchstaben untereinander auf!“

„Hab ich doch schon.“

„Nicht alphabetisch geordnet, sondern so, wie sie da im Brief stehen. Jedenfalls die ersten Zeilen, damit es nicht gleich so viel wird. Und dann zählst du durch und schreibst hin: eins, zwei, drei usw.“

„Und wofür soll das gut sein?“

„Das siehst du gleich.“

Mats schreibt. „Fertig.“

„Wenn stimmt, was ich vermute, dann müssten einige Buchstaben nur eine ungerade Zahl haben und andere nur eine gerade.“

Mats schweigt eine Weile. Dann: „Tatsächlich! Das stimmt! Nein, hier nicht mehr. Falsch!“

„Und – wird es am Ende wieder richtig?“

„Genau! Hier sind wieder … zum Beispiel haben alle Vokale gerade Zahlen. Aber andere auch, zum Beispiel B und C.“

Hannah lehnt sich zurück und grinst. „Das war schon mal ein erster Schritt.“

„Der uns aber nicht weiterbringt.“

„O doch!“

„Lass mich an deinen genialen Gedankengängen teilhaben, wenn sie dir nicht zu schade sind für einen kleinen Gymnasiasten.“

„Kein Ding“, lächelt Hannah. „Das Alphabet hat sechsundzwanzig Buchstaben. Da ist es naheliegend, fünfundzwanzig durch fünf mal fünf andere zu beschreiben. Einer gibt an, in welchem Fünferblock der gesuchte steht, und der zweite gibt an, der wievielte in diesem Fünferblock es ist. Fünf Fünferblocks zu je fünf Buchstaben – da kann man mit zehn Buchstaben fünfundzwanzig andere schreiben.“

„Hm. Bestechender Gedanke. Aber dann müssten hier fünf mit gerader und fünf mit ungerader Zahl stehen. Es sind aber mehr.“

„Zehn vielleicht? Zusammen zwanzig?“

„Moment!“ Mats zählt. „Tatsache, je zehn gerade und zehn ungerade.“

„Perfekt! Zehn Buchstaben für fünf Fünferblöcke, das heißt, man hat immer verschiedene Möglichkeiten. Was das Knacken des Codes erschwert. Ebenso bei den einzelnen Buchstaben in jedem Block. Man kann also jeden Klartextbuchstaben auf vierfache Weise schreiben. Da ist durch Abzählen, wie oft einer vorkommt, also nichts zu lösen.“

„Ich kapier kein Wort.“

„Ein Beispiel: Nehmen wir mal an, du willst Mats schreiben. Ein M.“

„Oder Hannah.“

„Der Einfachheit halber nehmen wir an, wir bezeichnen die Fünferblöcke mit den arabischen Zahlen eins bis fünf oder wahlweise mit arabischen sechs bis zehn. Und die Einzelbuchstaben in jedem Fünferblock mit römisch eins bis fünf oder wahlweise mit römisch sechs bis zehn. Verstanden?“

„Bin ja nicht bescheuert.“

„Wenn du jetzt ein H schreiben willst …“

„Für Hannah, das Genie.“

„Oder fangen wir mit dem A an. Dann steht ein A im ersten Block: A, B, C, D, E. Und in diesem Block ist es der erste Buchstabe. Im ersten Block der erste Buchstabe, das heißt: arabisch eins und römisch eins. Du kannst aber auch schreiben: arabisch sieben – für den zweiten Block – und römisch acht. Oder überkreuz kombiniert: arabisch zwei und römisch acht oder arabisch sechs und römisch drei. Vier Möglichkeiten, einen einzigen Buchstaben des Klartextes zu schreiben.“

Es dauert ein Weilchen, dann brummt Mats: „Ich glaube, ich hab’s. Mit zwanzig Buchstaben, jeweils als Paar, kann man fünfundzwanzig andere schreiben. Und niemand kommt drauf. Außer dir!“

„Danke!“

„Aber da gibt es noch einen sechsundzwanzigsten. Das Z.“

„Vielleicht hat unser lieber Großonkel mit seinem Freund dafür einfach einen anderen Buchstaben eingesetzt. Es gibt ja noch sechs ungenutzte. Wie wäre es mit Y, direkt davor? Steht da ein Y?“

„Äh … ja, zweimal. O … Moment!“

„Was ist?“

„Genial! Dieses kurze Textstück, wo die sonst geraden Buchstaben ungerade sind und umgekehrt, da stehen am Anfang und am Ende ein y.“

„Ja! Eine Bestätigung! Alle stehen paarweise. Aber das Y, das für Z steht, steht allein. Also ist das mit der Zählung danach umgekehrt. Und nach dem zweiten Y ist es wieder richtig.“

Mats grinst: „Du hast recht. Wir haben einen großen Schritt nach vorn getan.“

„Und wir wissen, dass da zweimal Z steht.“

„Aber noch haben wir nicht die Lösung gefunden!“ Hannah streicht mit den Fingern über die Brailleschrift und legt die Stirn in Falten. Auch Mats grübelt, den Blick fest auf das Papier vor ihm gerichtet. „Hm. Welche Buchstaben geben den Block an, und welche …“

„Vermutlich gibt der erste eines Paares den Fünferblock an. Das ist das Naheliegende. Sie können es natürlich auch anders gemacht haben. Aber nehmen wir mal an …“

Mia, die gerade noch mit ihren Bildern gespielt hat, sagt: „Ich kann auch zählen.“

Sie streckt ihre Finger, was etwas dauert, bis sie sie sortiert hat.

 

„Eins, zwei, drei.“

Mats wendet sich ihr zu. „Ja. Eins ist der Daumen. Dann der Zeigefinger. Der heißt so, weil man damit zeigt. Den nennt man den Mittelfinger, weil er in der Mitte ist …“

„Mats!“ Hannah richtet sich wieder aus der bequemen Haltung in ihrem Sessel auf.

„Was ist? Du guckst so triumphierend wie Einstein, als er die Relativitätstheorie gefunden hat.“

„Woher willst du wissen, wie der geguckt hat.“

„Sag schon!“

„Bei den ungeraden Buchstaben, eins, drei, fünf …“

„Ich weiß, was ungerade Zahlen sind.“

„Ist da ein D dabei? Und ein Z? Ein M?“

„Ja.“

„Die haben das an den Fingern abgezählt! D wie Daumen ist der erste Block, Z wie Zeigefinger der zweite, dann M für Mittelfinger, R für Ringfinger und K für kleiner Finger. Stimmt das?“

Er sucht. „Stimmt absolut!“

„Und jetzt dürfte es nicht schwer sein, von den zehn ungeraden die fünf übrig gebliebenen den entsprechenden Fingern zuzuordnen. Beim Daumen vielleicht noch … M geht nicht, brauchen wir für Mittelfinger. Vielleicht N? Und zum Zeigefinger außer Z noch ein G?“

Mats schreibt und vergleicht. „So muss es sein. Man schreibt D oder N, Z oder G, M oder T, R oder F für Finger, sonst passt nichts. Und K oder L für klein.“

Hannah schlägt beide Hände so triumphierend auf die Armlehne des Sessels, dass ihr fast ihr Schreibgerät für die Brailleschrift vom Schoß fällt. Mats grinst Mia an: „Du hast uns den entscheidenden Tipp gegeben, Mia! Durch dich sind wir auf die Finger gekommen!“ Die versteht zwar nichts, aber sie spürt das Lob und freut sich.

„Jetzt müssen wir, nachdem wir die Fünferblocks wissen, noch rauskriegen, wie die Einzelbuchstaben im Block bezeichnet werden.“

„Wahrscheinlich die fünf Vokale“, schlägt Hannah vor. „Ist auch naheliegend. In der richtigen Reihenfolge: A, E, I, O und U.“

„Könnte passen. Sie hätten es natürlich auch komplizierter machen können, aber sie mussten ja auch selbst die Übersicht behalten.“

„Und als Ausweich- oder Auswahlbuchstaben – welche sind denn noch übrig von den zwanzig?“ Ihre Finger gleiten über die Pünktchen. „B und dann gleich C.“

„Alle, die noch nicht benutzt worden sind, vom Anfang des Alphabets an.“

„Das wären dann noch H, J und P.“

Mats vergleicht und notiert. Dann nickt er zufrieden.

„Also“, lächelt Hannah, „dann lies mal vor! Den Brief.“

„Das ist noch ziemlich viel Arbeit.“

Ihre Mutter kommt und hat den letzten Satz gehört. „Erst wird gegessen! Kommt rüber!“

„O ja!“, freut sich Mia und springt auf.

Mats sagt: „Ich kann das jetzt nicht einfach liegen lassen! Dafür bin ich viel zu aufgeregt. Fangt ihr schon mal an! Ich decodiere wenigstens die ersten Sätze.“

Hannah folgt ihrer Mutter und deren Enkelin in die Küche. Sie sind schon fast mit dem Essen fertig, da kommt Mats.

„Es ist aufwändig. Aber ich kann euch wenigstens schon mal den ersten Satz vorlesen. Oder die ersten zwei: ‚Da ein unbefugter Leser, der dies zu entziffern versucht, am Anfang eines Briefes sicher Anrede und Name erwartet, erspare ich mir beides. Du weißt, wer dir schreibt.‘“

Mutter staunt. „Sagt bloß, ihr habt die Geheimschrift schon entziffert!“

Mats grinst. „Du weißt gar nicht, was du für intelligente Kinder hast.“

Mia sagt: „Ich hab auch geholfen!“

Ücretsiz bölüm sona erdi. Daha fazlasını okumak ister misiniz?