Rebekkas Tagebuch

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Später brachte Elisabeth noch einen Eimer, in den wir unsere Notdurft verrichten sollten. Wir weigerten uns aber, den auch am Seil hinunterzulassen, weil wir die beiden nicht auch noch damit belasten wollten, sondern bestanden darauf, nachts selbst hinabzusteigen und den Eimer zu leeren.

Während ich dies schreibe, leben wir nun bereits zwei Wochen hier in unserem Versteck. Es ist langweilig – auch ein Grund, weshalb ich schreibe. Andererseits ist aber auch immer eine Anspannung da: Wie geht es weiter? Wie wird der Krieg enden? Wird es wieder Freiheit für uns Juden geben? Kann es sein, dass sich die Hilfsbereitschaft des Ehepaars Born erschöpft, wenn es noch länger so weitergeht? Können wir es im Winter hier oben aushalten? Was geschieht, wenn einer von uns krank wird?

Bei aller Anspannung durch Zukunftsangst und aller Langeweile durch Untätigkeit – das Gefühl, das mich am meisten erfüllt, ist Dankbarkeit. Was bringt Menschen dazu, sich selbst in größte Gefahr zu begeben, um uns zu schützen? Und das nicht widerwillig, als würde ihr Gewissen oder ihre moralische Erziehung sie unter Druck setzen, sondern gern und liebevoll. Wir spüren, dass es für sie eine Freude ist, uns zu helfen.

Obwohl sie mit ihrer Landwirtschaft viel zu tun haben, nimmt sich Elisabeth abends immer mal ein paar Minuten Zeit für uns. Manchmal kommt auch Ludwig mit herauf. Oft geht dann aber Elisabeth bald wieder, weil sie fürchten, dass es ein Besucher des Hofes seltsam finden könnte, wenn niemand da ist. Und wenn dann einer vom Heuboden steigt, wo ja mitten im Sommer niemand etwas zu suchen hat.

Wir freuen uns jedes Mal, wenn einer die Leiter heraufkommt, mit uns redet, berichtet, was in der Welt so vorgeht, und uns Mut macht. Ich kann nur staunen über diese beiden liebevollen alten Menschen und bin traurig, dass ich weiß: Wir werden das nie vergelten können.

3

Harald Born hatte es sich in seinem Sessel bequem gemacht, und seine Urenkelin Leoni saß auf seinem Schoß. Um dem Kind nicht zu schaden, hatte der alte Mann seine Pfeife ausgehen lassen. Sie lag neben ihm auf dem Tischchen neben dem vergilbten Foto, das ihn als jungen, schneidigen Offizier in tadellos sitzender Uniform zeigte.

Das schnelle Hämmern des Meißels in der Werkstatt hatte ihn an Maschinengewehrfeuer erinnert. So konnte er nicht anders. Er musste von damals erzählen, als der Rückzug begann. Besonders das Erlebnis am Dnjeprknie.

„Ich konnte mich nur flach auf den Boden legen“, erzählte er gerade, „sodass die Geschosse über mich hinwegzischten. Wo meine Kameraden waren, konnte ich nicht sehen. Ich wagte gar nicht, den Kopf zu heben, um mich nach ihnen umzuschauen. Als der Beschuss etwas nachließ, kroch ich langsam zurück. Ich wusste, dass weiter hinten ein Graben war, in dem ich besseren Schutz finden würde. Vielleicht waren dort auch die Kameraden. Aber als ich dort ankam, war ich allein. Die anderen hatten sich schon weiter zurückgezogen. Der Graben konnte mir aber auf Dauer auch nicht helfen, denn ich hörte und sah, dass der Feind näher kam. Ich allein konnte ihn natürlich nicht aufhalten. Was sollte ich tun? Da bemerkte ich eine kleine Brücke, eigentlich nur ein Steg aus dicken Bohlen, der über den Graben hinwegführte. Schnell kroch ich dort hin und versteckte mich darunter. Kaum war das gelungen, da hörte ich schon, wie die feindlichen Soldaten über meinem Kopf donnernd über die Brücke rannten. Ich konnte nur stillhalten, die Pistole in der Hand, und warten ... “

„Vater!“ Thea stand plötzlich in der Tür. „Du kannst doch dem Kind nicht solche Geschichten erzählen! Was denkst du dir denn dabei!“ Ihr Gesicht glühte rot vor Zorn, und sie beherrschte sich nur mühsam, um nicht noch lauter zu schimpfen.

„Guten Morgen, Thea!“

„Leoni, Uropa hat genug erzählt. Geh jetzt raus und spiele draußen!“

„Och ... “, murrte das Mädchen. Aber es spürte, dass eine Spannung in der Luft lag, und ging darum schnell hinaus.

„Ich habe das schon oft gesagt, Vater! Du kannst doch einer Fünfjährigen nicht solche grausamen Geschichten erzählen!“

„Es ist alles wahr, was ich erzähle. Nichts ist erfunden. Noch nicht mal leicht übertrieben oder ausgeschmückt.“

„Darum geht es nicht. Ich weiß, dass du das alles erlebt hast. Aber sei froh, dass es vorbei ist! Ich bin jedenfalls froh, dass wir keinen Krieg mehr haben. Da muss man doch ein Kind nicht mit so etwas belasten! Wer weiß, was du damit in seiner Seele anrichtest!“

„Unsinn! Sie wird nur abgehärtet. Für die Realitäten des Lebens.“

„Abgehärtet? Ein fünfjähriges Mädchen? Du hast keine Rekruten vor dir, falls du das noch nicht gemerkt hast.“

Ein Blick in das Gesicht ihres Vaters ließ Thea erschrecken. Der alte Mann hatte solch einen traurigen Ausdruck in den Augen, mit denen er in ihre Richtung starrte. Aber so, als sähe er durch sie hindurch. Hatte sie zu hart mit ihm geredet?

Immerhin war er ja ihr Vater. Und ein alter Mann. Mit weicherer Stimme sagte sie, während sie näher zu ihm trat und schließlich direkt vor ihm stand: „Versprich mir, Vater, dass du ihr so etwas nicht wieder erzählst!“

Ihr Vater antwortete nicht. Da rief Leoni von der Tür her: „Bist du dann gerettet worden, Uropa?“

Der lächelte. „Klar! Sonst säße ich ja nicht hier.“

„Stimmt!“, meinte das Mädchen.

„Es war aber noch ein ... “

„Du sollst unten spielen, hatte ich gesagt!“, unterbrach Thea.

Leoni verschwand.

„Du sollst mir versprechen, Vater, dass du das Kind nicht mit deinen Kriegserlebnissen von Blut und Tod belastest!“

Harald Born sah unter sich. Das Lächeln, mit dem er seine Urenkelin angesehen hatte, war verschwunden. Aber auch der strenge Ausdruck, den seine Tochter sonst von ihm gewöhnt war. Er wirkte nur traurig, als er leise murmelte: „Es hört mir ja sonst niemand zu.“

4

Nach dem Abendessen kam Pauls Mutter Thea herüber.

„Setz dich, Mutter! Möchtest du etwas trinken?“

„Nein, danke.“

Mutter und Sohn setzten sich und hörten schweigend zu, wie Stefanie oben für Leoni ein Gute-Nacht-Lied sang. Meistens las sie eine Geschichte vor oder erzählte eine, aber manchmal wollte Leoni ein Lied gesungen haben, wie früher, als sie noch kleiner war. Stefanie hatte den Eindruck, dass das immer dann der Fall war, wenn ihr aus irgendwelchen Gründen emotionale Geborgenheit fehlte. Nicht immer wusste die junge Mutter, was der Grund dafür war.

Als die drei Erwachsenen zusammensaßen, schnitt Stefanie einige Äpfel auf, verteilte die Stücke an Mann und Schwiegermutter und erzählte zunächst einige Erlebnisse aus dem Altenheim, wo sie zu wechselnden Zeiten halbtags pflegerisch tätig war. Dann begann Thea behutsam zu berichten:

„Leoni war bei Opa. Das ist ja eigentlich was Schönes. Er freut sich an seiner Urenkelin. Und sie freut sich an ihm. Nur ... “

In die Pause hinein fragte Paul: „Nur?“

„Er erzählt oft vom Krieg. Auch heute. In allen grausamen Einzelheiten. Das ist sicher nicht gut für das Kind.“

„Nein, bestimmt nicht!“ Stefanie blickte von ihren Äpfeln auf.

„Ich habe es ihm schon mehrmals gesagt. Aber entweder versteht er mich nicht, oder er vergisst es wieder. Oder er setzt sich bewusst über meine Bedenken hinweg.“

„Dann werde ich mal mit ihm reden. Oder du, Paul. Ich will nicht, dass unser Kind mit solch blutigen Geschichten aufwächst.“

„Neulich hat er mir entgegengehalten, die Grimm‘schen Märchen seien auch grausam.“

Paul warf ein: „Das ist natürlich Unsinn! Und das weiß er auch, oder sollte es zumindest wissen. Das ist gar nicht zu vergleichen. Ich werde mal mit ihm reden. Es wäre schade, wenn wir wegen seiner Haltung Leoni verbieten müssten, ihren Uropa zu besuchen.“

Thea kaute überlegend an einem Apfelstück und meinte nach einer Weile: „Irgendwie kann ich ihn ja verstehen. Der Krieg mit all seinen Schrecken war gewissermaßen der Höhepunkt seines Lebens. Oder – ‚Höhepunkt‘ klingt vielleicht zu positiv – die Phase seines Lebens mit den dichtesten Erlebnissen, voller Gefahren und Spannungen. So etwas prägt. Manche verdrängen das und wollen nie wieder davon reden. Bei anderen ist es wohl genau umgekehrt. Wenn sie nicht davon sprechen können, fühlen sie sich um etwas Wichtiges betrogen. Man nimmt ihnen einen entscheidenden Teil ihrer Geschichte. Und damit einen wichtigen Teil von ihnen selbst. Ein Loch entsteht, ein Vakuum.“

„Hast du heimlich Psychologie studiert?“, fragte Stefanie schmunzelnd.

Und Paul meinte: „Scharfsinnig analysiert! Kannst du diesen analytischen Scharfsinn nicht auch mal auf deinen Sohn richten?“

„Wie meinst du das?“

„Die Frage war nicht sehr scharfsinnig. Du solltest dir denken können, wie ich das meine.“

Thea reagierte nicht. Paul setzte nach:

„Meinst du nicht, dass bei deinem Sohn auch ein Loch entstehen muss, solange er nicht weiß, wer sein Vater ist?“

„Ach, fang nicht wieder damit an, Paul!“ Seine Mutter blickte unter sich.

„Ich werde immer wieder damit anfangen, bis ich eine Antwort bekomme. Oder bis ich verstanden habe, warum du schweigst. Aber weshalb ich heute damit anfange, das hat noch einen besonderen Grund. Es kann sein, dass wir es auf anderem Wege erfahren, und da will ich dir vorher die Chance geben, es von dir aus zu sagen.“

„Auf anderem Wege? Das verstehe ich nicht.“

„Ich habe auf dem alten Heuboden ein Tagebuch gefunden. Von einer Rebekka Schimmel. Urgroßvater und Urgroßmutter müssen dort Juden versteckt haben. Ich wundere mich, dass ich bisher nichts davon wusste. Ein Familiengeheimnis also. Und da liegt der Gedanke nahe, dass auch die Geschichte meines Vaters damit zusammenhängt.“

 

„Aaron und Rebekka Schimmel! Ich ahnte nicht, dass sie ein Tagebuch geführt haben.“

„Du wusstest also davon ... “

„Ich war ein kleines Mädchen damals. So wie Leoni jetzt. Meine Erinnerungen sind sehr lückenhaft.“

„Und – stimmt es, dass es da einen Zusammenhang gibt mit meinem Vater?“

Thea schwieg einige Augenblicke, bis sie zur Antwort gab: „Nur indirekt.“

„Aber warum habt ihr nie davon erzählt, du oder Großvater?“

„Aus dem gleichen Grund. Ja, das kann man vielleicht so sagen. Ach, Paul – es tut mir leid, diese Geheimniskrämerei. Ich weiß sehr wohl, dass du ein Recht hast, von deinem Vater zu erfahren. Ich verspreche dir, in nicht allzu ferner Zukunft werde ich dir alles erzählen.“

Paul sagte leise: „Ich habe von dir immer viel Liebe erfahren, Mutter. Darum kann ich mir nicht denken, dass du mir ohne triftigen Grund Schmerzen zufügst. Den Schmerz, mir die Auskunft vorzuenthalten. Aber es wäre leichter für mich, wenn ich wenigstens den Grund wüsste.“

Eine Weile herrschte Stille. Nur langsame Kaugeräusche waren zu hören.

Stefanie blickte plötzlich auf. „Hat es mit Opa zu tun?“

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast schon mal gesagt, du würdest das Geheimnis bald lüften. Aber worauf wartest du? Willst du dein Schweigen brechen, wenn Opa gestorben ist?“

Thea sah erst sie und dann ihren Sohn an. Schließlich sagte sie leise: „So viel kann ich zugeben: ja.“

Paul versuchte zu raten: „Wäre er mit meinem Vater nicht einverstanden gewesen? Aber das ist doch kein Grund ... “

„Bitte, Paul!“

Es war offensichtlich, dass sie das Thema wechseln wollte. „Das Tagebuch von Schimmels – ich würde es dann auch gern mal lesen.“

„Sicher“, antwortete Stefanie. „Lass es uns nur erst zu Ende lesen. Es dauert etwas. Ich lese mir alles mühsam durch, notiere mir auch einiges in meiner eigenen Schrift, was nur schwer zu entziffern ist, und lese es dann Paul vor. Aber dann kannst du es natürlich auch lesen.“

„Tut mir einen Gefallen: Erzählt Großvater nichts von dem Tagebuch!“

„Warum nicht?“

„Ich vermute, wenn ihr es bis zu Ende gelesen habt, könnt ihr euch die Antwort selbst geben.“

Paul fragte: „Wenn das Geld, die 25 000 Mark, nicht von meinem Vater sein sollten, wie du behauptest, können sie dann von diesen Leuten sein, die hier versteckt waren?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete seine Mutter, „aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich.“

5

Das Gespräch mit Thea hatte Pauls und Stefanies Neugier noch gesteigert. Aber beide hatten ihre täglichen Pflichten. Erst am nächsten Tag nach dem Mittagessen, wo sie sich sowieso eine kleine Pause angewöhnt hatten, nahmen sie sich das Tagebuch wieder vor.

22. Juli 1941

Jetzt liegt die Heuernte hinter uns. Das brachte einige Veränderungen mit sich. Der Raum, in dem wir uns bewegen können, ist ziemlich eingeschränkt.

Zwei Vorteile hat das aber: Erstens duftet es wunderbar und überdeckt damit die Gerüche vom Kuhstall unter uns. Wir können auch in dem neuen Heu großartig liegen. Und zweitens konnten wir wenigstens etwas helfen. Das Heu, das vom Wagen heraufgereicht wurde, haben wir verstaut.

Nach langem Drängen hat uns Elisabeth auch sonst einige Arbeit gegeben. Zum Beispiel ziehen wir oft am Vormittag einen Eimer mit Kartoffeln herauf, die ich dann schäle.

Morgens melkt Ludwig die Kühe unter uns im Stall, ehe er sie auf die Weide bringt. Abends ist das Elisabeths Aufgabe. Während sie beschäftigt ist, singt sie oft. Es sind wohl christliche Lieder, ich kann den Text aber kaum verstehen bis auf wenige Wörter, und ich kenne die Melodien auch nicht. Elisabeth hat eine schon etwas brüchige Stimme, aber sie scheint musikalisch zu sein, denn sie trifft alle Töne sauber und hat keine Mühe, etwa einen oder zwei Töne höher oder tiefer anzustimmen, wenn sie merkt, dass sie an den Rand ihres Stimmumfangs kommt. Obwohl es kein Genuss im ästhetischen Sinne ist – sie denkt vermutlich beim Singen gar nicht an die Zuhörer über sich –, lege ich mich dann gern im Heu zurück und lausche auf ihren Gesang. Auch Aaron scheint von dieser schlichten Ungezwungenheit ihres Singens berührt zu sein und hört still zu. Schmunzelt nur zwischendurch, wenn Elisabeth mit einer der Kühe redet.

Als sie zum ersten Mal eine Kuh mit ihrem Namen ansprach – es sind alltägliche Mädchennamen wie Lisa oder Erna –, bekam ich einen Schreck, weil ich dachte, eine Frau sei mit im Stall. Inzwischen kenne ich alle sechs Kühe mit Namen.

Heute war Ludwig bei uns. Er wollte sich für unsere Hilfe bedanken. Ich dachte erst, er wollte einen Scherz machen. Aber nein, er meinte es ernst. Aaron dankte ihm, dass wir die Möglichkeit hatten, ein wenig zu helfen und so wenige Promille von der Schuld abzutragen, in der wir bei ihm stehen.

Wir haben uns über Politik unterhalten. Er schilderte uns, wie es mit dem Krieg steht. Deutsche Luftangriffe sollen England in die Knie zwingen. Das scheint aber nicht zu gelingen, so wie Hitler sich das gedacht und Göring es ihm versprochen hat. Ludwig scheint darüber nicht traurig zu sein. Im Radio würde auch immer von den Erfolgen der U-Boote berichtet, die die britische Handelsblockade um Deutschland knacken und England vom weltweiten Handel aussperren sollen. Ich stelle mir das schrecklich vor. Da werden Handelsschiffe einfach versenkt mit allen Menschen an Bord. Aber auch für die U-Boot-Besatzungen wird es kein Vergnügen sein. Sie leben auf noch engerem Raum als wir hier.

In Afrika, wo ein deutsches Afrikakorps die Italiener unterstützt, unter Führung eines gewissen Rommel, soll es große Erfolge geben.

Ludwig erzählte uns von zwei jüdischen Familien, mit denen er bekannt gewesen war. Sie sind plötzlich verschwunden. Die eine schon vor zwei Jahren, die andere erst kürzlich. Ich hatte den Eindruck, er wolle damit seine Mahnung unterstreichen, wir sollten ja nicht unser Versteck verlassen. Aber das haben wir auch nicht vor. Eine Warnung war nicht nötig, wir kennen die Gefahr und verdrängen sie nicht mehr.

So kamen wir allgemein auf das Thema der Juden in Deutschland zu sprechen. Aaron sagte zu Ludwig: „Ich weiß, dass du kein Antisemit bist. Aber wie ist genau deine Einstellung zu den Juden?“ Ich fand die Frage ein bisschen aufdringlich, aber da denkt Aaron anders als ich.

Ludwig dachte einige Augenblicke nach – sicher nicht, um zu überlegen, wie er in der Sache dachte, sondern um die richtigen Worte zu finden, es zu erklären. Dann meinte er: „Es gibt nicht den geringsten Grund, Juden zu verachten, denn es sind Menschen wie wir Deutschen. Und wenn manche glauben, Gründe zu haben, dann sind die vorgeschoben. Vorgebracht werden diese Gründe, weil man vor sich selbst rechtfertigen muss, was man ihnen antut. Und warum tut man es ihnen an? Weil man einen Sündenbock braucht. Ein Ausdruck, der, wie ihr sicher wisst, aus dem Alten Testament stammt. Man braucht jemanden, den man für jede Misere verantwortlich machen kann. Das erleichtert. Es erspart den Menschen, Fehler bei sich selbst zu suchen.“

Er schwieg eine Weile, und Aaron nickte. Dann fuhr Ludwig fort: „Das sage ich als Mensch. Aber als Christ sage ich noch etwas anderes. Die Juden sind Gottes Volk. Das sind sie auch, nachdem die meisten nicht bejahen, dass Gott sich mit seinem Sohn auf eine ganz neue Weise gezeigt hat. So hat es Paulus geschrieben, im Römerbrief. Ich weiß nicht, was das im Einzelnen bedeutet, weiß auch nicht, was Gott noch mit seinem Volk vorhat. Weiß auch nicht, wie das viele Leid, das die Juden erleiden mussten und müssen, damit zu vereinbaren ist. Aber Tatsache bleibt es, dass sie ‚Gottes Augapfel‘ sind. Denn so steht es geschrieben.“

„Manche Christen bekämpfen die Juden, weil sie sagen, sie seien die Christusmörder“, wandte Aaron ein.

„Unsinn! Es waren heidnische Römer, die Christus gekreuzigt haben. Juden waren auch beteiligt, sicher. Aber nicht das ganze Volk. Letztlich schuld am Tod Jesu am Kreuz sind alle Sünder, denn ihretwegen ist er als Mensch erschienen und hat den Tod auf sich genommen, als Sühne.“

„Ich weiß, dass die Christen das lehren“, sagte Aaron, und er klang dabei etwas unwillig. Ludwig wird das nicht bemerkt haben, weil Aaron natürlich unseren freundlichen Helfer nicht angreifen wollte, aber ich, der ich meinen Mann seit langem kenne, hörte es wohl. Er fuhr fort: „Die Nazis sehen das leider nicht so wie du. Es ist ja ein furchtbarer Hass, den sie uns gegenüber haben. So fanatisch, dass mir scheint, die Erklärungen, die du gerade gegeben hast, reichen nicht aus, ihn zu begründen.“

„Manche Nazis brauchen auch keine logische Begründung für ihren Hass. Sie freuen sich nur, wenn sie irgendwo draufhauen können, statt ihren Ärger nur runterzuschlucken. Sie freuen sich, wenn sie sich irgendjemandem gegenüber besser und stärker fühlen können. Da kommen sie sich heldenhaft vor. Überhaupt – Stärke zu beweisen scheint die neue Religion in unserem Land zu sein.“

Aaron nickte. „In unseren Heiligen Schriften, die zum Teil euer Altes Testament sind, wird von Lamech erzählt. Ich habe noch vor einigen Wochen über ihn gelesen. Der erfand am Anfang der Menschheitsgeschichte das Schwert. Und dadurch fühlte er sich stark genug, sich siebenfach zu rächen. Einen Mann zu töten, wenn der ihm nur eine Beule beigebracht hat. So denken viele heute.“

„Genau so denken die Ideologen der neuen Zeit“, bestätigte Ludwig. „Man könnte die Nationalsozialisten Lamechbewegung nennen. Nur hat man heute keine Schwerter, sondern Panzer und U-Boote und Flugzeuge.“

„Aber Gott hat dieser Denkweise sein Gebot entgegengestellt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Strafe soll nicht über die Tat hinausgehen. Rache darf nicht maßlos werden.“

„Und Jesus ging noch weiter“, sagte Ludwig. „Wenn dich jemand auf die eine Backe schlägt, halte ihm die andere auch noch hin. Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen.“

Aaron lächelte. „Aber du tust uns nicht wohl, weil du uns hasst, nicht wahr? Scherz beiseite – ich kenne nicht viele Christen, die mit solchem Handeln beweisen, dass sie das Wort von Jesus ernst nehmen.“

„Leider.“

„Und wegen dieses Liebesgebotes, das kaum jemand beachtet, glaubst du, das Christentum sei wertvoller als das Judentum?“

„Wertvoller? Ich weiß nicht, was ich mir darunter vorstellen soll. Ich möchte so sagen: Das eine ist eine Weiterführung des anderen. Eine Steigerung. Ein Schritt weiter in der Geschichte Gottes mit den Menschen.“

„Aber du verachtest uns und den Glauben der Juden trotzdem nicht?“

„Jesus sagte – das steht bei Johannes: Das Heil kommt von den Juden.“

Es wunderte mich, dass ein solcher Satz im Neuen Testament stehen sollte, aber ich sagte nichts dazu, wusste ich doch, dass meine Kenntnis dieser Dinge äußerst mangelhaft war.

Ich habe hier versucht, das Gespräch möglichst genau festzuhalten. Aber natürlich kann ich mich nicht mehr an jeden einzelnen Satz erinnern. Sinngemäß lief aber unser Gespräch so ab.

Aaron und ich haben uns dann noch ein wenig über das Thema unterhalten, kamen aber nicht wesentlich weiter, weil wir über den christlichen Glauben nicht genug wussten. Es war uns nur geläufig, was zur Allgemeinbildung gehört. Wir hatten aber den Eindruck, damit nicht bis zum Kern vorgedrungen zu sein. Im Übrigen wussten wir über unseren eignen Glauben auch nicht genug.

Gestern hörten wir lautes Reden unten im Hof.

Wir können durch einen kleinen Schlitz zwischen den Dachziegeln hinuntersehen. Allerdings können wir nicht den ganzen Hof mit einem Blick erfassen.

Wir beobachteten, dass Ludwig sich mit einem Mann im braunen Hemd stritt. Es war ein ziemlich dicker Mann, bei dem das militärische Gehabe etwas unpassend und lächerlich wirkte. Nach dem heftigen Wortwechsel drehte sich der Dicke um und stapfte wütend davon.

 

Später berichtete uns Elisabeth, was geschehen war. Sie stieg die Leiter hinauf, aber nicht ganz. Nur ihr Oberkörper lugte durch die geöffnete Klappe. Der Mann, erzählte sie, war der Ortsgruppenleiter der Partei. Er wollte, dass Ludwig eine Hakenkreuzfahne vorn an der Straße aufhängt. Er erwartete einen Gauleiter – oder wie die sich nennen – für morgen zu einem Besuch. Der sollte würdig empfangen werden. Da Borns Haus direkt an der Hauptstraße steht, sollten sie sich an dem Fahnenschmuck beteiligen und damit ihre Begeisterung über den neuen Geist ausdrücken. Diese Begeisterung war aber bei Ludwig nicht vorhanden, eher das Gegenteil. Er weigerte sich. Er habe keine Fahne, sagte er dem Nazi. Das brachte ihm den Ärger dieses Mannes ein.

Elisabeth meinte: „Hoffentlich bewirkt das nicht, dass er uns nun mit mehr Sorgfalt beobachten lässt. Es wird erzählt, dass die Gestapo manche Leute drängt, andere zu bespitzeln. Nachbarn, Geschäftspartner, sogar Verwandte.“

„Könnt ihr euren Nachbarn trauen?“, fragte Aaron.

„Nun ... “ Elisabeth wiegte den Kopf. „Ich sage ihnen nichts Schlechtes nach. Wir haben eigentlich nach beiden Seiten und gegenüber ein gutes Nachbarschaftsverhältnis. Aber wer weiß schon, wie Menschen reagieren, wenn sie unter Druck gesetzt werden und persönliche Nachteile befürchten müssen. Eine kleine Beobachtung, aufgebauscht oder sogar erfunden, ist ein einfaches Mittel, sich für irgendeinen kleinen Ärger zu rächen, oder zumindest, um sich bei den Machthabern beliebt zu machen.“

„Es wäre leichter, wenn euer Hof weiter draußen läge. Aber er liegt nun mal mitten im Ort. Und mit der offenen Seite zur Straße, sodass jeder, der vorbeikommt, hineinsehen kann.“

Elisabeth nickte. Nach einer Weile fuhr sie fort: „Der Ortsgruppenleiter scheint gut über unsere Familie informiert zu sein. Er erwähnte unseren Sohn.“

Ich sagte: „Es spricht doch für euch, dass euer Sohn an der Front kämpft.“

„Ja, eigentlich schon. Aber es kann ihm auch schaden, wenn wir gegen das Regime sind. Ein Nazifeind wirft sofort einen Schatten auf die ganze Familie.“

„Wie denkt denn Harald darüber? Wir haben ihn ja in Wuppertal selten gesehen und uns nie – soweit ich mich erinnere – über Politik unterhalten.“

Elisabeth antwortete nicht. Sie sah unter sich. Dabei musste ihr wohl der Gedanke gekommen sein, wie sie vom Thema ablenken könnte. „Ach, ich wollte ja noch die Tenne kehren.“ Sie stieg zwei Sprossen nach unten. Das Ablenkungsmanöver war aber so offensichtlich, dass es ihr selber auffiel. Sie zögerte einige Augenblicke und stieg dann wieder drei Sprossen hinauf.

„Leider ... “, sagte sie leise und sah uns dabei nicht an, „leider denkt Harald in diesen Dingen nicht wie wir. Er ... er ist mit dem gegenwärtigen Regime durchaus einverstanden.“

Aaron wollte ihr wohl ein wenig aus der Verlegenheit helfen, bereute sicher auch, die Frage gestellt zu haben. „Nun ja, wenn er Offizier ist ... Dazu gehört ja auch Gehorsam. Mehr noch: eine unbedingte Identifikation mit der Sache, für die man kämpft.“

„Das allein ist es nicht.“ Ich konnte sehen, wie schwer es Elisabeth fiel, das zu sagen. „Er geht ganz in dieser Ideologie auf.“

„Ist er denn auch ... “ Aaron hatte unüberlegt angefangen zu sprechen. Aber er biss sich auf die Lippen und vollendete die Frage nicht.

Elisabeth wusste allerdings, was er fragen wollte. „Ich weiß nicht, ob man ihn als Antisemit bezeichnen kann. Ich fürchte, weit entfernt davon ist er nicht.“

Eine Weile war es still. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Dann meinte ich, etwas Tröstliches sagen zu müssen. „Du musst dir deswegen keine Vorwürfe machen, Elisabeth. Erziehung kann in diesen Dingen nicht viel bewirken. Schon gar nicht, wenn ein Sohn seine Einstellung erst als Erwachsener gefunden hat. Da ist der Einfluss der Eltern gleich null.“

Elisabeth nickte. „Nett, dass du das sagst. Aber was mich belastet, sind nicht eventuelle Erziehungsfehler. Ich bin betrübt, dass er so denkt, egal, wie er dazu gekommen ist. Es ist nicht im Sinne Gottes.“

Weder Aaron noch ich wussten etwas dazu zu sagen, obwohl wir sie gern getröstet hätten. Elisabeth sah unsere Verlegenheit und meinte: „Belastet ihr euch nicht damit! Gott wird uns, Ludwig und mir, die Kraft geben, damit fertig zu werden, wenn wir es nicht ändern können.“

Sie stieg noch zwei Stufen höher und setzte sich auf den Rand der Öffnung. „Natürlich ist es fast unmöglich für alte Eltern, an der Einstellung eines erwachsenen Sohnes etwas zu ändern. Besonders wenn diese Einstellung fanatisch ist und von der Mehrheit der Menschen seiner Umgebung gestützt wird. Ich dachte nur, als Kind und Jugendlicher in unserem Haus hätte er durch den Umgang mit der Bibel und christusgläubigen Eltern gefestigt sein müssen. So gefestigt, dass diese antigöttliche Ideologie bei ihm keinen Nährboden hätte finden können. Aber das war ein Irrtum.“

Nachdem wir alle drei wieder einige Zeit geschwiegen hatten, sah Elisabeth plötzlich auf. „Oh – entschuldigt! Ich habe euch mit meinen Sorgen belastet, dabei sind doch eure Sorgen viel größer! Reden wir nicht mehr davon!“

„Aber Elisabeth!“, sagte ich. „Wir wären wirklich sehr egoistisch, wenn wir die Sorgen der Menschen nicht mittragen wollten, die unsere größeren Sorgen mittragen! Die unsere Sorge zu ihrer eigenen machen! Und das ganz praktisch. Wir danken dir für den Vertrauensbeweis, dass du uns an deinem Kummer teilhaben lässt.“

Ich rückte ein wenig näher und legte die Hand auf ihre Schulter. Sie lächelte mich dünn an.

„Ihr müsst aber keine Angst haben“, sagte sie dann. „Wenn Harald Fronturlaub hat, besucht er Frau und Kind in Wuppertal. Hierher kommt er nicht. Unser Verhältnis ist viel zu ... wie soll ich sagen? ... angespannt, als dass er von den wenigen Tagen Urlaub noch einige bei seinen total altmodisch denkenden Eltern verbringen würde.“

„Das klingt bitter“, stellte Aaron leise fest.

„Ich weiß, bitter soll man nicht werden. Aber, offen gesagt: Ich fürchte, innerlich haben wir unseren Sohn verloren, auch wenn er natürlich unser Sohn bleibt. Und wenn unsre Liebe ihm weiter gilt.“

Ich sagte: „Wohl wissend, dass es kein Trost ist, sage ich es trotzdem: Wenn ihr auch euren Sohn innerlich verloren habt, mit uns habt ihr Freunde gewonnen. Freunde, die euch allerdings nichts nützen, eher belasten. Und wenn es stimmt, was Ludwig neulich sagte, dass Gott irgendwann einmal fragen wird, wo ihr Bedürftigen geholfen habt, dann zeigt auf uns.“

Aaron tadelte mich: „Ach, Rebekka! Es stimmt zwar, dass wir dankbare Freunde sein wollen, aber du kannst uns doch nicht mit ihrem Sohn vergleichen!“

Ehe ich antworten konnte, meinte Elisabeth: „Lass nur, Aaron! Ich weiß, wie Rebekka es meint. Und ich danke ihr dafür. So – jetzt muss ich mich aber um die Hühner kümmern. Und um die Schweine. Und ich meine nicht die Nazis.“

Sie lächelte uns an, während sie rückwärts die Leiter hinunterstieg.