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Kitabı oku: «Gesammelte Schulhumoresken», sayfa 8

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Die Lyrik auf dem Gymnasium

Ich war vierzehn Jahre alt und erst vor kurzem Sekundaner geworden, als mich plötzlich, wie ein Flammenstrahl aus heiterm Himmel, der Drang nach poetischer Selbstbespiegelung ergriff. Ich erinnere mich noch des Tags und der Stunde … Der Herbstwind strich klagend durch die halbentblätterten Zweige der großen Platanen. Ein feiner Regen stäubte wider die Scheiben, so recht öde und trostlos, als ob die kranke Natur sich matt und erschöpft in den Schlaf weine. Drunten im Hofe sah es möglichst unwirtlich aus. Die versumpften Wege mit ihren großen, gelblichen Pfützen, das bräunliche Laub, das der Wind von Zeit zu Zeit aufwirbelte, das nasse Holzwerk des Spaliers und die triefende Hütte des Jagdhundes, der sein Sommerquartier längst verlassen, um im Hause gegen die Unbilden der Witterung Schutz zu suchen – dies alles machte einen unsagbar traurigen Eindruck. Drüben von der Landstraße her, wo die drei vereinsamten Pappeln wie lange Gespenster in den Dunst hineinragten, tönte das heisere Krächzen der Dohlen: sonst war alles wie ausgestorben …

Am Fenster stehend sah ich dem Hereinsinken der Dämmerung zu. Ein schmaler, blaßgelber Streifen am Horizont bezeichnete mir den Untergang des Tagesgestirns, das seit mehr als einer Woche nicht zum Vorschein gekommen war. Eh' ich's ahnte, war ringsum bleigraue Nacht geworden. Tief atmend trat ich ins Zimmer zurück. Im Ofen brannte ein lustiges Feuer. Auf meinem Arbeitstische glänzte die Lampe, die man in der Zwischenzeit unbemerkt hereingebracht hatte, und auf dem Teppich vor dem Sofa lag mit allen Symptomen der Befriedigung und des Wohlbehagens der treue vierfüßige Begleiter meiner sommerlichen Ausflüge. Ein wunderbares Gefühl von Traulichkeit überkam mich. So schnell als möglich ließ ich den Vorhang herab. Dann setzte ich mich an den Tisch und schrieb mein erstes Gedicht. Seltsamerweise besang ich in diesen kühn gegliederten Versen den Zauber einer mondhellen Sommernacht. Ich pries das »unendliche Gewimmel der Sterne« und die Ulmen, die »sanft versilbert« ihre Häupter ins Blaue erheben! Und doch war das Ganze keineswegs etwas Angekünsteltes und Gemachtes, sondern ein wirklicher Herzenserguß, ein Erlebnis, das mit zwingender Macht nach Gestaltung rang. Ich brauche kaum hinzuzufügen, daß drei oder vier Strophen mit »wenn« begannen, daß eine wahrhaft großartige Summe von schmückenden Beiwörtern verbraucht wurde, und daß ich solche Verse, wo mir der Reim nicht augenblicklich zur Hand war, einfach ungereimt ließ. Dergleichen findet sich in jedem Erstlingsgedichte und wird erst später als Frevel empfunden. Damals glaubte ich etwas wahrhaft Schönes und Imposantes geschaffen zu haben, denn die Fülle meiner subjektiven Stimmung war mir identisch mit dem Geleisteten. Wie viele, sonst sehr achtbare Leute, die nicht vierzehn Jahre alt sind und nicht in Sekunda sitzen, verfallen in einen ähnlichen Irrtum! Was man dem Sekundaner verzeiht, das macht den Erwachsenen einfach lächerlich. Aller Dilettantismus beruht auf dieser Verwechslung. Der Dilettant trägt ganz wie der Dichter eine Welt voll Poesie in der Seele: aber während der schöpferische Poet seine Empfindungen dergestalt in dem Medium der Sprache zu verkörpern weiß, daß der Hörer und Leser das Gesamtbild nachschafft, gelingt dem Dilettanten nur ein trauriges Stammeln. Fehlt ihm nun der kritische Blick für die Kluft, die sein Empfundenes von seinem Gestalteten trennt – und dies ist die Regel –, so ist der Dichterling fertig. Der Sekundaner, der sich auf dieser Stufe befindet, hat die Möglichkeit einer Entwicklung für sich: denn selbst das größte Talent beginnt stümpernd. Der fertige Mensch aber erfährt mit Recht die strengste Beurteilung, denn in der Sphäre der Kunst gibt es keine christliche Milde, wie in der Sphäre der Ethik.

Das war also mein erstes Gedicht, – wenigstens das erste, dessen Genesis mir klar vor der Seele steht. Nun folgten rasch aufeinander die entsetzlichsten Balladen im altdänischen Stile, die furchtbarsten Sonette und die traurigsten Elegien. Ich kaufte mir ein schönes Album mit Goldschnitt, in das ich meine »Schöpfungen«, chronologisch geordnet, eintrug. Bald aber wurde mir dieses Kopieren zu umständlich. Ich dichtete gleich frisch drauf los in den Prachtband hinein, wobei es denn wesentlich darauf ankam, keiner Korrektur zu benötigen. Vom Anlegen der Feile war ich überhaupt damals kein Freund. Ich hatte so viel Stoff zu verarbeiten, daß ich immer wieder nach Neuem drängte. Es ist unglaublich, was ich alles in den Bereich meiner rhythmischen Betrachtungen zog. Sonnenaufgänge, die ich niemals gesehen hatte; die Leiden eines Negerknaben, der am Strande des Quorra von den Weißen geraubt wird; der nächtliche Reiter, der seinen Bruder erstochen und nun am zerbröckelnden Turme Wacht halten muß; die Freude über den bevorstehenden Semesterschluß; Glaube, Liebe und Hoffnung; der Gymnasialkarzer; die Vergänglichkeit alles Irdischen, und die Freuden einer nächtlichen Kahnfahrt: – dies alles war mir gleichmäßig untertan. Ich schrieb eine Ode »An unsern Hund« und einen Hymnus auf das griechische Übersetzungsbuch von Mehlhorn. Ich philosophierte über die Unsterblichkeit der Seele und über den niederträchtigen Nationalcharakter der Punier.

Das währte so ein halbes Jahr. Dann kam ein neues Motiv hinzu: das »Ewig-Weibliche«. Die schwarzen Locken und flammenden Augen brausten jetzt nur so durch meine Verse, und an Purpurwangen und Rosenlippen war kein fühlbarer Mangel.

Bis dahin hatte ich meine poetischen Regungen durch unverbrüchliches Schweigen gedeckt. Namentlich in der Schule, wo der Begriff des Verses jenseits aller Erfahrung zu liegen schien, war mir niemals eine verräterische Silbe über die Lippen geglitten. Ich hatte die dunkle Empfindung, als treibe ich etwas Verbotenes. Sobald ich das Wort »Gedicht« aussprechen hörte, erinnerte ich mich eines Vorfalles aus meiner Quintanerzeit. Der Lehrer gab uns damals zwei verschiedene Aufsatzthemata. Zuerst las er uns eine Gellertsche Fabel vor, die wir in Prosa nacherzählen sollten, – und dann eine Anekdote in Prosa. Ich fragte nun in aller Harmlosigkeit: »Die sollen wir wohl in Verse bringen?« Eine geringschätzige Zurechtweisung war die Antwort, und einige meiner hochweisen Herren Mitschüler lachten aus vollem Halse. Von diesem Moment an hatte ich das Gefühl, als sei alles Rhythmische unziemlich, und so war ich denn äußerst zurückhaltend. Nur einem einzigen Freunde teilte ich ab und zu etwas mit. Und da dieselbe Elisabeth, deren Rosenwangen ich poetisch verherrlichte, auch ihm als Ideal alles weiblichen Liebreizes erschien, so beschlossen wir gemeinsam, einige dieser Lieder sauber abzuschreiben und dem Gegenstande unserer Neigung auf dem Wege der Stadtpost zu übermitteln.

Als wir den Brief eben gesiegelt hatten, trat mein Vater ins Zimmer. Wir gaben uns alle erdenkliche Mühe, recht gleichgültig dreinzuschauen, – aber vergebens. Nach einigem Hin- und Herfragen sahen wir uns schmählich entlarvt. So kam denn nicht nur unsere phantastische Verliebtheit zutage, – nein, auch das Geheimniß, daß ich dichtete, wurde ans Licht gezogen. Tiefe Beschämung. Nach langem Widerstreben lieferte ich mein Album aus. Es war mir zumute, wie einem Mädchen, das beim Baden von Männern überrascht wird.

Indes die Sache lief noch verhältnismäßig befriedigend ab. Ich wurde dringlich ermahnt, über diesen rhythmischen Versuchen meine Schularbeiten nicht zu vernachlässigen: im übrigen möge ich nur fortfahren. Dergleichen sei jedenfalls besser, als das sonst so fleißig geübte Einwerfen von Fenstern oder Niederreißen der Zaunpfähle.

Während meines ganzen Aufenthaltes in Sekunda beobachtete ich die strengste Reserve. Das Terrain war hier für poetische Anwandlungen äußerst ungünstig. Kaum, daß ich ab und zu die Keckheit hatte, einen deutschen Aufsatz mit der Wendung zu schließen: »Denn, wie der Dichter sagt …« und dann eine Strophe eigener Schöpfung einzuschmuggeln, in der Voraussetzung, der Lehrer werde den Kunstgriff nicht merken. Noch kürzlich ist mir einer dieser Aufsätze in die Hände gefallen. Der Lehrer hätte, um sich täuschen zu lassen, geradezu ein Dummkopf sein müssen, denn die Verse waren echt knabenhaft; aber großmütig ließ er die Vermessenheit hingehen, ohne mich durch die Frage: »Wer ist denn eigentlich der Dichter, dem Sie diese Strophe entlehnen?« in Verlegenheit zu setzen.

Erst in Prima hatten wir offizielle Gelegenheit, unsere lyrischen Talente vor der Korona der Mitschüler zu betätigen. Unser Horaz-Interpret, ein feingebildeter Mann, der sich namentlich in literarischen Dingen durch ein reges Interesse auszeichnete, forderte uns jedesmal, wenn eine Ode genügend erklärt und verstanden war, zur freiwilligen Leistung einer metrischen Übertragung auf. Natürlich gab nur eine kleine Minorität diesem Ansinnen Folge; aber mit welchem Stolzgefühl schwellte es die Brust, wenn man über diese wenigen Mitbewerber den Sieg davon trug!

Der poetisch beanlagte Primaner steht zumeist unter dem Einflusse Platens, dessen Formkorrektheit ihm naturgemäß imponiert. Erst später entwickelt sich die Vorliebe für Heine und Goethe. Während meines ersten Semesters in Prima waren es besonders die kunstvoll-fremdartigen Ghaselen, die mich zur Nacheiferung entflammten. Keine Dichtungsform schien mir so geeignet, die heterogensten Dinge ohne weitere Kompositionsschwierigkeiten zusammenzuleimen, als dieses orientalische Reimgeplänkel. Ohne zu ahnen, daß wir ganz im Sinne Heinrich Heines (dessen Reisebilder uns damals noch unbekannt waren) die Ghaselform nach ihrer bedenklichen Seite hin persiflierten, wählten wir die sonderbarsten Ausklänge. Sie waren das Primitive, Ursprüngliche: die Gedanken und Verse wurden erst nachträglich wie Arabesken herumgeschlungen. So dichteten wir Ghaselen aus Braun-Dur, die also begannen:

 
Im Glase schäumt das quellenfrische Bier braun:
Natur, Du färbst den Pelz so manchem Tier braun.
Braun blickt das Auge meiner süßen Amrei,
Und um ihr Haupt schmiegt sich der Zöpfe Zier braun u. s. w.
 

Oder wir wählten als Refrain eine ganze Phrase, wie: »Doch der Schickung Groll verbeut's«, und intonierten nun folgendes Carmen:

 
Gerne schritt' ich durch die Wiesen, doch der Schickung Groll verbeut's,
Und besonders mit Elisen, doch der Schickung Groll verbeut's.
Alles, was die Erde spendet, was der Himmel uns geschenkt,
Alles möcht' ich froh genießen, doch der Schickung Groll verbeut's.
 

Und nun folgte in schwungvoller Darlegung, was das glutbeschwingte Herz alles möchte … Es sähe gern … die Bächlein fließen … die Blumen sprießen … den Jäger die Rehlein schießen usw. Aber überall tritt ihm das Fatum entgegen; überall dröhnt es mit Donnerstimme: »Doch der Schickung Groll verbeut's!«

Solche Herzensergüsse waren vollständig ernst gemeint: aber, wie gesagt, Heinrich Heine hätte sie getrost in seinen »Reisebildern« verwerten können.

Nach und nach mochte die Form der Ghaselen uns selbst ein wenig kurios vorkommen. Wir benutzten sie jetzt zu komischen Extravaganzen, zu Klageliedern über unsere Primanerleiden, zu Hymnen auf die Eigentümlichkeiten der Professoren. Eines dieser Gedichte besitze ich noch: ich schrieb es während der Sophokles-Repetition, als Samuel Heinzerling eine etwas gar zu theoretische Auseinandersetzung über das Glykoneische Versmaß lieferte. Das Poem lautete:

Unsere Lehrer
 
Der Klufenbrecher schmunzelt mathematisch,
Doch jede Störung ist ihm antipathisch.
Der Perner haßt verdumpfte Atmosphären,
Und wenn er zürnt, so tobt er autokratisch.
Anzeigend trat der Hähnle zum Direktor:
Die Wurfgeschosse knallten so emphatisch.
Der Heinzerling ist morgens allzu pünktlich,
Den Spätgekomm'nen rüffelt er ekstatisch.
Gymnasium! Gerne riefe ich »Lebe wohl!« Dir,
Warmfühlend, wie der Jude spricht den Kadisch.
Soll ewig hier die Knechtschaft mich verzehren?
Zu einem Block erstarr' ich noch erratisch!
Sei hessisch oder preußisch unsre Fahne,
Sei unser Wappen bayrisch oder badisch:
Die Freiheit ist das Ziel des Demokraten, –
Und Prima fühlt entschieden demokratisch!
 

Gleichzeitig mit diesen und ähnlichen Scherzen, unter denen die Hyperbeln auf die Füße des Herrn Doktor Hellwig und die Epigramme auf die zahlreichen Kinder des Herrn Doktor Brömmel eine hervorragende Rolle spielten, ward auch das sentimentale Genre redlicher Begeisterung kultiviert. Es entstanden glühende Liebeslieder, die mit ängstlicher Scheu im Pulte verwahrt blieben, denn jeder fremde Blick wäre ja eine schnöde Entweihung gewesen … Und dann entschloß man sich gleichwohl, wenigstens eines der »herrlichen Lieder« hinauszusenden in die kalte, lieblose Welt …

Niemand hat diesen epochemachenden Schritt im Leben eines lyrisch produzierenden Primaners so reizend geschildert, wie Paul Heyse in seiner »Lottka«.

Der Erzähler hat ein wehmuttrunkenes Lied gedichtet; sein Freund, ein achtzehnjähriger Musiker, setzt die »seufzenden Strophen in Musik, mit einer Klavierbegleitung, die das nahe Hereinbrechen des Weltgerichts über dem Haupte des wankelmütigen Mädchens« andeuten sollte.

»Damals«, so heißt es wörtlich, »erschien die »Dresdener Abendzeitung« unter der Redaktion eines, wie ich glaube, seitdem verschollenen Herrn Robert Schmieder, der Gedichte der Aufnahme würdigte, über die mein kritisches Selbstbewußtsein nur die Achseln zucken konnte. An ihn schickten wir unsern Liebling, natürlich anonym, in der festen Überzeugung, schon in der nächsten Nummer Text und Komposition erscheinen zu sehen, mit der Bitte an die unbekannten Einsender, die Abendzeitung auch fernerhin mit so willkommenen Früchten ihres Talentes zu erfreuen. In süßer Beklommenheit, trotz unseres Inkognitos, betraten wir die Konditoreien, in denen Journale gehalten wurden, und forschten errötend nach unserm Erstling. Woche auf Woche verging, ohne daß sich unsere Erwartung erfüllte. Ich selbst hatte endlich, zumal nachdem wir noch einmal geschrieben und die Zurücksendung in ziemlich vornehmem Tone verlangt hatten, ohne einer Antwort gewürdigt zu werden, alle Hoffnung aufgegeben und war über diesen ersten Mißerfolg so beschämt und gekränkt, daß ich zunächst in einem längeren Gedichte der undankbaren Mitwelt den Handschuh hinwarf und auf die gerechtere Nachwelt pränumerierte, dann aber jede Andeutung des fehlgeschlagenen Unternehmens vermied und von Bastel (der ehrliche Name meines Freundes war Sebastian) verlangte, er solle auch die Melodie nicht mehr summen, die mir sogleich die ganze leidige Geschichte wieder ins Gedächtnis rief.«

Wer hätte nicht, in gleicher Lage, diese wechselvollen Stimmungen ausgekostet? Hier nimmt das Schicksal zum erstenmal den Lyriker in die Schule, und gar mancher kommt über diese verunglückte Probe niemals hinaus. Ist der Betroffene in der Tat ohne dichterische Begabung, so darf er eine möglichst baldige Zerstörung seiner Illusionen als ein Glück betrachten. Aber gleichviel, es schmerzt. Sah man nicht bereits im Geiste einen prachtvoll gebundenen Oktavband, der in jedem Jahr eine Neuauflage erlebte und neben Geibel und Rückert in den Büchersammlungen aller Frauen und Mädchen heimisch wurde? Und nun dieses herbe Mißgeschick! Was wir für ein literarisches Ereignis hielten, ist an der kalten Seele des Redakteurs spurlos vorübergegangen! Er hat sich vielleicht an dem Weh unseres blutenden Herzens die Pfeife angezündet!

Wie glorreich aber berührt im andern Falle die krönende Hand des Erfolges! Wenn wirklich nach so und so viel Wochen das Gedicht, A. O. oder B. O. unterzeichnet, im Feuilleton des Anzeigers erscheint, – wie steigt dem glückseligen Primaner die Glut ins Angesicht, und mit welch' unsäglichen Gefühlen des Stolzes nimmt er überall, wo es möglich ist, das Blatt zur Hand, um die prächtigen Strophen zwanzig-, dreißig- und vierzigmal wieder zu lesen! Er kann gar nicht begreifen, daß da drüben der Herr, der beim Biere sitzt, zuerst den Leitartikel, die Börsen-Kurse und das Vermischte liest; er meint, jedes Auge müßte sich von dem Gedichte magisch gebannt fühlen, und von Mund zu Munde müßte die Frage lodern: »Wer ist der Verfasser dieses herrlichen Liedes? Das ist ja etwas ganz Eminentes! Das müssen wir herausbringen!« In jedem Zirkel, den unser anonymer Autor betritt, erwartet er, daß man ihn mit den Worten überfalle: »Haben Sie's denn auch schon gelesen? ›Die Klage der Sehnsucht!‹ Wunderbar! Wunderbar! Meine beiden Schwestern haben sich's in ihr Album geschrieben. Meine Tante kann's bereits auswendig, und mein Schwager, der Kapellmeister, wird das Prachtstück in Musik setzen!«

Nichts von alledem ereignet sich. Die Herren in der Bierstube, die so eifrig die Börsenkurse und die Leitartikel studieren, würdigen das phänomenale Gedicht keines Blickes, und in den Familienkreisen und Teegesellschaften geht die Unterhaltung ihren einförmigen Gang. Auch hier beginnt die Laufbahn des Poeten mit Enttäuschung.

Dergleichen läßt sich zur Not noch ertragen. Man richtet sich empor an dem Beispiele so vieler großer Männer, die auch erst nach langen Kämpfen Anerkennung gefunden haben. Man setzt seine ganze Hoffnung auf das nächste Gedicht, das bereits an die Redaktion unterwegs ist usw.

Weit mehr Stoizismus gehört jedoch zum Überstehen der folgenden Szene:

Der Primaner ist in das belebteste Bierhaus geschlichen, weil ihm bekannt ist, daß dort zwei Exemplare der durch ihn mit unsterblichem Ruhme gekrönten Zeitung gehalten werden.

Ahnungsvoll und von süßem Grauen durchbebt, schlürft er sein schäumendes Glas.

Da sitzt der Stadtrichter, ein alter, redseliger Herr … Unter dem Plaudern wirft er auch einen Blick auf das anonyme Gedicht.

»Der druckt aber doch auch allen möglichen Schund«, sagt er mit wegwerfender Gebärde.

Und nun beginnt eine boshafte Besprechung, die von den Umsitzenden aus vollem Halse belacht wird.

Der unglückliche Primaner bedarf seiner ganzen moralischen Kraft, um sich nicht zu verraten. Von diesem Augenblicke an wirft er auf den Stadtrichter, der sonst ein ganz ehrlicher Mann ist, einen unversöhnlichen Haß. Die »wohlfeilen Späße« des alten Herrn sind ein »trauriges Zeichen der Zeit«. »Dieser armselige Böotier, der die Schönheit nicht sehen und würdigen kann, weil ihm der Aktenstaub die Augen umwirbelt! Und die Laffen, die seinen abgeschmackten Bemerkungen Beifall gejauchzt haben!« Ihre Persönlichkeit prägt sich für alle Zeiten unserm Gedächtnis ein … Nach Jahren noch, wenn wir ihnen begegnen, denken wir in einer Anwandlung von Bitterkeit und Geringschätzung: »Aha, das ist ja auch einer von jenen Vandalen, die sich an meinem Kleinod vergingen!«

Erst später, wenn man die literarischen Kinderschuhe ausgetreten und einen freieren Blick erlangt hat, erst als Mann erkennt man, daß jenes Gedicht in der Tat sehr mangelhaft war. Und wenn auch der Stadtrichter keine Ursache hatte, sich über diese Mangelhaftigkeit zu mokieren (er würde dasselbe Gedicht, wenn er es in den Werken eines Klassikers gefunden hätte, pflichtschuldigst bewundert haben), so dürfen wir ihm doch aus hundert Gründen seine Unart verzeihen … Und in der Tat, wir verzeihen ihm, zumal wir in Erfahrung gebracht haben, daß der Stadtrichter zu den eifrigsten Lesern unserer Essays und Novellen gehört.

Die Primanerliebe

Die oberen Gymnasialklassen sind der eigentliche Schauplatz für die platonische Liebe. Die Primanerliebe ist sogar sprichwörtlich geworden, und in akademisch gebildeten Kreisen gehört es zum vornehmen Ton, über dieses erste Aufflackern des erotischen Prinzips geringschätzig zu lächeln. Man vergißt eben im rastlos wiederkehrenden Kampf des Lebens, was man zu einer Zeit fühlte, da sich Herz und Geist erst für diesen Kampf vorbereiteten. Wie kalt und verständig schrieb der herangereifte Goethe über Lili, die den jungen Goethe so magisch gefesselt, so unwiderstehlich hingerissen und bezaubert hatte! Der Mensch wird nüchterner und erblickt dann die Vergangenheit durch die Brille seiner philiströsen Alltagsstimmung.

Unter Primanerliebe versteht man gemeinhin eine jugendliche Dummheit, die in schauderhaften Sonetten und tausendfach wiederholten Fensterpromenaden gipfelt, eine Landpartie als Perihel des Entzückens und die Abreise der Geliebten in das Pensionat als schrecklichste Katastrophe kennt, häufige Einschnitzungen in die Subsellien hervorruft und beim Abgang nach der Universität in Bier, Paukereien und wohlgewachsenen Schenkmädeln ertränkt wird. Dergleichen mag sich ereignen; aber wenn der Verlauf der normalen Primanerliebe in der Tat mit dem Vorgeschilderten buchstäblich übereinstimmt, so folgt daraus lange nicht, daß eine unwichtige Lächerlichkeit vorliegt.

Was ist überhaupt eine Kleinigkeit? Was ist geringfügig? Nur die engherzigste Arroganz kann hier den Maßstab der eigenen Subjektivität anlegen. Was mir sehr geringfügig und wertlos erscheint, ist einem anderen vielleicht das halbe Leben. Das Kind, dem seine Puppe ins Wasser fällt, ist nicht etwa zum Schein, sondern ernstlich und im tiefsten Grunde seines Herzens unglücklich; der Knabe, der zu Anfang des neuen Semesters nicht versetzt wird, fühlt nicht etwa einen Miniaturschmerz, sondern sein ganzes Ich ist unter Umständen so sehr von der Qual seines verletzten Ehrgefühls durchdrungen, daß ihm jede Hoffnung zu Grabe geht; daher es denn keineswegs unerhört ist, daß Schulknaben sich aus solchen »geringfügigen« Anlässen den Tod gegeben. Nirgends ist der Begriff der Größe und der Kleinheit so relativ als in dem, was unser Gemüt angeht. Jede Sorge, jede Neigung, jede Leidenschaft wird einen gesellschaftlich oder philosophisch höher Stehenden finden, der sie von seinem Standpunkt aus belächeln darf. Der Professor, der außer sich gerät, weil ihm ein Exemplar seiner mit so heißer Liebe gepflegten Schmetterlingssammlung ruiniert wurde, kommt dem ernsten Forscher in gewissem Sinne komisch vor; der Dandy, den der plötzliche Verlust seines Handschuhknopfs in Erregung bringt, scheint dem Denker geradezu unbegreiflich; die Hausfrau, die über einen häßlichen Fleck in ihren frisch gescheuerten Dielen in Tränen ausbricht, erweckt vielleicht unseren Hohn: und doch liegt in allen diesen Fällen ein wirklicher Schmerz vor. Würde nicht etwa ein Heros, ein Gott, der unser ganzes Tun und Treiben aus der Vogelperspektive betrachtete, selbst die ernstesten Obliegenheiten unseres Staatslebens komisch finden? Die ganze irdische Geschäftigkeit mit ihrem anspruchsvollen Eifer unterscheidet sich von dem krabbelnden Treiben der Milben, die das Mikroskop in einem Stückchen Käserinde entdeckt, durch kein wesentliches Kriterium. Hier wie dort finden wir ein mühsames Hasten im Interesse der Ernährung und Fortpflanzung; hier wie dort lauert im Hintergrunde der Tod, der die ganze Komödie hinwegfegt. Daß wir dem Treiben der Menschen eine höhere Wichtigkeit beilegen als dem der Milben, kommt nur daher, weil wir zufällig Menschen sind. Wären wir Milben, so schwärmten wir vielleicht für die großen Fragen des Milbentums.

Es wäre eine blöde Verkennung der Tatsachen, wenn wir leugnen wollten, daß die sogenannte Primanerliebe nicht selten die einzige wahre Liebe ist, die ein menschliches Herz auf Erden zu fühlen bekommt. Alphonse Karr sagt einmal sehr bezeichnend: »Wenn die Mädchen wüßten, welch' einen Schatz von Liebe das Herz eines solchen jungen Menschen, der zum erstenmal liebt, in sich birgt! Wenn sie ein Verständnis hätten für diese Hingebung, diese Vergötterung! Wenn sie ahnten, daß sie für einen solchen Jüngling das Leben mit all seiner Wonne, das Paradies mit all seinem geheimnisvollen Zauber darstellen …! Aber in ihrer törichten Geringschätzung für diesen Jüngling, in ihrer noch törichteren Bevorzugung blasierter und verkommener Geschöpfe lassen sie sich diese erste Liebe von Grisetten oder Kammermädchen hinwegschnappen!«

Wenn die Primanerliebe selten zu einem praktischen Resultat führt, so liegt dies vorzugsweise in der Natur unserer sozialen Verhältnisse. Auch sind es wiederum nur diese sozialen Verhältnisse, die der Primanerliebe in den Augen des wohlbestallten Bürgers eine so überaus komische Färbung verleihen. Ein achtzehnjähriger Fischerbursche auf Capri, der seine fünfzehnjährige Teresina liebt und sie nach zwei Jahren eines mehr oder minder romantischen Brautstandes zum Altare führt, erscheint uns poetisch: ein achtzehnjähriger Primaner im gleichen Fall erregt beinahe unsere Mißbilligung. Und doch waltet hier wie dort das gleiche Naturgesetz ob. Die Komik, die einem verliebten Primaner innewohnt, erwächst nur aus dem Umstand, daß der Weg von dem Abiturientenexamen bis zur Würde eines vom Staat besoldeten Kreisrichters ein sehr langer und unerquicklicher ist. Leider kümmert sich Eros um solche Äußerlichkeiten nicht; am wenigsten aber hat er Respekt vor den Gymnasialgesetzen. Es gibt Lehrer, die kindisch genug sind, jede Regung der Liebe, die vor Beendigung des Gymnasialkursus eintritt, als eine strafbare Neigung für Allotria zu betrachten; ja, ich erinnere mich, daß einer dieser kurzsichtigen Pedanten mit Karzerstrafen vorging, weil ein jugendlicher Leander keine nur irgend denkbare Gelegenheit versäumte, an gewissen Fenstern vorüber zu wandeln. Dieser Versuch, das Sonnenlicht mit der Nachtmütze zu fangen, berührte mich schon damals so kläglich, daß ich mit dem unverständigen Cato fast Mitleid empfand. Was sind drei Tage Karzer gegen einen freundlichen Blick aus geliebten Augen?

Ich verwahre mich hier gegen ein Mißverständnis! Nicht im Traume fällt es mir ein, jede erotische Bummelei des deutschen Primaners für eine Haupt- und Staatsaktion des Herzens zu halten; ich erhärte nur, daß solche ernstlichen und tiefen Empfindungen ungleich häufiger sind, als die Schulweisheit selbst der liberalsten Pädagogen sich träumen läßt. Man darf sich hier nicht durch die Außenseite beirren lassen. Die glühende, das ganze Wesen durchleuchtende Liebe tritt in diesem ersten Jugendalter oft ganz in derselben kindischen Gewandung auf, wie die müßige Tändelei. Die Fensterpromenade ist keineswegs nur der Zeitvertreib des koketten Flaneurs: auch der echte, im tiefsten Grund der Seele entflammte Romeo wählt dieses Mittel, – und nur die Musik oder die Dichtkunst vermöchte zu schildern, was er dabei empfindet. Die Mutter des jungen Mädchens, die meist nach langer Blindheit dahinter kommt, daß dieses ewige Vorüberziehen ihrem Töchterchen gilt, zankt (nicht ohne eine stille Befriedigung ihrer geschmeichelten Eitelkeit) über die »dummen Jungen«, die etwas Besseres tun könnten, als so ihre Zeit zu vertrödeln: aber sie ahnt nicht, daß hier eine reinere und gewaltigere Leidenschaft vorliegt, als die halb aus Wohlgefallen, halb aus Berechnung zusammengesetzte, bürgerlich abgestempelte Salonliebe, die nach einer Reihe hochachtbarer Begegnungen zu einer Erklärung und schließlich zu einer respektablen Ehe führt. Diese Verkennung ist um so weniger begreiflich, als die Menschen doch alle einmal jung und mehr oder minder in dem gleichen Falle gewesen sind.

Wenn wir auf der einen Seite nicht leugnen können, daß die äußeren Allüren der Primanerliebe nicht selten den Eindruck einer naiven Ungelenkigkeit, ja einer kindischen Fadheit machen, – alles natürlich vom Standpunkte des gesetzten Familienvaters, – so dürfen wir auf der anderen Seite nicht verhehlen, daß es gerade die herrschende Sitte mit ihren verknöcherten Regeln ist, die den Primaner so lange in dem Zustande der gesellschaftlichen Unreife und Torheit erhält. In gewissem Sinne ist das Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren das unglücklichste des ganzen Lebens.

»Ich war«, so schildert Paul Heyse den Zustand des Halbwüchsigen, »ein lang aufgeschossener, blasser junger Mensch, in jenem verlegenen Alter, wo man den Knabenschuhen sich entwachsen fühlt und noch sehr unsicher in die Fußstapfen der Männer zu treten versucht. Mit einer tollkühnen Phantasie und einem blöden Herzen, zwischen trotzigem Selbstgefühl und mädchenhafter Empfindlichkeit hin und her geschaukelt, zupft man grübelnd an allen Schleiern, die die Geheimnisse des Menschenlebens sterblichen Augen verdecken, weiß heute das letzte Wort über die letzten Dinge, gesteht sich morgen, daß man noch im ABC stecke, und gebärdet sich überhaupt so unbehaglich widerspruchsvoll, daß man sich selbst unerträglich werden würde, wenn man nicht von Leidens-, das heißt Altersgenossen umgeben wäre, die es nicht besser machen und doch auch darum nicht aus der Haut fahren.«

Es ist vornehmlich der deutsche Jüngling, der dies Mißbehagen auskostet, und zwar zunächst und in erster Linie aus dem betrübenden Grunde, weil ihm die Gesellschaft absolut keine Stellung anweist. Der Verkehr eines sechzehnjährigen jungen Menschen mit den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft und insbesondere mit den gleichalterigen und älteren Mädchen entbehrt jeder vernünftigen Basis und Norm. Er mag der geistreichste und geweckteste Kopf sein: die Damen rechnen ihn nicht für voll, und die Herren erst recht nicht. Ja, vielfach deutet man seine Anwesenheit im Salon als Zudringlichkeit. In Deutschland ist es eine Sünde, nicht vollständig erwachsen zu sein. In Frankreich, in England ist das anders. Ich habe in Paris hundertmal den ungezwungenen, graziösen und doch keineswegs allzu vertraulichen Ton bewundert, in welchem selbst Knaben von vierzehn und fünfzehn Jahren mit älteren Leuten verkehren. Da waltet nicht eine Spur von Befangenheit ob, da herrscht nicht jene blöde Verschämtheit, die nicht weiß, wo sie mit den langen Beinen und Armen hin soll. Wohl aber hat sich gerade infolge dieser Freiheit und Leichtigkeit eine bescheidene Reserve ausgebildet, die sehr wohltätig mit der vorlauten Keckheit kontrastiert, die als anderes und nur zu begreifliches Extrem den halbwüchsigen Deutschen charakterisiert. Wo soll ein deutscher Jüngling eigentlich seine gesellschaftliche Schule durchmachen? Bis zu einem gewissen Alter verbietet man ihm – entweder direkt, oder indirekt durch die unfreundliche, verletzende Behandlung – den Zutritt in die Gesellschaft. Dann mit einemmal werden ihm die Pforten geöffnet, und nun verlangt man die Manieren eines Gentleman. Aber dergleichen erlernt sich nicht über Nacht. Ich erblicke in der Liebenswürdigkeit, mit der die Franzosen ihre jungen Leute behandeln, ein Hauptmoment ihrer geselligen Überlegenheit. Der gebildete Franzose hat sich von jung auf jene gefälligen Manieren angewöhnt; sie sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Der Deutsche dagegen soll sie seinem fast fertigen Menschen nachträglich aufkleben. Daher braucht man denn später nur ein wenig zu kratzen, um die Politur wegzubröckeln und den ungeleckten Bären hervorschimmern zu sehen.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
28 eylül 2017
Hacim:
260 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
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