Kitabı oku: «Humoresken (Zweites Bändchen)», sayfa 5
Siebentes Kapitel
Wochen und Monate verstrichen. Der kühne Dictator Gambetta – getreu seinem Grundsatze, lieber sein Vaterland zu ruiniren, als die erlittenen Niederlagen einzugestehen – hatte den Krieg gegen die siegreichen deutschen Heere mit ebenso wenig Glück als Verstand fortgesetzt. In der Nähe von St. Quentin stand der General Faidherbe an der Spitze der sogenannten Nord-Armee den kampferprobten Truppen des General Göben gegenüber. Das ganze Departement, Clatou und Gressinet nicht ausgenommen, zitterte und bebte; denn Jedermann fühlte, daß es binnen kürzester Frist zu einem entscheidenden Schlag kommen mußte, und Frankreich hatte bereits zu oft die Wucht der deutschen Hiebe empfunden, als daß die siegesgewissen Phrasen der Delegation und ihrer Feldherren ernstlich hatten verfangen können.
Eine klare, frostige Winternacht breitete ihre sternbeglänzten Fittiche über den Erdball. Clatou und Gressinet hatten im Arme des Traumgottes ihre Zwistigkeiten und das Unglück ihres einst so übermüthigen Vaterlandes ziemlich vergessen. Nur zuweilen fuhr ein Clatounese jählings zusammen und stammelte schlaftrunken die heroischen Worte: »Keinen Stein unserer Festungen!« Nur zuweilen entschlüpfte einem Gressineter der selbstzufriedene Ausruf: »Sie ist gerettet!«
Der Mond schien hell; die Eiszapfen des städtischen Brunnens flimmerten feenhaft; breit und leer lagen die hartgefrorenen Straßen, und an den Fensterscheiben malte die Kälte bereits in undurchsichtigen Schichten ihre phantastischen Blumen und Arabesken.
Vom Thurme Clatou's schlug es drei … Da horch! Klang das nicht aus der Ferne wie das Grollen eines herannahenden Gewitters? Horch! Wieder und wieder erneut sich der dumpfe, unheimliche Schall; immer näher und näher wälzt sich das seltsame Dröhnen und Donnern!
Jetzt wird es in Clatou lebendig. Allenthalben blitzt Kerzenschein durch die eisbedeckten Scheiben. Hie und da öffnet sich ein Fenster, und lange, weißgekleidete Gestalten in wallenden Zipfelmützen strecken ängstlich schnuppernd die Nasen ins Freie. Man klappert vor Frost und Entsetzen. Wilde Flüche auf Ollivier und Napoleon III. mischen sich mit dem Schreckensrufe: »Die Preußen!«
Nach zehn Minuten ist die ganze Gemeinde Clatou auf den Beinen. Die Weiber stürzen mit fliegenden Haaren und gerungenen Händen auf die Straße. Die Männer stehen stirnrunzelnd vor den Hausthüren und gaffen in die mondhelle Nacht hinein. Jetzt naht der Wächter und bläst Alarm. Der Küster eilt nach der Kirche, um die Glocken zu läuten. Bleich wie der Tod tritt der Herr Maire auf den Balkon seines ›Palastes‹ und starrt hinunter in das rath- und trostlose Gewühl. Zwei der beherztesten Patrioten eilen vor das südliche Thor, um die Situation auszukundschaften.
In Gressinet hat sich unterdessen die gleiche Comödie aufgespielt. Jules Pierrot und Croquepeu rennen in voller Nationalgarde-Uniform durch die Straßen und rufen die Bürger nach der Scheune des alten Grimmont. Die Weiber schreien ganz in derselben Tonart wie die Clatouneserinnen, und die Familienväter fluchen noch lauter als ihre Collegen in der Mutterstadt. Auch Gressinet sendet Kundschafter aus.
Inzwischen kommt das Gefecht näher und näher. Es ist eine versprengte Abtheilung französischer Truppen, die von einigen deutschen Bataillonen verfolgt und mit jeder Minute mehr in die Enge getrieben wird. Jetzt treffen die ersten Flüchtlinge in Clatou ein. Sie bringen die Schreckensnachricht, daß gestern eine große Schlacht stattgefunden, die General Faidherbe verloren habe. Kaum hat man ihnen etwas Speise und Trank gereicht, als auch schon die ersten feindlichen Granaten aufs Straßenpflaster einschlagen. Alles rennt, rettet und flüchtet. Der Bürgermeister verkriecht sich in den untersten Keller der Mairie; das Verließ, in welchem der arme Goguenard noch immer von Amtswegen schmachtet, wird erbrochen, denn es ist bombenfest. Zehn, zwanzig, dreißig Bürger leisten mit einem Mal dem erstaunten Weinwirth Gesellschaft. Goguenard, nicht faul, benutzt die Gelegenheit zur Flucht und langt athemlos in Gressinet an, wo er zwar freundlich, aber ohne Enthusiasmus empfangen wird. Die Angst lähmt alle anderen Empfindungen.
Zitternd lauschen die Patrioten aus ihren Verstecken dem stets wachsenden Schlachtlärm. Die ganze Schaar der flüchtigen Franzosen hat sich auf Clatou geworfen. Der Feind überschüttet die Stadt mit einem furchtbaren Hagel von Projektilen. Die Franzosen suchen sich zu verschanzen: ein eitles Beginnen. Nach Verlauf einer halben Stunde sind sie zum westlichen Thore hinausgeworfen. Mit Hurrah dringen die Preußen nach. Die Soldaten Gambetta's erkennen ihr Schicksal … In Béricourt, eine Stunde westwärts von Gressinet, werden sie umzingelt. Sie capituliren.
Clatou athmet auf. Der Kampf ist vorübergebraust. Aber, o Entsetzen! Welcher Anblick bietet sich der erschütterten Bürgerschaft, als sie sich endlich aus den Kellern und Verließen hervorwagt! Clatou brennt! In der Mairie, im Spritzenhause und an drei anderen Stellen haben die feindlichen Granaten gezündet. Sprachlos begaffen die Patrioten das drohende und immer weiter um sich greifende Unheil. Keiner rührt sich, keiner legt Hand an, um der Flammen Herr zu werden …
»Bürger!« ruft endlich Herr Clamard, der sich in der Mitte des Marktplatzes auf einen Stuhl gestellt hat, – »Bürger! Ihr habt soeben einer dräuenden Gefahr mit einem Muthe, den die Geschichte anerkennen wird, ins Auge geschaut! Auf! Laßt uns auch angesichts dieser noch schwereren Heimsuchung nicht verzagen! An die Spritzen!«
»Das Spritzenhaus brennt,« erwidern die Bürger in zitternder Herzensangst.
»An die Spritzen, sage ich, im Namen des Gesetzes!«
Einige der Beherztesten eilen nach dem Spritzenhause. Wehklagend kehren sie zurück.
»Die Spritzen liegen beide in Trümmern!« rufen sie schon von Weitem. »Die Granaten haben alles kurz und klein geschlagen. Wir sind verloren.«
»Man läute Sturm!« ruft Herr Clamard im Tone der höchsten Verzweiflung … »Gott wird uns nicht verlassen, Patrioten!«
»Wenn er nur löschen wollte! Nur Einen ordentlichen Wolkenbruch! Aber bei dieser Kälte kann selbst der liebe Gott nicht regnen lassen. O heilige Jungfrau, – wie sind wir geschlagen!«
Da rasselt etwas über das Straßenpflaster. Alles blickt auf. Ein Hurrah schallt den Angstbeklommenen entgegen. »Es lebe Frankreich!« tönt es von zwanzig vaterländisch gesinnten Lippen.
… Hatte Jules Pierrot nicht einst zu Croquepeu gesagt: »Den Preußen gegenüber sind wir alle Franzosen, alle Söhne einer großen, gemeinsamen Mutter!« –?
Die Gressineter bewiesen jetzt durch die That, daß dieses erhebende Wort ihres Stimmführers keine gehaltlose Phrase war.
»Die Feuerspritze von Gressinet!« jauchzten die Clatounesen … »Rasch, rasch, ihr Wackeren, eh' es zu spät wird!«
Majestätisch rollte die roth und blau lackirte Feuerspritze vor die Mairie. Im Nu war Wasser in Hülle und Fülle zur Hand. Die Gressineter hatten nicht umsonst den Pfarrer von Clatou zum Ziel ihres Strahles genommen! Mit derselben Accuratesse, die damals den Diener der Kirche verunglimpfte, richteten sie nun den rettenden Schlauch in die Flammen. Ha! wie zischte und knirschte das wüthende Element unter den gewaltigen Fluthen des rastlosen Sprührohres! Wie prasselte das siegreiche Naß in die lodernden Sparren des Dachstuhls! Eimer um Eimer verschwand in dem ölgestrichenen Bauch der gebenedeiten Maschine, und Eimer um Eimer entlud sich in die immer schwächer werdende Glut. Ganz Clatou bildete eine einzige große Kette, die sich alle möglichen und unmöglichen Gefäße von Hand zu Hand reichte … Nach Verlauf einer Viertelstunde war die Mairie und ein daranstoßendes Wohnhaus – die am meisten gefährdeten Baulichkeiten des schwer geprüften Städtchens – glücklich gerettet.
Inzwischen hatte das Feuer freilich an den übrigen Punkten um sich gegriffen, aber das Schwierigste schien überwunden … An dem isolirt stehenden Spritzenhause war wenig gelegen; die beiden Privathäuser stießen dicht aneinander und konnten abwechselnd mit erfrischenden Güssen bedacht werden. Überdies traf jetzt aus einem der benachbarten Dörfer Hilfe ein. Nach kurzer Frist arbeitete eine zweite Pumpe an der Seite der roth und blau lackirten Gressineterin, und ehe der metallene Mund der Glocken die sechste Morgenstunde verkündete, beschränkte sich der Brand auf einige qualmende Scheiter, die man vermittelst der städtischen Feuerhaken vom Firste eines der betroffenen Häuser heruntergerissen hatte. Der angerichtete Schaden belief sich auf eine verhältnismäßig unbedeutende Summe: Clatou konnte mit seinen Schutzgöttern zufrieden sein.
Als die Spritze von Gressinet ihren letzten Strahl entsandt hatte, als Jules Pierrot, vor Eifer und Anstrengung glühend, sein Taschentuch zog, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, da trat Herr Clamard, der Maire, auf ihn zu, umarmte ihn im Angesicht des versammelten Volkes und sprach also:
»Bürger der Gemeinde Clatou! Bürger der Gemeinde Gressinet! Laßt uns alle Streitigkeiten, die uns bisher trennten, in diesem erhebenden Augenblicke zu Grabe tragen! Ihr, wackere Gressineter, habt Anspruch auf unseren wärmsten, thatkräftigsten Dank. Ich erkläre euch hiermit feierlichst, daß ich mich an geeigneter Stelle verwenden werde, um eure communale Selbständigkeit dauernd und in allen Punkten zu begründen. Ihr seid meiner väterlichen Obhut entwachsen. Gut denn! Wenn ihr nicht länger meine Kinder sein könnt, so laßt uns treue Freunde und engverbundene Nachbarn sein!«
Donnernder Applaus. Die Gressineter sanken sich unter Thränen der Rührung in die Arme und riefen: »Es lebe der Maire von Clatou! Es lebe Gressinet!«
»Bürger!« fuhr der Maire fort, »es ist Sitte, die Versöhnung zweier Völkerschaften durch das Weben zarter Privatbande so zu sagen symbolisch zu versinnlichen. Bürger! Seht diesen entschlossenen, charakterfesten, patriotischen jungen Mann! Ich bin Herrn Jules Pierrot in mehr als einer Beziehung eine Genugthuung schuldig. He, Marion, wo steckst du?«
Marion trat vor. Ein zierliches, pelzverbrämtes Mäntelchen umschloß die anmuthig-schlanke Gestalt mit vollendeter Grazie. Die Röthe der jungfräulichen Verwirrung lieh der ganzen Erscheinung etwas Berückendes.
»Bürger!« rief Monsieur Clamard mit immer steigendem Pathos, indem er mit der Linken die Hand seiner Nichte, mit der Rechten die des hochbeseligten Jules ergriff … »Bürger! Die jungen Leute hier lieben sich …«
»Ah!« klang es im Kreis der erstaunten Hörer.
»Seit lange verbindet sie eine ebenso innige, als tugendhafte Neigung … Wohlan, meine Kinder, im Namen des Gesetzes, ich verlobe euch!«
Jules schwamm in überschwänglichen Wonnefluten. Marion reichte ihm die Rechte und flüsterte ihm bebend vor Glück und Entzücken die Worte ins Ohr:
»Nicht wahr, Jules, ich hatte doch Recht, als ich nicht mit dir durchgehen wollte? Ist's nicht so besser, mein Geliebter?«
Jules Pierrot antwortete nicht. Sein Herz war voll zum Zerspringen.
Der Bürgermeister hatte indessen noch nicht geendet.
»Es versteht sich von selbst, meine wackeren Gressineter,« sagte er nachdrücklich, – »daß diese ruhmreiche Feuerspritze von jetzt ab euer unbestrittenes, rechtsgültiges Eigenthum bleibt. Wir unsererseits werden Sorge tragen, daß unsere zerstörten Maschinen binnen kürzester Frist durch neue ersetzt werden, damit wir auf alle Fälle gerüstet sind. Möchte es recht bald einmal bei euch brennen, damit wir euren heroischen Opfermuth wett machen und den Liebesdienst, den ihr uns geleistet habt, nach Würden vergelten können!«
»Hoch! hoch!« schrieen die begeisterten Bürgerschaaren.
»Hoch! hoch!« jauchzten die Frauen und Jungfrauen.
Der Wächter blies einen Tusch, und die Straßenjungen pfiffen auf den Fingern, daß dem Bürgermeister die Ohren gellten.
Seitdem lebt Clatou mit Gressinet in der rührendsten Eintracht. Marion ist die glückliche Gattin Pierrot's. Herr Laloupon, der einst so übel mitgenommene Priester, hat die Ehe des liebenswürdigen Paares eingesegnet und mit Zugrundelegung des ehedem in anti-gressinetischem Sinne ausgedeuteten Bibelwortes: »Selig sind die Friedfertigen!« eine ebenso ergreifende als wohlwollende Rede gehalten.
Oft noch erinnern sich die Bürger von Clatou und Gressinet jener frostigen Schreckensnacht und der schauderhaften Attake der Preußen. Wenn sie dann alles durchgesprochen und recapitulirt haben, dann nicken sie bedächtig mit den würdigen Häuptern und murmeln das altbekannte Sprüchwort, dessen Wahrheit ihnen früher nicht so recht einleuchten wollte:
»A quelque chose malheur est bon!«
Möchte es ihnen gleichwohl erspart bleiben, die deutschen Granaten zum zweiten Mal kennen zu lernen!
Eine Abendwanderung
Da schlägt die Wanduhr auf meinem Corridor sechs … Schon seit mehr als einer Stunde sitze ich hier bei dem wuchtigen Quartband, ohne über die erste Seite hinauszukommen. Die Wahrheit geredet, es ist eine polizeiwidrige Thorheit, sich so gegen Laune und Behagen zum Studium zu zwingen. Diese ewigen Theorien! Diese unablässigen Philosopheme! Man verliert schließlich vor lauter ästhetischer Fachbildung den unbefangenen Blick und den naturwüchsigen Geschmack. Eine Stunde vor der Danaë Tizian's ist, alles in allem, fruchtbarer, als hundert Erwägungen über die Gesetze der Farbengebung; und wer die Schönheit nicht in den lebendigen Originalen bewundern kann, dem frommt kein Speculiren und Grübeln: sein Urtheil bleibt ewig laienhaft.
Ist ein wahrhaft ästhetisch angelegtes Naturell überhaupt mit dem Joch der Ehe vereinbar? Ich bin jetzt seit elf Monaten verheirathet. Meine Josephine ist die Liebenswürdigkeit selber … und doch trage ich das unbestimmte Bewußtsein mit mir herum, daß ich vom Standpunkt des rein Menschlichen etwas eingebüßt habe. Ich bin so häuslich, so philiströs solide geworden, daß die Musen mich gewiß schon halb und halb zu den verlorenen Söhnen rechnen. Wenn ich bedenke … ehedem … die burschikose Ungebundenheit, die Frische der Weltanschauung, die genialische Lust an Abenteuern … und jetzt …! Bei Gott, ich glaube, es vergehen manchmal drei, vier Wochen, ohne daß ich einer einzigen gediegenen Kneiperei anwohne. Und nun läßt sie mich seit einigen Tagen überdem noch allein, anstatt, wie sonst, drüben in der Ecke auf der kleinen Ottomane zu sitzen und meine Studien mit einer Handarbeit zu begleiten. Mein Geburtstag ist in der Nähe, und da es eine Überraschung gilt, so verbleibt sie in ihrem Boudoir und hält eine strenge Clausur ein. Die gute Seele! Sie meint es so ehrlich, und es ist eigentlich undankbar, daß ich mich in dieser misanthropischen Stimmung befinde, aber die Thatsache ist nicht zu ändern, und alle Gefühle der Zuneigung können mich nicht abhalten, diese ehrsame Monotonie des bürgerlichen Daseins hin und wieder ein wenig farblos zu finden.
Warum bin ich eigentlich so gutmüthig, mir diese aufgezwungene Einsamkeit gefallen zu lassen? Das Wetter ist herrlich, drei Grad Kälte und mondhell … Bis zum Thee habe ich noch zwei Stunden Zeit. Wer weiß, ob mir da draußen nicht irgend etwas begegnet, was mich aus dem Cirkel meiner Alltagsempfindungen herausreißt. Apollo ist mein Zeuge, daß ich nur aus rein künstlerischen Gesichtspunkten, nur um diese schlichte Existenz etwas effectvoller zu coloriren, nur um der ästhetischen Anregung willen … Doch ich thue gerade als bedürfte ich vor mir selber einer Entschuldigung! Lächerlich! Ich kenne meine Pflichten, aber auch meine Rechte.
Langsam richte ich mich empor, lege die Opera omnia meines Theoretikers bei Seite und fahre in meinen Überzieher. Den Hut setze ich ein wenig nach links auf's Ohr; das verleiht der ganzen Erscheinung etwas Keckes und Selbstbewußtes und wirkt indirect auf die Gemüthsverfassung.
So, und nun den Stock – nicht jenes biedere, wuchtige Olivenholz mit der familienväterlichen Krücke, das ich gewöhnlich zu tragen pflege, sondern dieses elegante Bambusrohr, mit dem ich einst in den goldenen Tagen der süßen Jugendeselei den alten Seligmann abgefuchtelt, als er mir in gar zu dringlicher Weise ein unangenehmes Papier präsentirte.
An der Gasflamme der Hausflur zünde ich mir im Vorbeigehen eine Cigarre an, qualme ein paar bedeutungsvolle Rauchwolken wider die Decke und schreite dann elastischen Wandels durch die mächtige Bogenpforte ins Freie.
Ein herrlicher Abend! Friedlich kräuselt sich der Rauch über den Dachfirsten, wie versilberte Wölkchen, die unter dem Kusse des Mondscheins im Azur zerfließen. Die Façaden der Südseite liegen fast in tagheller Beleuchtung: nur in den kleinen Vorgärten flimmert eine sanfte bläuliche Dämmerung. Es ist still hier draußen in dem einsamen Parkviertel, still wie in dem Dasein eines christlichen Ehemanns. Nur selten wandelt ein Ereignis in Gestalt eines sorgfältig frisirten Livréebedienten oder eines Dienstmädchens über den hart gestampften Bürgersteig. Alles athmet eine behäbige Ruhe, eine zahlungsfähige Sicherheit. Selbst das Rollen der Equipagen beschränkt sich hier auf bestimmte Stunden des Tages, und jetzt, um sechs Uhr, ist in dem ganzen Quartier keine Achse in Bewegung. Das Theater beginnt erst um sieben, und die Spazierfahrten endigen mit hereinsinkender Dämmerung.
Allmählich führt mich der Weg in belebtere Stadtviertel. Rechts und links tauchen Magazine und Läden auf. Die Zahl der Fußgänger vermehrt sich: auf dem Damm kreuzen sich die Droschken und Lastwagen. Noch zehn Minuten, und ich befinde mich mitten im Herzen des großstädtischen Verkehrs. Hinter den glänzend erleuchteten Spiegelscheiben winken mir alle Schätze Europa's in geschmackvoller Anordnung. Ein wahres Chaos von Fuhrwerken nimmt die ganze Länge und Breite der Straße ein. Die Schaaren der Fußgänger schieben sich in buntem Gewimmel an den blitzenden Etalagen vorüber. Die ganze Atmosphäre summt und dröhnt von jenem unentwirrbaren Ineinanderklang hundert verschiedener Geräusche, deren Ensemble auf die Nerven des Großstädters ebenso wohlthätig wirkt, wie die Landluft auf das Naturell eines Dorfpastors.
Von allen Seiten bestürmen mich neue, bewegende Eindrücke. Nahezu sechs Wochen sind verflossen, seit ich zum letzten Mal eine abendliche Flanade über diese Trottoirs unternahm, und es war damals obendrein eine äußere Veranlassung, die mich hierher führte, ein specieller Zweck – was dem eigentlichen Esprit des Bummelns bekanntermaßen zuwiderläuft. Nein, ich begreife mich nicht! Sechs Wochen halte ich's aus da drüben in meiner beschaulichen Einsamkeit, und hier wogt und brandet ein Ocean von Bildern und Stimmungen, wie ihn die Seele farbenprächtiger nicht wünschen kann.
Ich setze meinen Hut noch um eine Nüance schiefer auf's Ohr, fasse den Stock in der Mitte und runzle die Stirn wie ein übermüthiger Dandy, der im nächsten Augenblick eine Welt zu erobern gedenkt.
Jetzt begegnet mir eine Mutter mit zwei Töchtern. Wohlgebaute Blondinen im Stile Paolo Veronese's. Wahrhaftig, die eine hat ein ganz allerliebstes Gesichtchen: etwas geistlos, das ist wahr: aber du lieber Gott, am Ende ist der Geist nur ein Vorurtheil, und von der Leinwand wirkt das üppige Incarnat eines blühenden Nackens jedenfalls energischer, als der seelische Duft einer feingeschnittenen Lippe. Beim Himmel, wenn ich ebensoviel Technik als Verständnis besäße, ich möchte diese saftige Blondine malen, wie Tizian seine Catarina Cornari gemalt hat, als schlichtes Porträt ohne irgend welche artistische Zuthat … Und jetzt diese büßende Magdalena … So wahr ich lebe, das Original in optima forma zu dem famosen Gemälde Murillo's! Es ist eine wahre Schande, daß ich mir seit Monaten eine so peinvolle Reserve auferlege, und lediglich aus Rücksicht … Alle Vorzüge können sich doch nun einmal unmöglich in einer und derselben Person vereinigen. Josephine ist hübsch, freundlich, aufmerksam, zärtlich, liebenswerth, – kurz, vom Standpunkt eines christlich germanischen Alltaglebens betrachtet, das Ideal einer jungen Frau. Aber in rein künstlerischer Beziehung, mit dem Auge eines Rafael oder eines Correggio gesehen … Pah, man wird nothgedrungen einseitig, wenn man sich jeder anderweitigen Bewunderung enthalten will …
Nachdenklich setze ich meine Wanderung fort. Ein gelinder Groll gegen unsere sociale Ordnung spinnt seinen Nebelschleier um meine pessimistisch angekränkelte Seele. Warum nehmen es die Frauen auch nur so heillos übel, wenn man gelegentlich eine ihrer Mitschwestern hübsch findet! Ich erinnere mich noch des seltsamen Blickes, den mir Josephine zuwarf, als ich im verwichenen Herbst jene dunkeläugige Unbekannte im Foyer des Victoriatheaters mit dem Lorgnon fixirte. Für etwas Romantisches haben diese Töchter aus guter Familie absolut keinen Sinn. Als ob meine Neigung unter einer derartigen praktischen Studie im mindesten leiden könnte. Ein künstlerisch angelegtes Herz verlangt mehr als die bloße häusliche Glückseligkeit, und schließlich – der Teufel weiß, wie es zugeht, aber das Factum bleibt unanfechtbar – schließlich haben diese Unbekannten immer ein gewisses Etwas, das den uns so wohlbekannten Gattinnen abgeht, ein nescio quid von poetischem Zauber, einen Hauch von geheimnisvoller Novellestik, dessen nähere Definition ebenso unmöglich ist, wie die Analyse des Schönen überhaupt.
Was ist das zum Beispiel für eine reizende, graziöse Gestalt, die da quer über die Straße kommt und jetzt in den Galanterieladen eintritt! Ein Füßchen zum Entzücken, und eine Anmuth in jeder Bewegung, wie man sie eben nur bei Unbekannten findet.
Ich trete an das Schaufenster. Ein Seufzer entringt sich meiner Brust, lang und gepreßt, wie ein Passus aus Schopenhauer's Kapitel über das Leiden der Welt. Zwischen den Fächern und Schmuckkästchen hindurch dringt mein Blick in das Innere des Gewölbes. Die schöne Unbekannte kehrt mir den Rücken. Jetzt beugt sie sich über den Ladentisch, um eine Waare in Augenschein zu nehmen … Wie pittoresk war diese Wendung des Armes! Und wie geschmackvoll sie gekleidet ist! Hier erkennt man so recht den Unterschied zwischen dem Schlicht-Bürgerlichen und dem Classisch-Poetischen. Mich dünkt, ich habe eine ähnliche Jacke auch bei Josephinen gesehen: aber wie ganz anders war der Effect! Hier eine gewisse Genialität im Faltenwurf, dort eine nüchterne Accuratesse, eine ruhige Einfachheit, die für gewisse Charaktere ihren Reiz haben mag, aber auf die Dauer eine ästhetische Lücke läßt. Kleider machen Leute, sagt das Sprüchwort; mit der gleichen Berechtigung kann man die These umkehren. Dasselbe Gewand von verschiedenen Personen getragen ist nicht mehr dasselbe. Die Individualität haucht dem Kleidungsstück ihr ganzes Wesen ein. Ich glaube, Aspasia wäre im Stande einen Zwillichkittel so zu drapiren, daß er einen königlichen Purpur beschämte.
Und diese reizende Robe! Einfach und anspruchslos, und doch bedeutsam und charakteristisch. Diese stahlfarbene Nüance hat etwas Aristokratisches. Warum Josephine einen derartigen Stoff nicht gewählt hat? Aber es ist nun einmal nicht zu ändern. Gewisse Dinge existiren nicht für die normale deutsche Hausfrau: man entdeckt sie nur fernab von dem Weichbilde des heimischen Herdes.
Wie lange sie wählt und prüft! Auch hierin offenbart sich ein distinguirter Charakterzug. Da … da … um ein Haar hätte ich ihr Gesicht zu sehen bekommen. Das Stückchen Wange, das mir in duftiger Verklärung entgegengeleuchtet hat, erweckt eine unwiderstehliche Sehnsucht in mir, das ganze ambrosische Angesicht aus der nächsten Nähe zu schauen. Ich interessire mich jetzt so glühend für diese schöne Käuferin, daß es mich bereits nach ihrer Biographie gelüstet. Wo mag sie wohnen? Wie mag sie heißen? Das beste ist, ich lasse sie hier vorbeipassiren und gehe ihr dann nach, sittsam und in bescheidener Entfernung, wie es einem verheiratheten Ästhetiker geziemt … oder nein … ich sehe nicht ein, weshalb ich so übermäßig bescheiden sein sollte. Mein Naturell steht mit einem solchen Vorsatz in diametralem Widerspruch. … Nun, wir werden ja sehen.
Ah, da kommt mein trefflicher Freund Leo. Schon von fern lacht er mich mit dem ganzen Vollmond seines biederen Kneipgesichts an, als wollte er sagen: »Trifft man dich auch endlich wieder einmal unter den Lebenden?«
Auch ich bin erfreut, dich zu sehen, wackerer Genosse meiner akademischen Ausschweifungen, unvergleichliches Danaidenfaß, in dessen bodenlosem Schlunde so manches Quart Lagerbier und so manche Punschbowle ein ruhmloses Ende gefunden.
Er schüttelt mir mit der grübchenreichen Herkulesfaust die Rechte und brummt im tiefsten Basse eine Phrase freundschaftlichen Entzückens.
»Wie jammerschade,« fügt er nach einer Weile hinzu, »daß ich gerade jetzt nicht Herr meiner Zeit bin.«
Er sieht auf die Uhr.
»Ich muß meine Tante ins Concert führen,« seufzt er stirnrunzelnd, »und gewahre mit Schrecken, daß ich bereits eine Viertelstunde Verspätung habe.«
»Ah, die Hofräthin! Nun, sie molestirt dich selten genug, und als Erbtante verdient sie einige Rücksicht. Ich will dich bei Leibe nicht abhalten.«
Noch einmal schüttelt er mir die Hand und poltert dann fürbaß über das Pflaster.
Verflucht! In der Zwischenzeit ist mir meine schöne Unbekannte entwischt. Hole der Henker alle Kneipkameraden und Hofräthinnen. Doch halt, dort biegt die Holdselige um die Ecke. Das war noch gerade Zeit, sonst hätte ich den Engel für immer verloren. Auf und ihr nach!
In weniger als einer Viertelminute habe ich mich ihr auf fünfzehn Schritte genähert. Es hält schwer, sie bei dem dichten Menschengewühl im Auge zu behalten. Dabei schreitet sie tüchtig zu … Ja, ja, solche novellistische Naturen sind stets gute Fußgängerinnen. Im Sommer begegnet man ihnen auf dem Gipfel des Pilatus oder auf den Gletschern des Chamounithals. Ich kenne die Sorte …
Jetzt schwenkt sie seitwärts ab. Aha, sie nimmt den Weg nach der Gertraudenstraße quer über den Markt. Nun, um so besser; auf diese Weise entferne ich mich nicht von dem Parkviertel. Es ist sieben, ich habe also vollauf Muße, mein peripatetisches Abenteuer bis auf die Hefe auszukosten. Ich muß jetzt erfahren, welche Göttin in dieser reizenden Hülle wandelt, oder meine Mißstimmung erklärt sich in Permanenz!
Wie seltsam doch mitunter der Zufall spielt! Da biegt sie richtig in die neue Anlage ein! Ich kann ihr also unter allen Umständen ohne Zeitverlust bis an ihre Wohnung folgen, und wenn sie am äußersten Ende der Stadt residirte. Wirklich, Fortuna ist mir hold. Es hätte sich doch ebensogut treffen können, daß die kleine Zauberin mich nach dem Ludwigshain oder den Bernstädter Linden gelockt hätte!
Jetzt scheint sie bemerkt zu haben, daß ich ihr auf den Fersen bin. Sie hat leise den Kopf gewendet, sie beschleunigt ihre Schritte. Das ist entweder ein Zeichen von hohem sittlichem Ernst, oder von reizender Koketterie. Aber Gott sei Dank! Noch bin ich nicht so sehr zum Philister geworden, daß ich nicht im Stande wäre, eine solche Parforcepromenade auszuhalten. Noch habe ich mich von dem Embonpoint deutscher Familienväter freizuhalten gewußt. Bei den Göttern, diese Eilfertigkeit steht ihr entzückend. Wie fest und doch wie schmiegsam sie auftritt. Das ist eine Poesie des Wandels, an der sich ein Apollo berauschen könnte.
Jetzt beginnt die Sache in der That humoristisch zu werden. Das räthselhafte Geschöpf schlägt immer entschiedener dieselbe Route ein, die ich wählen müßte, wenn ich direct nach meiner heimischen Wilhelminenstraße eilen wollte. Wäre ich ein gläubiger Romantiker aus der alten Schule, so dächte ich jetzt an eine moralisch gesinnte Fee, an eine ideale Personificirung meines ehelichen Gewissens. Die schöne Huldin wäre etwa Titania, die, von heiligem Schmerz erfüllt, ihren Liebling auf Irrwegen zu sehen, die Gestalt einer bestrickenden Sirene angenommen hätte und mich nun, ohne daß ich es ahnte, zu den Laren des häuslichen Herdes zurückführte.