Kitabı oku: «Humoresken (Zweites Bändchen)», sayfa 6
So wahr ich selig werden will, da sind wir an der Ecke der Wilhelminenstraße, und jetzt wendet sie sich nach links, – ganz der Weg, den die alltägliche Moral mir vorzeichnen müßte. Am Ende ist sie eine von den schönen Engländerinnen in Nummer 20, die ich bereits drei- oder viermal durch mein Taschenteleskop zu bewundern die Ehre hatte. Das wäre in der That ein höchst pikantes Zusammentreffen! Wenn sie nur nicht so verteufelt liefe, – daß ich ihr einmal en passant ins Gesicht sehen könnte. Aber sie scheint instinktiv zu fühlen, wie sehr sie mein Herz entzündet hat, und so scheut sie sich wohl vor einem Rencontre. Verdammt, daß der Weg an meiner Wohnung vorüberführt. Es wäre mir doch unangenehm, wenn Josephine … und wer garantirt mir dafür? Bei Mondschein sitzt sie oft stundenlang am Fenster und vertieft sich in die wundersamen Lichtspiele … Heute freilich ist sie beschäftigt …
Aber was sehe ich? Bin ich von Sinnen? Da hüpft mein bezauberndes Räthsel in meine Hausflur und eilt meine Treppe hinan. Um aller Heiligen willen, was habe ich angestellt? Gewiß eine gute Freundin Josephinens, die mich erkannt hat und mich nun in flagranti verklagen will. Soll ich ihr folgen? Oder ist es rationeller, so schnell als möglich umzukehren? Aber nein, das wäre eine Schwäche, die den Edlen entwürdigt. Was kann sie überdies sagen? Es ist nur zu begreiflich, daß ich den nächsten und bequemsten Weg nach meiner Wohnung einschlage, und die Straße ist Gemeingut. Nein, sie würde sich mit der geringsten Andeutung nur lächerlich machen; sie muß etwas anderes in Petto haben; also vorwärts!
Ich stürme ihr nach. Die Corridorthüre hat sich inzwischen bereits geschlossen. Ich klingle. Man öffnet mir. Und wer öffnet mir? Vor mir steht, in dem malerisch drapirten Tuchpaletot, in dem stahlblauen Promenadenkleide, das kleine Packet in der Hand, das sie auf der Straße getragen – meine Frau!
Sie schaut mir mit einem unbeschreiblich schelmischen Ausdruck ihrer dunkelbraunen Augen ins Angesicht, wünscht mir »Guten Abend«, und eilt dann, mir nochmals herzlich zunickend, in ihr Zimmer.
Keines Wortes mächtig, starre ich ihr nach; dann entledige ich mich stumm und geräuschlos meines Überziehers, schleiche in mein Gemach und werfe mich in den Lehnstuhl. Die Hände über der Brust gefaltet, suche ich mir meine lehrreichen Erlebnisse zurecht zu legen. Nur ungern gestehe ich mir's, aber die Wahrheit bricht schließlich durch: ich bin wüthend, wüthend auf mich, wüthend auf Josephine, wüthend auf meine künstlerischen und nicht künstlerischen Bestrebungen, wüthend auf alles Bekannte und Unbekannte. Ich habe mich vor meiner eigenen reinen Vernunft so colossal blamirt, daß ich nicht weiß, ob ich jemals wieder in der Lage sein werde, mir die volle ursprüngliche Hochachtung zu zollen. Mein ganzes Ich verfällt in einen Zustand moralischer Zerrissenheit; ich möchte mich ohrfeigen.
Da legt sich ein Arm um meinen Nacken, zwei frische blühende Lippen senken sich auf die meinen, und eine weiche Hand streichelt mir wie beschwichtigend über die Stirne.
Der seltsame Bann ist gelöst. Noch immer verlegen, gewinne ich doch allgemach mein seelisches Gleichgewicht wieder. Josephine erwähnt das Vorgefallene mit keiner Silbe, aber ich sehe es ihrem schalkhaften Lächeln an, daß sie meine ganze Thorheit durchschaut hat.
Zwei Tage später überrascht sie mich mit den Früchten ihres improvisirten Abendganges. Ein reizendes Geburtstagsgeschenk, viel sinniger und liebenswürdiger, als es ein Mann verdient, der die poetischen Anregungen außer dem Hause sucht. Ich schließe Josephine an mein Herz und schwöre mir insgeheim, mich nie wieder von den Launen einer selbstbetrügerischen Verstimmung gängeln zu lassen. Der erste Versuch einer unerlaubten Romantik ist zu schmachvoll mißglückt, als daß ich Lust verspürte, mich zum zweiten Male auf's Glatteis zu wagen.
Der alte Schreiber
Eine Studie nach der Natur
Mein Onkel Feodor war Rechtsanwalt in einer mitteldeutschen Provinzialstadt. In den letzten Jahren seines Lebens, als die einst so blühende Advocatur merklich zur Neige ging, beschäftigte er einen Scribenten mit Namen Trendler. Ich weiß nicht, ob der würdige Federheld noch lebt. Sollte er indeß die folgenden Zeilen zu Gesicht bekommen, so wird er gewiß einem strebsamen Collegen, der bei seinen indiscreten Studien die edelsten Zwecke verfolgt, die scheinbare Profanation zu Gute halten und lächelnd vor sich hinmurmeln: »Ja, ja, das bin ich!«
Also in medias res!
Über den Dachfirsten der Provinzialstadt leuchtet ein kalter, klarer Wintermorgen. In den beschneiten Straßen erblickt man nur hin und wieder einen eilfertigen, theatralisch vermummten Barbier oder eine blaugefrorene Köchin.
Es schlägt neun. Mein Onkel sitzt bereits seit einer Stunde bei der Arbeit. Der lodernde Ofen verbreitet eine erquickliche Wärme. Die lange Pfeife läßt ihre blauen Rauchkringel, wie Opferdüfte, zur angegrauten Decke emporsteigen. Auf dem eichengeschnitzten Schreibtisch herrscht eine gemüthliche Unordnung. Da prangt die chemische Zündmaschine neben dem Petschaftkasten; die Wasserflasche neben dem gestickten Hauskäppchen; die goldene Repetiruhr neben dem bunten Fidibusbecher. Die halbgeleerte Tasse steht dem Arbeitenden zur Linken. Eifrig raschelt die Feder über das dicke Conceptpapier.
Da öffnet sich die Thüre. Ein röthliches Antlitz, dessen Züge etwas vom Geier haben, erscheint in der Spalte. Es ist Herr Trendler. Mit gekniffenen Äuglein mustert er das Zimmer. Dann tritt er zwei Schnitte vor und spricht mit klangloser Stimme:
»Guten Morgen, Herr Justizrath!«
Mein Onkel wendet den Kopf.
»Sie kommen wieder eine halbe Stunde zu spät, Trendler. Wie oft soll ich Ihnen sagen, daß ich die Pünktlichkeit liebe?«
»Entschuldigen Sie, Herr Justizrath, ich hatte mich gestern etwas später zu Bett gelegt, weil ich noch den Bericht an das königliche Obertribunal erledigen wollte …«
Trendler beginnt nun seinen Paletot auszuziehen. Er versucht es zunächst mit dem linken Ärmel. Auf der Hälfte des Weges erfaßt ihn die Reue. Er tritt auf der linken Seite den Rückweg an, und wirft sich auf die rechte. Nach einigem Zögern kommt er mit der Entkleidung zu Stande, und verfügt sich nun, den Überzieher sorgfältig an der Schlinge haltend, nach dem Nagel, wo er ihn langsam aufhängt, – nicht ohne zuvor einige imaginäre Stäubchen von dem schadhaften Sammetkragen hinweg zu blasen. Der aufgehängte Paletot wird mit zärtlicher Hingebung drapirt … Die Außenseite muß nach innen gekehrt und vor jeder Berührung mit der atmosphärischen Luft aufs Peinlichste geschützt und geschirmt sein …
Nach befriedigender Lösung der Paletot-Frage kommt die Reihe an den Rock. Unter den nämlichen Manövern, die wir beim Überzieher wahrnahmen, vertauscht Herr Trendler diesem Unter-Kleidungsstück mit seinem sturmerprobten Amt- und Dienstkittel. Ist auch diese Metamorphose beendet, so hustet er dreimal mit steigender Heftigkeit und zieht das Taschentuch, um sich zu schneuzen.
»Nun, Trendler, wird's bald?« fragt mein Onkel stirnrunzelnd.
»Entschuldigen Sie, Herr Justizrath, ich wollte mich nur schneuzen, mit Respect zu vermelden. Ich habe einen starken Stockschnupfen, seit letzthin das Wetter so umgeschlagen hat!«
Mein Onkel arbeitet weiter.
Trendler begiebt sich in gemessenem Menuettschritt nach dem Ofen, ergreift die Feuerzange, und wühlt in den Bränden.
»Donnerwerter, machen Sie doch keinen solchen Rauch!« ruft mein Onkel ärgerlich. »Das Feuer brennt, – was haben Sie also dran herumzustochern?«
»Verzeihen Sie, Herr Justizrath, ich dachte nur, wenn man das Feuer nicht rechtzeitig schürt, so könnte es ausgehen. Erlauben Sie vielleicht, daß ich so ein kleines Klötzchen auflege?«
»Gut, so legen Sie auf, aber schnell! Sie haben da Ihren ganzen Tisch voll Arbeit!«
»O, damit wollen wir schon fertig werden, was das anbelangt …«
Er bläst in die Flammen. Der Qualm schlägt ihm ins Gesicht. Er schließt die Ofenthür und tritt an den Spiegel.
»Nun, was giebt's?« fragt mein Onkel.
»Ach, Herr Justizrath, nehmen Sie's nicht übel, es ist mir was ins Auge gekommen … Gleich hab' ich's … so … Wie das einen genirt, man sollt's nicht glauben! … Au, au …! Das ganze Auge ist roth davon …!«
»Trendler! Der Teufel holt Sie, wenn Sie jetzt nicht an die Arbeit gehen! Wenn Sie was am Ofen auszusetzen haben, so rufen Sie die Magd!«
»Schön, Herr Justizrath.«
Er öffnet die Stubenthüre.
»Therese! Therese!«
»Das zieht ja zum Tollwerden!« zürnt der alte Herr in wachsendem Mißmuth. »Wollen Sie augenblicklich zumachen! …«
»Die Magd scheint nicht da zu sein,« versetzt der Schreiber. »Ich will mal nachsehen!«
Er begiebt sich nach der Küche. Drei, vier, fünf Minuten verstreichen. Endlich erscheint die rothe Physiognomie wieder auf der Schwelle.
»Die Magd ist nach dem Wochenmarkt gegangen,« stammelt er mit einem Lächeln der Genugthuung. »Da muß ich wohl selbst Hand anlegen, Herr Justizrath.«
Mein Onkel antwortet nicht.
Trendler verfügt sich wieder an den Ofen. Er klappert und rasselt, und rasselt und klappert, bis das Feuer glücklich verloschen ist.
»Ich komme doch nicht so recht zu Stande damit, wenn man's bei Licht betrachtet. Wir müssen warten, bis die Therese vom Markt zurückkommt.«
»Sie sind der größte Esel, der mir jemals in meiner Praxis aufgestoßen.«
»Aber, Herr Justizrath …«
»Setzen Sie sich! Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu discutiren.«
Schmollend faßt er auf seinem Stuhle Posto. Noch einmal muß das Schnupftuch für die Unbilden der Witterung büßen. Hierauf durchsucht er sämmtliche Taschen der Weste, des Rocks und der Beinkleider. In der letzten findet er den Schlüssel zur Schublade seines Schreibtisches.
Er betrachtet das eiserne Instrument von allen Seiten. Dann bläst er einige Sonnenstäubchen aus dem Loch über dem Kamme und veranlaßt dadurch einen gellen Pfiff.
»Was fällt Ihnen bei, Trendler? Wiederholt sich denn bei Ihnen jeden Tag dasselbe Possenspiel?«
»Um Vergebung, Herr Justizrath, aber diesmal thun Sie mir Unrecht. Wenn sich nämlich das Loch am Kamme verstopft, so geht mehrstentheils das Schloß nicht.«
Langsam öffnet er die Schublade und nimmt zwei tintenbeklexte Schreibärmel, zehn Gänsekiele und ein doppelklingiges Federmesser heraus. Sämmtliche Gegenstände breitet er sorgfältig vor sich hin. Er befolgt dabei die Regeln der Symmetrie und des goldnen Schnitts.
Plötzlich springt er vom Sitz empor und eilt nach der Thüre.
»Was giebt's?«
»Ich will einmal sehen, ob die Friederike heimgekommen ist. Mir war's, als hätte ich klingeln hören.«
»Dummes Zeug! Bleiben Sie bei der Arbeit!«
Trendler setzt sich nieder und ergreift einen der beiden Schreibärmel. Er nestelt am Zuge. Die Schnur will nicht weichen. Nach einer andauernden Bemühung von fünf Minuten gelingt es ihm, den Knoten zu lösen. Die Schiene rutscht knisternd über den Arm und wird mit vieler Accuratesse befestigt.
Der zweite Ärmel erfordert eine geringere Anstrengung. Schon nach drei Minuten sitzt er wie angegossen.
Es schlägt halb zehn.
Trendler reibt sich im Bewußtsein, sehr glücklich debütirt zu haben, die Hände und zieht die Tabaksdose hervor. Sechs- oder achtmal schlägt er geräuschvoll auf den Deckel. Dann öffnet er, schüttelt den Inhalt von einer Seite nach der andern und spitzt die Finger zur Prise. Plötzlich besinnt er sich eines Besseren. Er muß im Heiligthum der Dose einen fremden Gegenstand entdeckt haben. Das rothe Geiergesicht beugt sich vor; die kurzsichtigen Äuglein beblinzeln den Tabak aus allen Richtungen der Windrose. Eine Minute verrinnt in prüfender Beschaulichkeit. Er nickt, als habe er den mikroskopischen Eindringling erkannt, setzt die Dose bedächtig auf den Tisch nieder und ergreift mit siegesgewisser Miene das zweiklingige Federmesser. Die Klinge springt auf und wird, wie um ihre Elasticität zu erproben, zwei-, dreimal auf die Tischplatte gedrückt. Dann stöbert das Metall zwei Minuten lang in der gepulverten Nießwurz herum und spießt endlich eine todte Fliege, die nach genauer Inspection unter den Stuhl geworfen wird. Jetzt erst hält sich Trendler für berechtigt, eine Prise zu nehmen; vorher wischt er indeß die Klinge des Messers mit sorglicher Peinlichkeit am Ärmel ab.
Die Dose wird wieder geschlossen und neben das Tintenfaß gestellt.
Trendlers Blick gleitet nun nach dem Fenster. Die Scheiben sind stark beschlagen. Er erachtet es für geboten, das auf der Rampe liegende Tuch zu benutzen. Die Klärung gelingt.
Aber es zieht! Das Fenster scheint heute wieder gar nicht zu schließen. Auch hier muß das Wischtuch abhelfen. Es wird der Länge nach unten vor die Ritze gelegt.
»So!«
Es schlägt drei Viertel.
Trendler wendet sich nunmehr seinen Federn zu. Er dreht sie zehn- bis zwölfmal hin und her und wählt dann eine graue, großfasrige, starkposige Prachtfeder.
Das zweiklingige Messer wird abermals betreffs seiner Elasticität geprobt. Dann beginnt die Procedur des Schneidens.
Zunächst wird der Kiel der Länge nach geschabt. Dann zimmert der blanke Stahl nach streng-architektonischen Gesetzen den Rohbau der Spitze. Diese unvollendete Spitze wird fünfzigmal befühlt und betrachtet und schließlich auf dem Nagel des linken Daumens gespalten.
Ist die Spalte gelungen, so ruht sich Trendler ein wenig aus: denn jetzt fängt erst die eigentliche künstlerische Aufgabe an, und zu jeder vollkommenen Leistung bedarf man der Sammlung.
Neu gekräftigt geht der wackre Scribent an die Krönung des Gebäudes. Hundertmal hält er den Kiel gegen das Licht; hundertmal probirt er mit der Zungenspitze, ob der gewünschte Grad der Vollendung erreicht ist. Er schnitzelt und raspelt und kratzt und glättet, als handle es sich um die Darstellung eines Prototyps, einer »Feder an sich«, wie der Philosoph sagen würde. Die immer fester zusammengekniffenen Augenlider verleihen seinem Antlitz etwas Denkerhaftes! Wüßte ich nicht, daß es der Schreiber meines Onkels ist, den ich da vor mir sehe, so würde ich ihn für einen Professor der Metaphysik halten.
Endlich! Ein breites Lächeln übergießt die Geierphysiognomie wie mit den Fluten eines rosigen Sonnenscheins! Verstünde er Griechisch, er würde »Heureka!« ausrufen! Schwer aber glücklich!
Noch achtmal wiederholt sich diese umständliche Comödie. Dann ordnet Trendler die Geschnittenen nach dem Grundsatze der Anciennität, und legt das Messer neben die Schnupftabaksdose.
Es schlägt halb elf.
Trendler wendet sich nunmehr dem Papier zu. Er sucht und blättert in den unbeschriebenen Folioheften herum, als forsche er nach einer hochwichtigen Stelle im Corpus Juris. Die Wahl scheint ihm Qual zu machen. Er schließt bald das eine Auge, bald das andere, – nach Art raffinirter Kunstfreunde, die ein Gemälde betrachten. Dann kehrt er die Mappe um, als müsse ihm die endgiltige Entscheidung so besser gelingen. Er streichelt die Bogen, wie der Kenner ein Pferd streichelt. Gott weiß, was ihn schließlich veranlaßt, eines der Hefte an die Nase zu führen und es nachdenklich zu beschnüffeln. Nach fünf Minuten ist er mit sich und dem Papier einig … Die Mappe wird schreibgerecht ausgebreitet, die Bogen erhalten ein paar Daumenstriche … Trendler ist Meister in der kunstgemäßen Anwendung dieses natürlichen Falzbeins … So!
Es ist inzwischen empfindlich kalt geworden. Der alte Herr beginnt zu frieren.
»Trendler,« sagt er unwillig, »Sie haben richtig das Feuer ausgemacht! Rufen Sie die Magd!«
»Schön, Herr Justizrath. Therese, Therese!«
Die Dienerin erscheint in der Pforte, und beeilt sich die verglimmenden Kohlen wieder anzufachen.
Trendler schaut ihren Bemühungen andächtig zu.
»Was gaffen Sie da? Ich wette, Sie kommen auch heute nicht mit der vermaledeiten Klage zu Stande. Drei Tage kauen Sie jetzt schon an den paar Bogen.«
»Um Vergebung, Herr Justizrath; ich wollte mich nur überzeugen …«
»Schweigen Sie und setzen Sie sich!«
Die Magd verläßt das Zimmer. Trendler faßt wieder Posto. Er holt das Concept hervor, das er zu copiren gedenkt. Es währt geraume Zeit, bis er enträthselt hat, wo er gestern stehen geblieben. Endlich kommt er auch über diesen Punkt ins Klare … Er bezeichnete die betreffende Stelle durch das daraufgelegte Federmesser, und holt den letzten Bogen der in Arbeit befindlichen Reinschrift aus der Mappe …
Jetzt könnte Herr Trendler mit Gottes Hilfe ans Werk gehen! So spricht der leichtsinnige Leser! Sein ungründliches Gemüth vergißt, daß zur gedeihlichen Handhabung der Feder eine tadellos gebraute und gereinigte Tinte erforderlich ist! Ehe sich Herr Trendler vergewissert hat, daß in dieser Beziehung alles in Ordnung ist, kann die eigentliche Arbeit nicht ihren Anfang nehmen. Ist es nicht etliche Mal vorgekommen, daß des Herrn Justizrath böswilliger Neffe dem armen Herrn Trendler Sand, Oblaten, oder leichten Canaster No. 5 in das Tintenfaß geworfen? Vorsicht ist also nirgends mehr am Platze, als Angesichts dieses mehrfach mißhandelten Tintenfasses. Soll die musterhafte Spitze der »grauen, starkposigen Prachtfeder« gleich beim ersten Einstippen ruinirt werden?
Trendler nimmt sein Rühr- und Probirhölzchen und taucht es hinab in die dunkle Tiefe. Es geht glatt. Von Sand keine Spur, ebensowenig von Tabak oder Oblaten. Trendler läßt die schwarzen Tropfen langsam vom Stäbchen niederträufeln. Die Tinte ist klar. Vielleicht ein bischen zu dicklich …
Er nimmt eine seiner frischgeschnittenen Federn, leckt sie, füllt sie und schreibt zur Probe zwei Zeilen auf den Linienbogen.
»Hm! Ein wenig Wasser könnte nicht schaden!« murmelte er vor sich hin, und erhebt sich, um die Caraffe zu holen.
Vorsichtig gießt er ein. Dann rührt er von neuem mit dem zierlichen Hölzchen, und macht einen zweiten Versuch auf dem Linienbogen.
»Viel zu blaß!« sagte er kopfschüttelnd.
»Was?« fragt mein Onkel.
»Ach, entschuldigen Sie, Herr Justizrath, die Tinte ist zu blaß. Wollten Sie mir nicht gefälligst den Schlüssel zur Tintenflasche geben?«
»Ich weiß nicht, was Sie an der Tinte auszusetzen haben. Der Schlüssel liegt drüben auf dem Büchergestell rechts.«
Trendler geht nach dem Büchergestell und sucht.
Nach zwei Minuten:
»Herr Justizrath, der Schlüssel ist nicht da!«
»Rechts auf dem Brett! Thun Sie die Augen auf!«
Abermals verstreicht eine längere Frist.
»Da liegt ein Schlüssel, Herr Justizrath, aber es will mich bedünken, als wär' das nicht der Schlüssel zum Eckschrank, wo die Tintenflasche steht!«
»Esel!«
»Was meinen Sie, Herr Justizrath?«
»Heilige Kreuzschockmillionendonnerwetter, lassen Sie Ihr ewiges ›Herr Justizrath‹, und beeilen Sie sich!«
»Wenn Sie meinen, das wär' der Schlüssel …«
»Freilich ist er's!«
»Er kam mir nur so vor, als ob der Kamm größer wäre. Er wird's aber wohl sein, Herr Justizrath.«
Er wandert nach dem Eckschrank, öffnet und nimmt mit zögernder Bedächtigkeit die Flasche heraus.
Das Tintenfaß wird vollgeschüttet, die Flasche wieder eingeschlossen, der Schlüssel aufs Bücherbrett gelegt. Abermals arbeitet das Probirhölzchen, abermals stellt die Feder ihr Examen an. Diesmal lautet der Urtheilsspruch des würdigen Scribenten auf genügend.
Er rückt nochmals die Mappe zurecht, berührt alle Gegenstände, die vor ihm ausgebreitet liegen, drei- oder viermal mit der flachen Hand, und taucht dann den Kiel frisch und fröhlich in die dunkle Flut.
Trendler hat nicht bedacht, daß er das Faß bis zum Rande gefüllt. Die Feder, anderthalb Zoll weit mit Tinte getränkt, weint auf das jungfräuliche Papier einen großen, rundlichen Klex.
Trendler ist nicht der Mann, sich durch eine solche Kleinigkeit aus der Fassung bringen zu lassen. Mit philosophischem Gleichmuth ergreift er das Sandfaß, bestreut die Lache mit einer mächtigen Trockenschicht, und hebt so den ganzen Klex bis auf einen grauschwarzen Fleck vom Bogen ab. Dann erfaßt die Rechte das mehrfach genannte Messer, läßt die Radirklinge herausspringen, und beginnt in sanftem Adagio zu schaben. Allgemach wird die Musculatur Trendler's lebhafter. Das Adagio verwandelt sich in ein sehr taktfestes Allegro. Deutlich unterscheiden wir die Melodie des bekannten Volksliedes:
»Mädele, ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite …«
Mein Onkel wird aufmerksam. Prüfend hebt er das kluge, graue Auge. Eine Minute lang steht er dem musikalischen Radirkünstler ruhig zu. Ein Lächeln fliegt über seine sonst so ernsten Züge.
»Trendler,« sagt er mit fast väterlicher Milde, »Sie sind ein Kindskopf! …«
Der Scribent fährt aus seinen Träumen empor.
»Was befehlen der Herr Justizrath?«
»Ich wünsche, daß Sie Ihre Spielereien lassen!«
»Aber, entschuldigen Sie, ich spiele nicht, ich radire. Die Tinte fleckt so.«
Mein Onkel wendet sich kopfschüttelnd zu seinen Akten.
»Es geht nicht länger mit dem Menschen,« murmelt er vor sich hin. »So leid mir der arme Teufel thut, ich muß ihm den Laufpaß geben!«
Dieser Monolog fließt nicht heute zum ersten Mal über die Lippen des alten Herrn. Zehnmal war er bereits entschlossen, Herrn Trendler zu verabschieden, und zehnmal hat die wohlwollende Gutmüthigkeit seines Herzens den Sieg davon getragen.
Trendler hat inzwischen den Bogen glücklich durchradirt. Er läßt sich jedoch auch durch dieses Mißgeschick nicht aus dem Gleichgewicht werfen. Freilich hat er jetzt noch anderthalb Seiten mehr zu copiren, aber das thut nichts. Trendler erhält seine monatliche Gage von vierzig Gulden eben so pünktlich, wenn er hundert Bogen zu Stande bringt, als wenn er deren zwölfe liefert! Er hat ja Zeit!
In diesem Augenblick ertönt Musik von der Straße. Trendler ist, wie oben bemerkt, musikalisch. Schmunzelnd horcht er auf. Leise wiegt er das Haupt nach den Klängen des rauschenden Marsches. Es ist das siebzehnte Jägerregiment, das nach dem Bahnhofe zieht. Die Stadt erwartet irgend eine hoch- oder höchstgestellte Persönlichkeit zum Besuch, ich glaube einen Schwarzburg-Rudolstädtischen Prinzen. Trendler kann es nicht über sich gewinnen, – er muß durch das Fenster blinzeln. Schmucke Gesellen, diese Jäger! Wie die blanken Waffen in der Sonne blitzen! So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage …
Das Regiment ist vorbeimarschirt; die Musik hallt nur noch, wie ein ersterbendes Echo, aus der Ferne. Trendler geht wieder an sein Manuscript.
Gott sei Dank! Der erste Federstrich! Trendler fühlt sichtlich die Bedeutsamkeit dieses Momentes, denn er belohnt sich alsbald durch ein frisches Glas Wasser und eine stoffreiche Prise.
Weiter, weiter! Der Kiel malt langsam die fingerlangen Buchstaben. Zwei Zeilen sind leserlich zu Papier gebracht.
Da klopft es an die Thüre.
Es ist ein Client, ein Bauer aus dem benachbarten Hochlande …
Trendler springt auf, um dem Eintretenden einen Stuhl herbeizuschleppen.
»Bleiben Sie nur bei Ihrer Arbeit!« sagt der alte Herr, indem er den Gruß des Bauern erwidert … »Was bringen Sie?«
Der Client setzt sein Anliegen auseinander. Trendler hört mit gespannter Aufmerksamkeit zu und kaut an der großposigen Prachtfeder.
»Warum schreiben Sie nicht?«
»Ich besann mich nur, ob … ob ›competent‹ mit einem harten oder weichen T geschrieben wird. Es ist nicht recht zu erkennen im Concept.«
»Mit T wird's geschrieben! Und jetzt stören Sie mich nicht! Sie sind unausstehlich, Trendler!«
Der Scribent beugt sich über die Mappe und schreibt etwa eine Seite. Dann legt er plötzlich die Feder über das Tintenfaß und reibt sich heftig die linke Kniekehle. Der Tisch wackelt. Ein Bleistift und ein Lineal fallen zu Boden.
»Was ist denn nun wieder los?« fragt der Justizrath.
»O, bitte sehr,« stammelt der Schreiber, … »ein Privatverhältnis … das Bein war mir nur ein bischen eingeschlafen.«
Nach einigen Minuten scheint der Schläfer erwacht zu sein. Trendler schreibt weiter. Mein Onkel verhandelt mit dem Bauern über den noch unverständlichen Rechtsfall und explicirt ihm eben, daß er vor allen Dingen die und die Beweisstücke beibringen müsse, als Trendler abermals aufspringt, und, das Concept in der Linken, den Zeigefinger der Rechten fest auf einen lateinischen Passus gepreßt, auf den alten Herrn eindringt und mit zwinkernden Äuglein fragt:
»Verzeihen Sie gütigst, Herr Justizrath, wie soll das heißen …? Judex a … a …?«
»A quo,« ergänzt mein Onkel. »Hundertmal haben Sie das Wort schon geschrieben! …«
Es schlägt halb zwölf. Der Bauer verabschiedet sich. Trendler trinkt ein weiteres Glas Wasser und beendet glücklich die dritte Seite. Dann streicht er sich das Haar aus der Stirn, räuspert sich und beginnt also:
»Nichts für ungut, Herr Justizrath, aber wenn Sie heute ausnahmsweise für den speciellen Fall einmal freundlichst gestatten wollten, ein wenig früher aufzuhören, so hätte ich heute nämlich einmal gerade ausnahmsweise Besuch, indem meiner Schwester Sohn aus Hirzenheim zufällig gestern Abend hier eingetroffen ist und nur bis morgen da bleibt, wegen des Schweinemarktes, und sonst könnt' ich ja auch die Klage da heut' Nachmittag fertig schreiben, wenn Sie freundlichst erlauben.«
»Meinetwegen! Machen Sie, daß Sie fortkommen!«
Trendler zieht die Schreibärmel aus, packt ein, hängt den Kittel an den Nagel und wirft sich in Rock und Paletot.
»Wenn Sie sonst noch was zu befehlen haben, Herr Justizrath,« sagt er, den Hut in der linken Hand, den Stock in der rechten.
»Nein, nein, nein! Lassen Sie mich nur jetzt ungeschoren, ich bin beschäftigt!«
»So wünsch' ich recht guten Appetit, und bedanke mich! Herr Justizrath, auf Wiedersehn!«
Er verschwindet mit devotem Bückling. Nach anderthalb Minuten erscheint er von Neuem.
»Um Vergebung, ich hatte den Schlüssel stecken lassen. Sie wissen ja, Herr Justizrath, – es ist von wegen Ihren werthen Herren Neffen. Nichts für ungut, und somit empfehl' ich mich!«
»Einfältiger Schwätzer, geh' zum Teufel!« brummt der alte Herr im Tone des höchsten Verdrusses. Trendler aber geht zu seiner Schwester Sohn, der ihn im »Adler« beim Bier erwartet.
Seitdem habe ich manchen Trendler bei der Arbeit gesehn, – und stets mußte ich des Schreibers meines guten Onkels gedenken. …
Und dann las ich allerlei fulminante Artikel über die sociale Frage, über das Verbrechen des Capitals und die offenen und geheimen Schäden der modernen Weltordnung.
Meisterhaft! raunte mein Genius … Der Gedanke, die Gesellschaft zu reorganisiren, ist unsterblich, und des Schweißes der Edlen werth. Aber die Edlen versäumen die unerläßlichste Vorarbeit; eine statistisch-philosophische Studie über den Einfluß Trendler's auf die materielle Lage der Arbeiter …
Mein Onkel war ein durchaus liberaler, fortschrittlich gesinnter Mann.
Als Trendler ihn jedoch eines Tages um Lohnerhöhung anging, da warf er ihn vor die Thüre. Stand diese Handlungsweise mit dem Geiste des neunzehnten Jahrhunderts im Widerspruch? Die Leute vom Fach werden antworten!