Kitabı oku: «Ligeia und andere Novellen», sayfa 3
MORELLA
Αυτο καθ’ αυτο μεθ’ αυτου, μονο ειδες αιει ον.
Plato, Symposion
Ein Gefühl tiefer, jedoch höchst seltsamer Zuneigung verband mich mit meiner Freundin Morella. Ein Zufall war’s, der mich vor vielen Jahren mit ihr zusammenführte, aber seit unserer ersten Begegnung brannte meine Seele in fremder, entfesselter Glut. Das war nicht die Flamme des Eros, das war ein seltsam wilder Seelenbrand, und bitter und qualvoll war meinem Geist die wachsende Überzeugung, daß ich das rätselhafte Wesen dieser Gluten auf keine Weise zu ergründen noch ihr Aufflammen und Niedersinken zu beherrschen vermochte.
Und das Schicksal, das uns zueinander geführt hatte, band uns am Altar zusammen. Doch sprach ich nie ein Wort, das Leidenschaft gewesen wäre, dachte nie einen Gedanken, der Liebe bedeutet hätte. Morella aber floh jede Geselligkeit und schloß sich innig an mich an und machte mich glücklich – denn Staunen und Träumen ist Glück.
Morellas Gelehrsamkeit war unergründlich. Bei meinem Leben! ihre vielseitige Begabung war geradezu übernatürlich – ihre Verstandeskräfte waren gigantisch! Ich wußte das und wurde in vielen Dingen ihr Schüler. Es begann damit, daß sie mir eine Anzahl jener mystischen Schriften vorlegte, die man gemeiniglich nur als den Abschaum der frühen deutschen Literatur ansieht. Das Studium dieser Werke bildete – aus mir unverständlichen Gründen – ihre liebste und andauernde Beschäftigung, und daß es auch die meine wurde, ist einfach dem unwiderstehlichen Einfluß von Beispiel und Gewohnheit zuzuschreiben.
Mit alledem hatte, wenn ich nicht irre, mein Verstand wenig zu schaffen. Soviel ich weiß, stimmte meine Weltanschauung durchaus nicht mit den Idealen dieser Leute überein, und auch in meinem Tun und Denken war keine Spur von ihrem Mystizismus zu entdecken. Ich wenigstens hatte diese Überzeugung und überließ mich daher ruhig und blindlings der Führung meiner Frau, der ich unerschrocken in allen ihren Studien folgte. Und dann – dann, wenn ich, über geächtete, verderbliche Blätter gebeugt, fühlte, wie ein verderblicher Geist sein Feuer in mir entzündete, kam Morella und legte ihre kalte Hand auf meine heiße Hand und entfachte aus der Asche einer toten Philosophie irgendwelche fast bedeutungslosen, doch eigentümlichen Worte, deren seltsamer Sinn sich flammend in mein Gedächtnis grub. Und dann – dann ging ich Stunde um Stunde nicht von ihrer Seite und berauschte mich am Wohlklang ihrer Stimme, bis diese mir zum Überdruß und schließlich zum Entsetzen wurde und schwarze Schatten sich auf meine Seele lagerten und bis ich erbleichte und tief im Innern vor den fast überirdischen Lauten schauderte. Und so wurden plötzlich Glück und Freude zu Entsetzen und namenlosem Abscheu, und Schönheit weckte Grauen, so wie einst aus dem Tale Hinnom das Gehenna geworden war.
Es ist unnötig, über die einzelnen Probleme, die jene alten Bücher in uns anregten und die lange, lange Zeit fast das einzige Thema unserer Gespräche bildeten, viel zu sagen. Alle die, welche etwas von „theologischer Moral“ verstehen, kennen diese Fragen gut, und jene, die darin unerfahren sind, würden mich sicherlich kaum verstehen. Der wilde Pantheismus Fichtes, die gemäßigtere Lehre der Pythagoräer von der Wiederkunft und vor allem die Identitätsdoktrinen, wie Schelling sie aufstellte, bildeten den hauptsächlichsten Stoff für unsere Diskussionen und schienen die phantasievolle Morella am tiefsten und schönsten anzuregen. Jene sogenannte persönliche Identität definiert Locke, wie ich glaube, als das dauernde Bestehen eines jeden vernunftbegabten Daseins. Und da wir unter „Person“ ein intelligenz- und vernunftbegabtes Wesen verstehen und da alles Denken stets von Bewußtheit begleitet ist, so formt dieses beides gemeinsam unser „Ich“ und unterscheidet uns durch Verleihung unserer „persönlichen Identität“ von anderen denkenden Wesen. Doch das „principium individuationis“, der Begriff dieser Identität, die mit dem Tode verloren oder nicht verloren geht, war mir stets ein Problem von außerordentlicher Bedeutung, nicht allein wegen seiner verwirrenden und aufregenden Konsequenzen, sondern auch wegen der sonderbaren und eifrigen Art und Weise, in der Morella es behandelte.
Doch die Zeit war gekommen, in der das Geheimnisvolle im Wesen meines Weibes mich wie ein Alp, ein Zauber bedrückte. Ich konnte die Berührung ihrer bleichen Finger nicht ertragen, ich konnte den sanften Klang ihrer tönenden Sprache, den Glanz ihrer melancholischen Augen nicht ertragen. Und sie wußte all dies und hielt es mir doch niemals vor. Sie schien meine Schwäche, meine Manie zu kennen und nannte es lächelnd „Schicksal“. Selbst die mir unbekannte Ursache für meine sich steigernde Abneigung schien sie zu kennen, doch machte sie nie eine Andeutung, die mir auf die Spur geholfen hätte. Aber sie war Weib und härmte sich und schwand hin und welkte von Tag zu Tag. Mit der Zeit erschien und blieb auf ihren Wangen eine bedeutungsvolle Röte, und die blauen Adern auf ihrer bleichen hohen Stirn schwollen an. Und wenn mein Wesen für einen Augenblick in Mitleid schmolz, so traf mich im nächsten das Aufleuchten ihrer bedeutsamen Augen – und meine Seele entsetzte sich und wurde von einem Schwindel ergriffen, wie er uns befällt, wenn wir hinab in einen grausig düsteren, unergründlichen Abgrund spähen.
Muß ich noch sagen, daß ich mit tiefem, aufreibendem Verlangen die Stunde von Morellas Ableben herbeiwünschte? Ich tat es. Aber der schwache Geist klammerte sich noch Tage, Wochen, Monate an seine zerbrechliche Hülle, und es kam so weit, daß meine gemarterten Nerven Herrschaft über mich gewannen. Dies Hinzögern machte mich rasend, und mein teuflisches Herz verfluchte die Tage und die Stunden und die bitteren Minuten, die länger und länger zu werden schienen, je mehr ihr zartes Leben dahinschmolz, wie Schatten länger und länger werden im sterbenden Tag.
Aber eines Herbstabends, als alle Winde im Himmelsraum schliefen, rief mich Morella an ihr Bett. Ein trüber Nebel lagerte über der Erde und ein warmer Glanz auf den Wassern, und die Farben des herbstlichen Waldes glühten so bunt, als sei ein Regenbogen vom Firmament herabgefallen und in Millionen bunte Scherben zersplittert. „Dies ist der Tag der Tage“, sagte sie, als ich zu ihr trat. „Der Tag der Tage – sei es zum Leben oder Sterben. Ein schöner Tag für die Söhne der Erde und des Lebens – ah, schöner noch für die Töchter des Himmels und des Todes!“
Ich küßte sie auf die Stirn, und sie fuhr fort:
„Ich sterbe, dennoch werde ich leben!“
„Morella!“
„Die Tage, da du mich lieben konntest, sind nie gekommen – doch sie, die du im Leben verabscheutest – im Tode sollst du sie anbeten.“
„Morella!“
„Ich wiederhole es – ich sterbe. Doch in mir lebt ein Unterpfand der Neigung, die du – ach wie gering! – für mich, Morella, fühltest. Und wenn mein Geist entflieht, wird das Kind leben – dein Kind und meines, Morellas! Doch deine Tage werden Tage der Sorge sein – der Sorge, die beständiger ist als alles andere, gleichwie die Zypresse ausdauernder ist als alle anderen Bäume. Denn die Stunden deines Glückes sind vorüber, und Freude erblüht nicht zweimal im Leben, nicht zweimal, wie die Rosen von Paestum zweimal blühen im Jahre. Rebe und Myrte werden dir unbekannt sein, und du wirst, gleich den Moslemin in Mekka, auf Erden schon dein Leichentuch mit dir herumtragen.“
„Morella!“ schrie ich auf, „Morella! Wie kannst du das wissen?“
Aber sie wendete das Gesicht ab, und ein leises Zittern überlief ihre Glieder. Sie starb, und ihre herrliche, ihre entsetzliche Stimme war tot.
Doch wie sie es vorausgesagt hatte, geschah es. Ihr Kind, das sie sterbend geboren hatte und das den ersten Atemzug tat, als seine Mutter den letzten tat, dies Kind, ein Mädchen, lebte. Und es entwickelte sich geistig und körperlich außerordentlich schnell und war das vollkommene Ebenbild von ihr, die dahingeschieden war, und ich liebte es mit einer Liebe, deren Glut und Innigkeit mir oft wie eine Kraft aus einer anderen Welt erschien.
Doch nicht lange, da verdunkelte sich der Himmel dieser reinen Zuneigung, denn Grausen und Kummer jagten wie ungeheure verderbenbringende Wolken darüber hin. Ich sagte schon, das Kind entwickelte sich außerordentlich früh an Körper und Geist. Und in der Tat, sein schnelles leibliches Wachstum war geradezu befremdend. Aber schrecklich, o, schrecklich waren die tobenden Gedanken, die mich überstürzten, wenn ich des Kindes geistiger Entwicklung folgte. Wie konnte es anders sein? Entdeckte ich doch täglich in den Vorstellungen der kindlichen Seele die abnorme Begabung und das ausgereifte Wissen des Weibes, vernahm aus dem kindlichen Munde die genialsten Erfahrungssätze, die Menschen jemals aufgestellt haben, und sah im Auge des Kindes die Weisheit und Leidenschaftlichkeit vollkommener Reife glühen.
Als alle diese Erscheinungen meinen erschreckten Sinnen offenbar wurden, als meine Seele sie in sich aufgenommen hatte – war es da zu verwundern, daß ein entsetzlicher Argwohn mich befiel in der quälenden Erinnerung an die grausigen Phantasien und unerhörten Theorien der verstorbenen Morella?
Und ich verbarg dies junge Wesen, das ich anbetete, vor den Blicken und Einflüssen der Welt, und in der vollständigen Abgeschlossenheit meines Heims wachte ich mit aufreibender Sorge über alles, was dieses geliebte Wesen betraf.
Und wie die Jahre dahinflossen und ich Tag um Tag in ihr heiliges und mildes und beredtes Antlitz spähte und ihr Wachsen und Reifen bemerkte, Tag um Tag, geschah es, daß ich Tag um Tag neue Dinge fand, in denen die Tochter vollständig ihrer Mutter – der schwermütigen und toten – glich. Und stündlich verdichteten sich diese Schatten einer unnatürlichen Ähnlichkeit und wurden immer tiefer und immer bestimmter und immer beängstigender – und immer grauenvoller anzusehen. Daß ihr Lächeln dem Lächeln ihrer Mutter vollkommen glich, das hätte ich ertragen können; aber dann, plötzlich, schauderte ich, denn ihr Lächeln war nicht nur dem Morellas gleich – es war mit ihm identisch! Daß ihre Augen den Augen Morellas glichen, konnte ich hinnehmen, aber manchmal, oft, drang der Tochter Blick in die Tiefen meiner Seele mit einer verwirrenden Eindringlichkeit, wie sie eben nur Morella eigen sein konnte. Und in den Umrissen der hohen Stirn und in den seidigen Locken ihres Haares, in den bleichen Fingern, die mit diesen Locken spielten, und in der klagenden Musik ihrer Stimme und vor allem – o! vor allem in den Redewendungen der Toten, die von den Lippen der Lebenden und Geliebten flossen, fand ich Nahrung für die aufreibendste Gedankenarbeit und für das rastloseste Entsetzen – für den Wurm, der niemals sterben wollte!
So vergingen die ersten zehn Jahre ihres Lebens, und noch immer hatte meine Tochter keinen Taufnamen. „Mein Kind“ und „mein Liebling“ sind ja übliche Benennungen, wie Vaterliebe sie findet, und die strenge Abgeschlossenheit, in der sie lebte, schloß jeden weiteren Verkehr aus und machte einen anderen Namen überflüssig.
Morellas Name war mit ihr gestorben. Ich hatte der Tochter niemals von der Mutter gesprochen; es war unmöglich, von ihr zu sprechen. Tatsächlich hatte also das Kind in seinem jungen Leben keine anderen Eindrücke empfangen als diejenigen, die sich ihm in den engen Grenzen unserer Zurückgezogenheit bieten konnten.
Doch schließlich vermeinte mein abgehetzter Geist durch die Zeremonie der Taufe Erlösung zu finden. So führte ich also das Kind zur Taufe. Und als ich vor dem Taufbecken stand, suchte ich nach einem Namen. Viele Namen voll Weisheit und Schönheit, aus alter und neuer Zeit, aus meiner Heimat und aus fremden Ländern, drängten sich mir auf die Lippen, und viele, viele Namen für Sanftes und Frohes und Gutes. Was trieb mich nur dazu an, die Ruhe der Toten und Begrabenen zu stören? Welcher Dämon veranlaßte mich, jenen Namen zu flüstern, bei dessen Erinnerung schon das Blut mir stürmisch zum Herzen schoß? Welcher Unhold sprach aus den Tiefen meiner Seele, als ich in schweigender Nacht mitten im düsteren Kreuzgang in das Ohr des heiligen Mannes die Silben flüsterte: „Morella!“ Und wer anders als Satan selbst veranlaßte mein Kind, bei diesem kaum vernehmbaren Laut zusammenzuschrecken, die verglasten Blicke gen Himmel zu heben und mit zuckendem Gesicht, auf dem die Schatten des Todes kämpften, auf die schwarze Marmorplatte unserer Familiengruft niederzusinken und zu antworten: „Hier bin ich!“
Klar, kalt und vollkommen deutlich trafen diese einfachen Worte mein Ohr und rollten von da wie geschmolzenes Blei zischend in mein Gehirn. Jahr um Jahr kann dahingehen, doch niemals die Erinnerung an diesen Augenblick! Wahrlich, noch wußte ich nichts von Blumen und Reben – doch Zypresse und Schierling umdrohten mich Tag und Nacht. Und ich wußte nichts mehr vom Wandel der Zeit, und der Stern meines Schicksals losch aus am Firmament, und die Erde verlor ihr Licht, und die Gestalten, die sie belebten, glitten an mir vorbei wie Schatten, und mitten unter ihnen sah ich nur – Morella! Die himmlischen Winde atmeten nur einen Laut, und die rieselnden Wellen der ewigen Wasser murmelten immerfort – Morella! Aber sie starb, und mit meinen eigenen Händen trug ich sie zu Grab. Und ich lachte ein langes, bitteres Lachen, als in der Gruft, in die ich die zweite bettete, nicht eine Spur zu finden war von der ersten – Morella.
ELEONORA
Sub conservatione formae specificae salva anima.
Raymond Lully
Ich entstamme einem Geschlecht, das dafür bekannt ist, eine flammende Leidenschaftlichkeit und eine zügellose Phantasie zu besitzen. Von mir sagt man, daß ich wahnsinnig sei; aber noch ist die Frage nicht gelöst, ob Wahnsinn nicht etwa erhabenste Erkenntnis ist, ob vieles, was herrlich, ob alles, was vollkommen ist, nicht vielleicht einer Krankhaftigkeit des Denkens entspringt, einer durch Überanstrengung des normalen Intellekts hervorgerufenen Reizbarkeit des Geistes. Alle, die bei Tage träumen, wissen von vielen Dingen, die denen entgehen, die nur den Traum der Nacht kennen. Visionen lassen sie den Glanz der Ewigkeiten schauen, und in ihr Wachsein nehmen sie das erschütternde Bewußtsein mit, an der Schwelle der Erkenntnis des großen Rätsels gestanden zu haben. Augenblicke offenbaren ihnen mit Blitzesgrelle viel von der Weisheit des Guten, mehr noch von der bloßen Kenntnis des Bösen. Sie haben nicht Ruder noch Kompaß und dringen dennoch in das unendliche Meer des ewigen Lichtes vor – und weiter, gleich den Fahrten des nubischen Geographen, bis ins Meer der Schatten: „aggressi sunt mare tenebrarum, quid in eo esset exploraturi.“
Nehmen wir also an, ich sei wahnsinnig. Ich gebe zum wenigsten zu, daß mein Geistesleben aus zwei ganz verschiedenen Zuständen besteht: dem Zustand klarer, nicht anzuzweifelnder Vernunft, der die Erinnerung an die Begebenheiten der ersten Epoche meines Lebens umfaßt, und einem Zustand voller Schatten und Zweifel, dem die Gegenwart gehört und die Erinnerung an die Geschehnisse der zweiten großen Epoche meines Lebens. Darum könnt ihr dem, was ich von meinem ersten Lebensabschnitt sagen werde, Glauben schenken; von dem aber, was ich von der späteren Zeit berichte, glaubt nur so viel, als euch glaubwürdig erscheint – oder bezweifelt das Ganze. Doch falls ihr nicht zweifeln könnt, so mögt ihr vor den Rätseln meiner Seele den Ödipus spielen.
Sie, die ich in meiner Jugend liebte und von der ich jetzt kühl und klar das Folgende berichte, war die einzige Tochter der einzigen Schwester meiner früh verstorbenen Mutter. Eleonora war der Name meiner Kusine. Wir hatten immer zusammengewohnt – im „Tale des vielfarbigen Grases“ – unter tropischer Sonne. Kein fremder Fuß betrat jemals dies Tal, denn es lag weit weit droben inmitten gigantischer Berge, die es ragend umstanden und seinen lieblichen Gründen Schatten spendeten. Kein Pfad führte dorthin, und um in unser seliges Heim zu gelangen, hätte man das Gezweig von vieltausend Waldbäumen gewaltsam durchbrechen und die Herrlichkeit von viel Millionen duftender Blumen zertreten müssen. So lebten wir also ganz einsam und kannten nichts von der Welt außerhalb des Tales – ich und meine Kusine und ihre Mutter.
Aus den nebelhaften Regionen der höchsten Berge, die unser Reich umschlossen, kam ein Fluß daher, schmal und tief, und seine Flut war glänzender als alles – ausgenommen Eleonoras Augen. Er wand sich in verstohlenen Krümmungen durchs Tal und tauchte dann in eine dunkle Schlucht, zwischen Bergen, die noch düsterer und geheimnisvoller waren als jene, aus denen er gekommen war. Wir nannten ihn den „Fluß des Schweigens“, denn es war, als ob sein Fluten alles beruhige und stille mache. Kein Murmeln klang aus seinen Tiefen, er ging so sanft dahin, daß die beperlten Kiesel auf seinem Grunde, die wir oft bewunderten, sich niemals rührten – in regungsloser Ruhe lagen sie, jeder funkelte ewig am alten Platz.
Das Ufer des Flusses und der vielen glitzernden Bächlein, die ihm auf allerlei Umwegen zuströmten, und ebenso alle Flächen, die von den Ufern sich ins Wasser bis zum Kieselgrund hinuntersenkten, waren von kurzem, dichtem, gleichmäßigem Rasen bedeckt, der lieblich duftete. Und weiter noch dehnte sich dieser sanfte grüne Teppich – durchs ganze Tal, vom Fluß bis an den Fuß der Höhen, die es umgürteten. Diese wundervolle weite Grasfläche war über und über mit gelben Butterblumen, weißen Gänseblümchen, blauen Veilchen und rubinroten Asphodelen besprenkelt, und ihre unbeschreibliche Schönheit redete laut zu unsern Herzen von der Liebe und der Herrlichkeit Gottes.
Und hie und da erhoben sich im Grase wie seltsam verschlungene Traumgebilde Gruppen phantastischer Bäume, deren Stämme nicht senkrecht aufragten, sondern in anmutigen Biegungen dem Licht entgegenstrebten, das um Mittag in die Mitte des Tales hereinleuchtete. Ihre Rinde war ebenholzschwarz und silbern gefleckt und war zarter als alles – ausgenommen Eleonoras Wangen. Ja, man hätte diese Bäume für gigantische Schlangen halten können, die der Sonne, ihrer Gottheit, huldigten, wären nicht die glänzend grünen, großen Blätter gewesen, die von ihren Gipfeln in langen, bebenden Reihen niederhingen und mit dem Zephir tändelten.
Lange Jahre durchstreifte ich Hand in Hand mit Eleonora das Tal, ehe die Liebe in unsere Herzen einzog. Es war an einem Abend in Eleonoras fünfzehntem und meinem zwanzigsten Lebensjahre, da saßen wir, einander eng umschlungen haltend, unter den Schlangenbäumen und blickten hinab in den Fluß des Schweigens und auf unser Bild, das sich in seinen Wassern spiegelte.
Wir sprachen nichts mehr an diesem süßen Tage, und selbst am andern Morgen fand unsere Rede nur wenige zitternde Worte.
Wir hatten in den Wassern Gott Eros gefunden und ihn in uns aufgenommen, und wir fühlten nun, daß durch ihn die feurigen Seelen unserer Vorfahren in uns entzündet waren. Alle Leidenschaftlichkeit und blühende Phantasie, die Jahrhunderte lang unser Geschlecht auszeichneten, ergriffen unsere Herzen wie ein Rausch und hauchten in das Tal des vielfarbigen Grases eine wahnsinnige Seligkeit. Alle Dinge veränderten sich. Die Bäume, die nie vordem ein Blühen gekannt hatten, entfalteten seltsame, sternförmige, strahlende Blüten. Das Grün des Rasenteppichs vertiefte sich, und als – eine nach der andern – die weißen Gänseblümchen dahinschwanden, brachen an ihren Orten rubinrote Asphodelen auf – zu zehn auf einmal. Und Leben regte sich auf unseren Pfaden, denn der hohe, schlanke Flamingo, den wir bis dahin noch nie gesehen, entfaltete vor uns sein scharlachfarbenes Gefieder, und mit ihm kamen und glühten alle heiteren Vögel. Gold- und Silberfische belebten den Fluß, und aus seinen Tiefen hob sich leise, doch lauter und lauter werdend, ein Murmeln, das schließlich zu einer sanften, erhabenen Melodie anschwoll, erhabener als der Sang aus des Äolus Harfe und süßer als alles – ausgenommen Eleonoras Stimme.
Und eine schwere, mächtige Wolke, die wir seit langem in den Regionen des Abendsterns beobachtet hatten, setzte sich gemächlich in Bewegung. Und durch und durch karmin- und golderglänzend lagerte sie sich über unser Tal und sank Tag um Tag friedvoll tiefer und tiefer, bis ihre Ränder auf den Gipfeln der Berge ruhten, deren nebelhaftes Grau sie in Glanz und Pracht verwandelte. Und sie lagerte über uns und schloß uns ein wie in ein zauberhaftes Gefängnis von seltsamer Herrlichkeit.
Der Liebreiz Eleonoras war der der Seraphim; aber sie war so schlicht und unschuldig wie das kurze Leben, das sie inmitten der Blumen gelebt hatte. Keine Arglist lehrte sie, die Inbrunst, die ihr Herz entflammte, zu verbergen, und während wir miteinander im Tale des vielfarbigen Grases wandelten und über all seine Veränderungen sprachen, enthüllte sie mir die geheimsten Tiefen ihrer Seele.
Und eines Tages sprach sie unter Tränen von jener letzten traurigen Veränderung, der alle Menschen unterworfen sind, und von nun an weilte sie nur bei diesem einen schmerzvollen Thema, das sie in jedes unserer Gespräche einflocht, so wie die Sänger von Schiras in ihren Liedern dieselben Bilder wieder und wieder anwenden.
Sie hatte die Hand des Todes auf ihrer Brust gefühlt, sie wußte, daß sie in so vollkommener Schönheit erschaffen worden war, nur um – gleich der Eintagsfliege – früh zu sterben. Doch alle Schrecken des Todes waren für sie in dem einen Gedanken vereint, von dem sie mir in abendlicher Dämmerstunde am Fluß des Schweigens sprach. Es bekümmerte sie, zu denken, ich könne, nachdem ich sie im Tale des vielfarbigen Grases begraben hätte, seine selige Verborgenheit verlassen und die Liebe, die jetzt ganz ihr gehörte, irgendeinem Mädchen der Alltagswelt da draußen schenken. Und damals und dort warf ich mich ohne Besinnen Eleonora zu Füßen und tat ihr und dem Himmel den Schwur, daß ich mich niemals mit einer Tochter der Welt in Ehe verbinden – daß ich niemals ihrem geliebten Andenken, dem Andenken der innigen Zuneigung, mit der sie mich segnete, untreu werden wollte. Und ich rief den allmächtigen Herrn des Weltalls zum Zeugen für meines Schwurs aufrichtigen Ernst. Und der Fluch, den ich von ihm und von ihr, der Heiligen im Paradiese, für den Fall meines Treubruches auf mich herabrief, schloß eine so entsetzliche Strafe in sich, daß ich hier nicht davon sprechen kann.
Und die strahlenden Augen Eleonoras erstrahlten noch heller bei meinen Worten. Und sie seufzte, als sei eine tödliche Last ihr vom Herzen genommen, und sie zitterte und weinte bitterlich. Aber sie nahm meinen Schwur an – denn was war sie anderes als ein Kind – , und er ließ sie erleichtert dem Sterben entgegensehen. Und als sie einige Tage später friedvoll entschlief, sagte sie zu mir, sie wolle um deswillen, was ich für den Frieden ihrer Seele getan habe, mit dieser Seele über mich wachen; sie wolle, sofern es möglich sei, in den wachen Stunden der Nacht mir sichtbarlich erscheinen. Wenn aber dies außerhalb der Macht der Seelen im Paradiese läge, so wolle sie mir ihr Gegenwärtigsein wenigstens durch allerlei Zeichen kund tun. Sie werde mit den Abendwinden mich umkosen und die Luft um mich her mit dem Duft der Weihrauchschalen erfüllen. Mit diesen Worten auf den Lippen gab sie ihr junges, reines Leben auf, und mit ihr endete die erste Epoche meines eigenen Lebens.
Bis hierher habe ich wahrheitsgetreu berichtet. Doch wenn mein Denken auf dem Wege der Vergangenheit die Grenze, die der Tod meiner Geliebten gezogen, überschreitet und in die zweite Periode meines Lebens eintritt, dann sammeln sich Schatten um mein Hirn, und ich fühle, daß ich an meinem gesunden Gedächtnis zweifeln muß. Doch ich will fortfahren.
Die Jahre schleppten sich träge dahin, und immer noch wohnte ich im Tale des vielfarbigen Grases. Aber wiederum hatte eine Veränderung alle Dinge befallen. Die sternförmigen Blüten krochen zurück in die Stämme der Bäume und kamen nie wieder zum Vorschein. Das tiefe Grün des Rasenteppichs verblaßte, und die rubinroten Asphodelen welkten hin, eine nach der andern. Und an ihren Orten brachen – zu zehn auf einmal – dunkle, blauäugige Veilchen auf, und ihre Augen standen immer voll Tau und blickten kummervoll. Und Leben entschwand von unsern alten Pfaden; denn der hohe, schlanke Flamingo entfaltete nie mehr sein scharlachrotes Gefieder, trauernd flog er aus unserm Tale fort, den Bergen zu, und mit ihm zogen alle heiteren Vögel, die ihn begleitet hatten. Und die Gold- und Silberfische schwammen davon durch die Schlucht, die an der einen Seite unser Reich begrenzte, und zierten nie wieder den lieblichen Fluß. Und die sanfte Melodie, die erhebender gewesen war als der Sang aus des Äolus Harfe und süßer als alles – ausgenommen Eleonoras Stimme, sie sank wieder zu leisem Murmeln herab und wurde leiser und leiser, bis sie erstarb und der Fluß wieder in seinem vormaligen feierlich-düsteren Schweigen dahinfloß. Und dann – zuletzt – hob sich die mächtige Wolke von den Gipfeln der Berge, die wieder in ihr nebelhaftes Grau zurücktauchten, und schwamm gemächlich davon, den fernen Regionen des Abendsternes zu, und mit ihr verschwand das strahlende Gold und all die glänzende Pracht, mit der sie das Tal des vielfarbigen Grases überschüttet hatte.
Jedoch was Eleonora versprach, erfüllte sich. Denn ich hörte um mich das Schwingen der himmlischen Weihrauchschalen, und Ströme himmlischer Düfte durchfluteten immer und immer das Tal. Und in einsamen Stunden, wenn mein Herz in heftigem Pulsschlag erbebte, umschmeichelten sanfte Winde mit süßem Seufzen meine Stirn. Die dunklen Nächte füllte oft ein schwaches Flüstern, und einmal – o, einmal nur! – weckte mich aus einem todähnlichen Schlafe der Kuß geisterhafter Lippen, die meinen Mund berührten.
Aber all dies vermochte nicht die Leere meines Herzens auszufüllen, und grenzenlos wuchs sein Verlangen nach jener Liebe, von der es vordem so übervoll gewesen war. Und endlich kam es soweit, daß mir das Tal des vielfarbigen Grases, durch das mich die Erinnerungen hetzten, zur Qual wurde, und ich vertauschte es für immer gegen die Eitelkeiten und das friedelose Glück der Welt.
***
Ich fand mich in einer fremden Stadt, in der alle Dinge nur dazu dienten, die Erinnerung an die süßen Träume, die ich so lange Jahre im Tal des vielfarbigen Grases geträumt hatte, aus meinem Gedächtnis auszulöschen. Ein prächtiges Hoflager mit Pomp und Festen, betäubendes Waffengeklirr und strahlende Frauenlieblichkeit verwirrten und berauschten mein Hirn. Doch bis jetzt war meine Seele ihrem Schwur treu geblieben, und immer noch verkündete mir Eleonora in den stillen Stunden der Nacht ihr Gegenwärtigsein.
Plötzlich aber hörten diese Anzeichen auf, und die Welt wurde schwarz vor meinen Augen, und ich stand in atemlosem Schreck vor dem glühenden Gedanken – der grauenhaften Versuchung, die mich befallen hatte. Denn an den fröhlichen Hof des Königs, dem ich diente, kam aus irgendeinem fernen, fernen, unbekannten Lande ein Mädchen, von deren Schönheit mein ganzes ruchloses Herz entflammt und hingerissen ward – zu deren Füßen ich mich ohne Sträuben niederwarf in wehrloser, abgöttischer Liebe. Ach, wie armselig war die Leidenschaft, die ich dem jungen Kinde im Tale des vielfarbigen Grases geschenkt hatte, wenn ich sie mit der Glut und dem Wahnwitz und den beseligenden Ekstasen verglich, in denen jetzt meine Anbetung emporjauchzte, mit dem trunkenen Schluchzen, in dem meine Seele zu Füßen der himmlischen Ermengard dahinschmolz! O, herrlich war der Engel Ermengard! Und vor dieser Erkenntnis versank alles andere. – O, göttlich war der Engel Ermengard! Und ich ertrank im Blick ihrer unergründlichen Augen und sah und suchte nur sie.
Ich vermählte mich mit Ermengard – und fürchtete nicht den Fluch, den ich auf mich herabgeschworen hatte, und seine Schrecken suchten mich nicht heim. Da kam noch einmal – ein einziges Mal – durch das Schweigen der Nacht das süße Seufzen wieder zu mir, und es formte sich zu einer wohlbekannten, inbrünstigen Stimme:
„Schlafe in Frieden! Denn der Geist der Liebe lebt und herrscht. Und wenn du glühenden Herzens Ermengard umarmst, bist du – aus Gründen, die dir dereinst im Himmel offenbar werden sollen – deines Gelübdes an Eleonora entbunden.“