Kitabı oku: «Tingeln durch das Land Danach – Band 1», sayfa 4

Yazı tipi:

„Die hätten allesamt mal eine saftige Tracht Prügel nötig. Dringend!“

Mein „Oppa“ stimmte ihm zu und bestärkte ihn darin, es einmal damit zu versuchen.

„Das geht nicht. Wenn ich mir die packen und sie versohlen würde, hätte ich sofort den Alten und seinen Großen am Hals. Die schlagen zurück!“

Sie schweiften ab und zogen über die Flüchtlinge her, die Hameln „wie ein Heuschreckenschwarm“ überfallen hätten. Sie nannten sie verächtlich „Flächtlinge“ wie viele alteingesessene Hamelenser, die damit auf den Dialekt der ungeliebten Eindringlinge anspielten.

Plötzlich war die Rede von Dieter.

„Der Kleine ist ein geisteskranker Giftzwerg. Der spielt uns die hinterhältigsten Streiche, wenn ich mal mit ihm geschimpft habe. Der vermiest mir das Leben!“

Es entstand eine lange Pause und ich hatte schon die Befürchtung, dass sie gemerkt hatten, dass ich sie belauschte. Aber es ging weiter.

„Einmal habe ich dem eine geklebt. Darauf haben sie mich bedroht und körperlich angegriffen. Unglaublich!“

Sie schwiegen wieder für eine kleine Weile. Dann hörte ich von unserem „Oppa“ jene Sätze, die sich mir einbrannten und an denen ich seither knabberte:

„Der Dieter ist ein Bastard.“

„Was meinst du?“

„Nun ja. Der alte Andersen ist gar nicht sein Vater. Sie ist auf der Flucht vergewaltigt worden. Sie ziehen einen Bastard groß.“

Mein „Oppa“ stockte und sagte dann:

„Wie ihr eigenes Kind. Kann man sich kaum vorstellen!“

Und dann wiederholte er noch einmal gedankenvoll:

„Sie sind Vertriebene. Sudetendeutsche. Vergewaltigung auf der Flucht.“ Pause. „Ein Tscheche.“

***

Sehr viel später habe ich mich gefragt, woher er eigentlich sein Wissen über die Andersen-Familie hatte und ob nicht womöglich alles nur Flüchtlings-Klatsch und -Tratsch war. Das Flüchtlingsproblem war in jener Zeit, Anfang der Fünfziger, das Thema in vielen Kommunen der BRD und die „Flächtlinge“ und „Neigschmeckten“ wurden vielfach mit Missgunst und Verachtung aufgenommen. Es wurde viel über sie gelästert und hergezogen.

Für mich war es das zweite Mal während meiner Barackenzeit, dass die „große“ Geschichte in meine „kleine“ Geschichte hineinsegelte und mir Rätsel aufgab. Was hatte es mit dieser „Flucht“ auf sich, was war eine „Vergewaltigung“, was war ein „Tscheche“?

Meine Mutter „eierte“ um den entscheidenden Punkt herum. Sie war natürlich so prüde wie ihre ganze Generation und eine sexuelle Aufklärung der Kinder fand im Land Danach nicht statt. Am Ende unseres Gesprächs am Küchentisch war ich dann aber doch – nach vielen bohrenden Fragen – „aufgeklärt“: ich wusste, was passiert war.

Mein Verhältnis zu den Andersen-Kindern änderte sich durch dieses Wissen überhaupt nicht. Ich weiß aber, dass mir Dieter von nun an irgendwie leid tat und dass ich Helmut und die beiden Schwestern verstand, wenn sie ihn beschützten. Erst viel später sah ich das wirklich Großartige im Verhalten dieser Familie: die Frau, die die Frucht des Gewaltaktes austragen musste, und ihr Baby als das „Brüderchen“ in die Geschwisterreihe integrierte. Und ich sah den Mann, der in Liebe zu seiner Frau hielt – und zu dem Kind. Das war durchaus nicht üblich im Land Danach, in dem die vielen vergewaltigten Frauen oftmals sozial im Stich gelassen wurden und ihr Trauma verbergen mussten, um einer Stigmatisierung zu entgehen.

***

Nach dem „Aufklärungsgespräch“ mit meiner Mutter an unserem Küchentisch – neben dem heißen Küchenherd, auf dem unser Mittagessen schmurgelte – lichteten sich die Nebel in meinem Kopf. Ich ging wieder nach draußen und hackte die letzten Scheite zu Anmachholz. Auch hier draußen waren die Nebelschwaden verschwunden. Weißes, fahles Sonnenlicht lag über der Landschaft. Weit hinten auf der Kuhbrückenstraße sah ich nun endlich meine beiden Schwestern aus der Schule heimkommen, die den Dieter gepiesackt hatten und damit so viel in mir ausgelöst hatten. Gleich würden wir alle am Tisch sitzen und essen. Der Tag nahm Konturen an.

Die Initiation

Die Entschlüsselung der Dieter-Geschichte fiel in eine Phase meines Lebens, in der ich anfing, mich mit der Zeit auseinanderzusetzen, in der ich lebte. Tatsächlich war es das zweite Mal, dass ich darauf gestoßen wurde, dass etwas Schlimmes in dem Land passiert sein musste, in dem ich aufwuchs. Die Worte „Krieg“, „Flüchtlinge“, „Nazis“ hörte ich vermutlich oft als Kind der Vierziger und Fünfziger Jahre, aber sie bedeuteten mir erst einmal nichts und ich hatte keinerlei Interesse nachzufragen, um mehr darüber zu erfahren. Ich war halt ein Kind und lebte mein unschuldiges Kinderleben. Doch dann kam der Erkenntnisschock, der mir die Unschuld raubte.

***

Meine Mutter hatte dafür Sorge getragen, dass die Strippen zur „normalen“ Zivilisation und sogar zur „großen, weiten Welt“ nicht durchrissen in unserer Einöde an der Peripherie der Stadt. Jeden Wochentag lieferte der Briefträger die Tageszeitung ab, einmal in der Woche fuhr der nette alte Mann mit seinem verbeulten Opel vor, der uns die Illustriertenmappe vom „Lesezirkel Daheim“ brachte – und natürlich gab es das Radio.

Anfang der Fünfziger wurde auch bei uns der „Volksempfänger“ – die hässliche „Goebbelsschnauze“ – für immer entsorgt und durch einen „normalen“ Kasten ersetzt, dessen magisch-grünes Auge mich faszinierte und auf dessen Display man durch Drehen eines Knopfes seinen Sender einstellen konnte. Der Sender der Region, der „NWDR“, kam gut rüber – die meisten anderen lieferten nur Rauschen, Quietschen und Quaken. Meine Mutter hörte täglich ihre Nachrichten und Kommentare, wir versammelten uns wöchentlich einmal vor dem Kasten, wenn die spannenden Serien liefen: „Paul Temple und der Fall Curzon“ oder „Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv“ …

Für mich war die tägliche Zeitung noch ziemlich uninteressant, da ich in jenen Jahren gerade erst lesen lernte: zu viel Text, zu wenig Bilder. Die Illustriertenmappe war da ergiebiger: „Stern“ und „Quick“ zeigten uns Bilder von den großen Ereignissen der Zeit, meist zeitversetzt um drei Wochen, denn je älter die Illustriertenmappe war, umso billiger wurde sie. Die „Bunte“ versorgte uns mit den Glanzfotos von Königinnen und Prinzessinnen und anderen feinen Leuten. Der „Spiegel“ war für mich uninteressant: unverständliche lange Texte und langweilige Bilder, meist Köppe von ollen Männern. Den „Spiegel“ nahm ich mir nur vor, wenn wirklich alles andere abgegrast war. Ich blätterte dann lustlos und gelangweilt darin herum und steckte ihn schließlich frustriert zurück in die Mappe.

Eines Tages allerdings wurde ich ausgerechnet beim Studium dieses für mich so langweiligen Blattes geschockt, ja, mehr noch: regelrecht aus der Bahn meines friedlichen, kindlichen Lebens geworfen. Ich sah etwas, das von nun an mein Leben für immer verändern sollte.

Da waren vier kleine Bilder oben auf einer Doppelseite. Auf der linken Seite ein inzwischen weltbekanntes Bild: der Viehwaggon, in dem verzweifelte Menschen abtransportiert werden. Auf der rechten Seite war ein Bild, das mich erschütterte. Es zeigte das Innere einer Baracke, die aussah wie die unsere. Dort aber war keine Wohnung oder eine Werkstatt eingebaut wie in „unserer“ Baracke. Nein, in jener Baracke standen dicht an dicht dreistöckige Holzbetten und auf diesen Holzbetten lagen Skelette, lebende Menschen, die bis auf die Knochen abgemagert waren, mit großen aufgerissenen Augen in den tiefen Augenhöhlen über den hohlen Wangen. Lebende Skelette mit Totenschädeln. Ich hatte noch nie etwas derart Schauriges gesehen.

Ich schnappte mir das Heft und verschwand damit in unserem „Dschungel“ hinter dem Hofzaun. Auf einem der Bunkergebirge studierte ich die Bilder, die Bildunterschriften und schließlich machte ich mich an die Arbeit. Ich las den Artikel, von dem ich annahm, dass er mir verraten würde, was ich da eigentlich vor mir hatte, vom ersten bis zum letzten Buchstaben durch. Ich las langsam und buchstabierte Wort für Wort. Ich hatte gerade erst lesen gelernt und kämpfte mich mühselig durch den langen Text auf der Suche nach Erleuchtung. Da ich mich an den Inhalt später nicht erinnern konnte, nehme ich an, dass ich nichts verstand, als ich mich durch den Text kämpfte. Ein „Spiegel“-Artikel in der „Spiegel“-Sprache mit ihren unverständlichen Wörtern und Begriffen, dem vorausgesetzten Hintergrundwissen, das der erwachsene Leser mitbringt – damit konnte ein Achtjähriger zu Beginn seines dritten Schuljahres nichts anfangen.

Aber ich wusste tief in mir, dass schreckliche Ereignisse stattgefunden hatten. Vor allem entnahm ich dem, was ich da vor mir hatte, dass diese Ereignisse noch gar nicht so lange zurücklagen. Und irgendwie begriff ich vage, dass es sich um Verbrechen handelte, die von den Deutschen begangen worden waren. Von „uns“ also. Das war der Schock.

Ich hatte als Kind ganz naiv die Vorstellung, dass alles, was „vor meiner Zeit“ lag, vor meiner Geburt, gleich weit entfernt war in der Vergangenheit – ob es sich nun um die „alten Römer“ handelte, von denen man schon mal das Eine oder Andere gehört hatte, oder um die „Nazis“, von denen in den Gesprächen der Erwachsenen immer wieder die Rede war.

An jenem Nachmittag lief ich mit dem Heft zu meiner Mutter, zeigte ihr die Bilder und fragte sie, was es damit auf sich habe. Aus ihren Erklärungen und Erzählungen entnahm ich, dass es sich um furchtbare Verbrechen der „Nazis“ gehandelt habe, von denen sie selbst erst nach Kriegsende erfahren hatte. Ich erkannte aus dem, was sie erzählte, dass diese „Nazis“ Deutsche waren. Ich wusste jetzt auch, dass meine Mutter selbst in der „Nazi-Zeit“ gelebt hatte, wie alle Erwachsenen um mich herum. Ja, ich stellte fest, als ich nachrechnete, dass ich selbst noch in die „Nazi-Zeit“ hineingeboren worden war.

In den folgenden Tagen bohrte ich weiter. Ich wollte mehr wissen über die „Nazi-Zeit“ und die „Nazis“, mehr wissen über das, was sie angerichtet hatten. Ich fragte die Erwachsenen, aber all ihre Antworten konnten meine Neugier nicht stillen. Die „große“ Geschichte war zum ersten Mal in mein Leben hineingekrochen und ich erkannte, dass ich in einem ganz besonderen Land lebte: um mich herum lebten Menschen, die schreckliche Verbrechen begangen hatten – und ich wusste natürlich nicht: wer von denen gehörte zu den Verbrechern und wer nicht?

Die Entdeckung der Horrorbilder markierte den Beginn einer Ummodelung meines Bewusstseins. Später nannte ich das, was mir da widerfahren war, eine „Initiation“, denn von da an begann „das große Fragen“, das nie wieder aufhörte. Die kleinen Fotos auf jenen Seiten, die ich mit acht Jahren so mühsam studiert hatte, waren die ersten Bilder einer Bildergalerie, die mein Leben lang wuchs und schließlich ausuferte: eine Sammlung ungeheuerlicher Fotos, ungeheuerlicher Geschichten, die die schwarzen Bilder der Vergangenheit heraufbeschworen, eine Sammlung von Horrorbildern und Horrorfilmen.

Das war wahrlich eine besondere Initiation: es gab sie nur in Deutschland und sie betraf nur meine Generation. Das waren die Kinder, die im Krieg und in den Jahren davor und danach geboren worden waren. Viele von uns erwischte der Erkenntnisschock: der Vater war ein Täternazi, die Eltern hatten von der Arisierung jüdischen Eigentums profitiert … Die Mörder und Folterer, die Mitmacher und Mitläufer, die Täter und Denunzianten lebten direkt nebenan, als biedere Bürger, als brave Familienpappis. Aber natürlich lebten auch die Opfer neben uns. All sie, die Täter wie die Opfer: das waren die „Alten“, mit denen wir zu tun hatten. Sie gestalteten die Gesellschaft, in die wir hineinwuchsen. Sie modellierten unser Leben.

Eine spezifisch deutsche Initiation also, einzig auf der Welt. Sie machte meine Generation wach und kritisch. Sie formte unser Bewusstsein, unsere Wahrnehmung der Welt. Sie war notwendig für die politischen und gesellschaftlichen Prozesse, die ab den Sechziger Jahren abrollten, als die Kriegskinder-Generation erwachsen wurde und als „68er-Generation“ in die Geschichte einging. Sie war notwendig für die kulturellen Umwälzungen in Deutschland, die folgen sollten.

3 Der Alte und sein Sohn

Wie kam es überhaupt zu unserer „Umsetzung“? Warum landeten wir in der Peripherie? Wer war dafür verantwortlich?

„Das ganze Elend fing an, als euer Vater seine sichere Stelle aufgab und in den Betrieb seines Vaters eintrat. Das war eine schlimme Entscheidung. Das war die Katastrophe für uns alle. Damit begann das Elend. Damit begann die ganze Misere …“

Oft hörte ich solche Sätze aus dem Mund meiner Mutter. Noch im hohen Alter war sie erregt und verbittert, wenn sie sich erinnerte. Und in der Tat: während für mich die „Umsetzung“ zum Abenteuer wurde, hat sie diesen Vorgang immer als Gewaltakt empfunden. Und so sah ich das später auch: man hatte ihr Gewalt angetan, vier Jahre lang.

Die Täter waren mein Großvater und mein Vater – der Alte und sein Sohn. Gegen die beiden kämpfte sie unerbittlich an in jenen vier Jahren. Sie ließ sich nicht unterkriegen, das war ihre Art. Der Antrieb für diese Kämpfe war ihre Liebe zu uns, ihren Kindern, und auch – das war mir damals verborgen – ihre unerschütterliche Liebe zu dem Mann, den sie ins Leben zurückgeholt hatte, um mit ihm ihr Leben zu teilen: meinem Vater.

Die Heldengeschichten vom Alten

Während ich mir über meine mütterlichen Großeltern immer ein ziemlich klares Bild zeichnen konnte, da unsere Mutter häufig aus ihrer Kindheit auf dem Gutshof erzählte, fällt es mir schwer, etwas ähnlich Präzises über meine väterlichen Großeltern hinzuschreiben. Das ist eigenartig. Meine mütterlichen Großeltern kenne ich nur aus Erzählungen, denn sie starben lange vor meiner Geburt. Neben meinen väterlichen Großeltern habe ich Jahre meiner Kindheit zugebracht, ich war häufig mit ihnen zusammen, ich hatte sie leibhaft und lebendig vor meinen Augen. Doch das Gesamtbild von ihnen ist lange unscharf geblieben, da sie nichts aus ihrem Leben erzählten. Ihre Lebensgeschichte kann ich mir heute nur aus Schnipseln, einigen Geschichten aus der „Familiensaga“, ein paar alten Fotos und aus meinen eigenen Beobachtungen und Nachforschungen zusammenkleben.

***

In unserer „Schatzkiste“, einem Karton mit Familienbildern, den wir als Kinder gern durchforschten, fanden wir nicht nur Bilder aus dem Leben unserer Mutter, die uns sehr interessierten, sondern auch ein paar alte Fotos meiner väterlichen Verwandten.

Aufschlussreich ist ein Dokument mit einem Bild des Alten, unseres „Oppas“, aus dem Jahre 1921, denn es enthält sein Geburtsdatum, 8. Mai 1878. Ich kann mir ungefähr vorstellen, in welche Zeiten er „hineinlebte“. Ich werde also – wie ich es in meinen Erinnerungen immer mal wieder getan habe – hier und da die „große Geschichte“ zu Hilfe nehmen, um die „kleine Geschichte“ meiner väterlichen Großeltern besser zu verstehen.

Das Dokument, das vor mir liegt, ist sein Führerschein. 1921, mit dreiundvierzig Jahren, macht er seinen Führerschein. Er springt mit Schwung in die „modernen Zeiten“ mit ihrem Schlüsselprodukt, dem Automobil. Gerade erst ist die Fließbandfertigung des Massenautomobils in Europa angelaufen und schon wenige Jahre später ist er Autohändler in Hameln. Ich kann mir vorstellen, dass er seine Klempner- und Schlosserwerkstatt ummodelt und erweitert und sich selbst zum Automechaniker ausbildet, einem gefragten Spezialisten in einer Zeit, da immer mehr Autos auf den Straßen zu sehen sind.

Überhaupt, so deute ich Geschichten aus der spärlichen Familiensaga, sind die Zwanziger Jahre wohl die „Gipfeljahre“ in seinem Leben gewesen. Er war als Geschäftsmann erfolgreich, er engagierte sich politisch und ließ sich als Sozialdemokrat ins Stadtparlament der Kleinstadt wählen, in die „Bürgerversammlung“. Er wurde zum „Bürgervorsteher“, also zum Vorsitzenden dieses Parlaments gewählt, hielt politische Reden und erinnerte sich noch als alter Mann voller Stolz, dass er mit Gustav Stresemann, der als Reichskanzler irgendwann einmal Hameln beehrte, ein hitziges Streitgespräch geführt habe.

Das Jahr 1925, als mit dem Dawes-Plan die Zwanziger Jahre „golden“ wurden und ein Wirtschaftsaufschwung „auf Pump“ begann, wird zu einem Schlüsseljahr in den Erzählungen meines Vaters. Der Alte bekommt von einem vermögenden Grafen aus der Umgebung den Auftrag, ein Auto aus Frankreich zu importieren, einen Citroen – vermutlich den legendären Citroen B12, der gerade erst auf dem Markt erschienen ist. Er nimmt seinen Sohn mit auf die Reise in das Land des „Erbfeindes“ und mein Vater fährt zum ersten Mal Auto, denn auf den einsamen französischen Landstraßen darf er seinen Vater ablösen und die Wunderkarre selber fahren. Da war er fünfzehn und die Autofahrt durch Frankreich, die ihm sein Vater spendierte, wurde zu einem Großereignis seiner Kindheit.

Alles deutet darauf hin, dass der Alte Erfolg hatte in den Zwanzigern. Auch für ihn gab es zuerst den „goldenen“ Aufschwung nach den Krisenjahren der „Großen Inflation“ – und auch er, so denke ich, wird danach in den Strudel der Weltwirtschaftskrise geraten sein und sich als selbstständiger Geschäftsmann in der „Großen Depression“ nur mühselig durchgewurschtelt haben.

Er bezeichnete sich selbst gerne als „Selfmademan“, der immer wieder neue Ideen entwickelte und sie zu realisieren versuchte. Gleich nachdem er seine Meisterprüfung abgelegt hatte, wird er sich selbstständig gemacht haben. Immer wieder betonte er, dass er niemals als abhängiger Arbeiter in einer Fabrik hätte schuften mögen. Er konnte keine Befehle entgegennehmen.

Das früheste Bild von ihm, das die „Schatzkiste“ mir liefert, ist ein Bild aus seiner Lehrzeit. Ich denke: es ist aus Anlass seiner Gesellenprüfung aufgenommen worden. Die müsste er, wenn ich richtig rechne, etwa 1895 abgelegt haben – da war er siebzehn.

Zwei schlanke, junge Burschen sehe ich vor mir, in eine schicke „Arbeiteruniform“ gekleidet: schwarze Hosen, Ledergürtel mit massivem Koppelschloss, kragenloses, hochgeschlossenes Hemd, die Ärmel aufgekrempelt. Malerische Proletarier der Frühindustrialisierung. Sein Kumpel, etwas größer und schlaksiger als er, schaut mit naiven, freundlichen Augen schräg an der Kamera vorbei. Er hat ein schlankes Gesicht und schwarze, sorgfältig gekämmte Haare.

Friedrich Karl, der mein Großvater werden sollte, steht rechts neben ihm. Er hat helle Haare, eine auffällige blonde Welle über seinem runden, glatten, noch sehr jugendlichen Gesicht. Sein Blick ist anders als der seines Kumpels: er schaut voller Entschlossenheit in ferne Welten, so hat es den Anschein. Die Ausstrahlung seines Gesichts und auch seine Körperhaltung scheinen zu sagen: ich bin ein Bullerjochen, ich kenne meine Kraft, ich setze mich durch, wenn es hart auf hart kommt. Haltet Distanz: mit mir ist im Zweifel nicht gut Kirschen essen …

In ihren Händen halten sie Gegenstände: möglicherweise ihre Gesellenstücke, an denen sie monatelang gefräst, gesägt, geschliffen und geschmirgelt haben. Sein Kumpel hält einen großen Ring mit zahlreichen Schlüsseln in einer Hand, die andere liegt auf einem Tisch mit gedrechseltem Unterbau. Der Blonde neben ihm hält mit beiden Händen ein längliches, etwa achtzig Zentimeter langes Werkstück, das ich nicht deuten kann. Er hält es voller Stolz und entschlossen wie eine Waffe. Jederzeit könnte seine Linke das „Ding“ loslassen, er könnte es in seine rechte Hand nehmen und wie mit einem Schwert zuschlagen – so sieht das für mich aus.

Dieses „Ding“ habe ich später noch kennengelernt, in seinem Arbeitszimmer in seiner Wohnung in der Kaiserstraße. Er hatte all seine Bücher und Folianten in zwei schwarz gebeizten Vitrinenschränken untergebracht, hinter Glastüren. Vor der langen Reihe mit dem Großen Brockhaus lag sein „Ding“ aufbewahrt, als Andenken. Dort entdeckte ich es. Als Kind rätselte ich, was es damit auf sich habe und erst viel später erfuhr ich aus Erzählungen meines Vaters, um was es sich handelte und dass er das „Ding“ in einer brenzligen Situation tatsächlich noch einmal in die Hand genommen hatte – und zwar als Waffe.

Nach seiner Gesellenprüfung und einer kurzen Arbeitsphase als schon gut verdienender Geselle hielt ihn nichts mehr an Land. Er erfüllte sich den Traum vieler junger Burschen seiner Generation und fuhr zur See – in den neuen Zeiten der Dampfschifffahrt, als die großen mit Kohle betriebenen Dampfer die Ozeane durchquerten. Mit neunzehn heuerte er auf einem deutschen Pott an und 1898 bereits war er in New York. Dort heuerte er auf einem amerikanischen Dampfschiff an.

***

„Zur See fahren“ – dieser Topos war mir nur allzu geläufig in meiner Kindheit. Nicht nur mein „Oppa“ war „zur See gefahren“ und hatte damit die Feuertaufe des „männlichen“ Mannes erfahren. Auch mein älterer Bruder „fuhr zur See“, denn er war ein Bewunderer des Alten und kopierte seine Art, wo er nur konnte. „Zur See fahren“, so erkannte ich schon früh, war der Traum eines bestimmten Jungs- und Männertypus, zu dem ich mich nicht zählte. Das „große Abenteuer“ klingt an, die „große Freiheit“, die „weite Welt“ und das „Kreuz des Südens“, „Kap Horn“ und „gefährlich leben“, der „Kampf mit der rauen See“, die dich unter Umständen „in ihre Arme nimmt“ und nach unten zieht … In zahlreichen Schnulzen weltweit wird dieser sentimentale männliche Topos besungen. In Deutschland nährten die Barden Hans Albers und Freddy Quinn den großen Traum all dieser pubertierenden Jungs, die sich tatsächlich nach Hamburg oder Bremen aufmachten und anheuerten, um auf einem Schiff zu malochen und den „Duft der großen, weiten Welt“ zu schnuppern, von der sie dann allerdings nur herzlich wenig zu Gesicht bekamen …

Für mich, der ich schon als Schüler die Knochenmaloche in den Fabriken und auf den Baustellen kennengelernt hatte, hatte die Seefahrtsromantik nichts Attraktives. Die Knochenmaloche „zur See“ stellte ich mir noch viel schlimmer vor als die „an Land“:

Schmierige und ölige Schwerstarbeit im Bauch dieser schwimmenden Eisenpanzer. Ausgeliefertsein an eine Horde „harter“, „männlicher“ Männer – und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag. Keinerlei Rechte und keinerlei Entkommen im Konfliktfall – denn du bist auf „hoher See“. Dein Privatleben: eine Koje in einer Kajüte, die du dir mit anderen teilen musst – oder du schläfst gar in einer Hängematte mit vielen anderen in einem großen Raum unter Deck. Und alles Private enthält deine gut verschlossene „Seemannskiste“ …

Erschöpftes Schlafen in den Stunden zwischen den Arbeitseinsätzen, die du tief unten im heißen Bauch dieser Dampfer abzuleisten hast. Träumen von deinem fernen Mädchen, Onanieren und Männerzoten, schwule Vergewaltigungen – und all das unter der ständigen Drohung einer Havarie auf hoher See … „Zur See fahren?“ Nein, danke!

***

Nachdem er auf dem US-amerikanischen Dampfschiff angeheuert hatte, ahnte er nicht, dass er voll in den Strudel der Weltgeschichte hineinschipperte – ganz naiv, denn so ungefähr kann ich mir das, was ihm damals geschah, aus seinen Seemannsdöntjes zusammensetzen:

Er war „Heizer“ auf dem amerikanischen Pott. Er verrichtete also die körperlich schwerste, dreckigste und gefährlichste Arbeit, die auf einem Dampfschiff seiner Epoche abzuleisten war. Zwei Stunden Schwerstarbeit bei Temperaturen, die den Körper aufkochen lassen, zwei Stunden „Erholung“, und dann wieder zurück in die Hölle …

Von „oben“ sah er vermutlich nicht viel bei den wenigen Landgängen in irgendeinem der Häfen auf seinen Törns. Und wenn er überhaupt etwas sah, dann waren es die Kneipen- und Bordellmeilen, die auf ihn und seinesgleichen angewiesen waren. Als er schließlich den amerikanischen Dampfer verließ und in den USA abheuerte, wurde ihm eine große Ehre zuteil: ihm wurde die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angeboten. Er hätte sofort – oder wann immer es ihn gelüstete – amerikanischer Staatsbürger werden können, ohne bürokratischem Aufwand.

„Ich hatte nämlich am spanisch-amerikanischen Krieg teilgenommen und die Amerikaner haben den Krieg gewonnen.“ Dann lachte er: „Ich gehörte zu den Helden.“

Als ich das als Kind hörte, konnte ich mit dem Begriff „spanisch-amerikanischer Krieg“ nichts anfangen. Später stellte ich mir vor, dass er auf einem der vielen Logistik-Dampfer malochte, die die Kriegsschiffe vor der kubanischen (oder gar der phillipinschen?) Küste mit Munition und Fourage versorgten. Möglicherweise aber schuftete er gar auf einem der Kriegsschiffe – das ging aus seinen Erzählungen nicht hervor. Wie auch immer: ohne dass er es auch nur ahnte, trug er sein Scherflein dazu bei, das spanische Kolonialreich für immer zu zertrümmern und die imperiale Größe der USA zu begründen, der Weltmacht des 20. Jahrhunderts. Das war im Jahr 1900. Er durfte US-Amerikaner werden ohne bürokratischen Firlefanz – ein großes Geschenk zur Jahrhundertwende.

Die Liebe hielt ihn davon ab, das Angebot der USA anzunehmen. Wann er die Seefahrt aufgab, das weiß ich nicht genau – in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts, so steht zu vermuten. Auf jeden Fall: „sein Mädchen“ in der Heimat hatte Angst vor dem großen Sprung ins Unbekannte, sie wollte nicht mit ihm auswandern. Und er blieb bei ihr – zuhause.

Stattdessen nahm die ganz normale, brav-bürgerliche Geschichte ihren üblichen Lauf: im Jahre 1907 heiratete er „sein Mädchen“, meine sanfte Oma, wurde 1908 Vater einer Tochter, meiner Tante, und 1910 Vater eines Sohnes, meines Vaters. Als der Erste Weltkrieg begann, war er bereits 36 Jahre alt. Es gibt keine Kriegserzählungen von ihm, so dass ich annehme, dass er nicht mehr an die Front musste und somit um die belgischen Knochenmühlen herumkam.

Irgendwann im ersten oder zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts wird er seine Meisterprüfung abgelegt haben, irgendwann nach Ende des Ersten Weltkriegs zog er nach Hameln und erfüllte sich seinen Traum: er machte sich selbstständig – als Schlosser, Klempner, Autohändler und Automechaniker.

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Mein Gefühl ihm gegenüber blieb zeit meines Lebens ambivalent. Ich hatte ihn im Kleinkindalter als sadistischen Prügler erfahren – und das blieb unauslöschlich in meiner Erinnerung. Ich sah ihn von diesem Ereignis an immer mit Verachtung, einer sehr tief sitzenden Verachtung, die sich während unseres engen Zusammenlebens in der Baracke – so ganz dicht neben seiner Werkstatt – eher noch verstärkte.

Allerdings gibt es in der Familiensaga drei Erzählungen, die mich immer für ihn eingenommen und das negative Bild, das ich von ihm hatte, aufgehellt haben, denn sie zeigen mir eine kraftvolle, mutige Persönlichkeit, die er zweifellos auch war. Oft wird bei Familienanekdoten ja dieses oder jenes geschönt und übergoldet, doch diese drei Erzählungen meines Vaters über seinen Vater empfand ich immer als authentisch und glaubwürdig. Genau so wird sich das abgespielt haben, dachte ich stets, denn was ich hörte, passte voll zur Art des Alten, zu seinem Charakter, zu seiner Wut.

***

Die erste Anekdote geht weit zurück in die Kindheit meines Vaters. Der ist gerade mal fünf Jahre alt. Sein Vater und er beobachten einen Droschkenkutscher, der mit seiner vollgeladenen Karre – von einer Mähre gezogen – eine Steigung zu bewältigen versucht. Als der entkräftete Gaul stehen bleibt und sich weigert, auch nur noch einen Schritt zu laufen, wird der Mann wütend und schlägt auf das Pferd ein. Schließlich greift er sich eine schwere Mistforke und sticht dem armen Tier damit in die Hinterbacken.

Als mein Großvater das sieht, bekommt er einen seiner klassischen Wutanfälle. Er rennt auf den Tierquäler zu und entreißt ihm die Forke.

„Was sich dann abspielte, beeindruckt mich noch heute. Er schwingt die schwere Mistgabel mit nur einem Arm über seinen Kopf. Er steht direkt vor dem Kutscher und schlägt zu. Ich dachte: jetzt schlägt er den tot. Doch er hatte seinen Schlag genau berechnet: das schwere Ding knallt nur wenige Zentimeter neben dem Mann auf das Kopfsteinpflaster. Der Schaft aus massiver Eiche zersplitterte wie ein dünner Ast“, so erzählte mein Vater. „Der Mann war völlig erledigt. Der zitterte vor Angst. Mein Vater befahl ihm dann, den Gaul vorne am Zügel zu führen. Er fasste selbst hinten an der Karre an und schob sie mit aller Kraft den Berg hinauf.“

***

Da war der Alte siebenunddreißig Jahre alt, in voller Manneskraft, wie die Geschichte nahelegt. Den zweiten mutigen Akt, der mich noch stärker beeindruckte und für ihn einnahm, datiere ich auf das Frühjahr 1933, in die Zeit um die Reichstagswahl (5. März 1933), als der Nazi-Terror bereits auf Hochtouren lief. Da war er fünfundfünfzig Jahre alt.

Zu jener Zeit war seine Werkstatt in einem größeren Holzschuppen an der Ohsener Straße untergebracht. Ich habe sie als kleiner Junge noch kennengelernt, denn auf dem Grundstück vor dem großen stabilen Schuppen, der all seine Maschinen und Werkzeuge enthielt, hatte meine sanfte Oma einen kleinen Garten angelegt und wenn ich die Großeltern dort besuchte, durfte ich in ihrem Gärtchen „arbeiten“. Sie zeigte mir, was ich zu tun hatte, und ich war eifrig bemüht, ihr alles recht zu machen und ihr zu gefallen. Ich mochte gerne mit ihr zusammen sein. Ich mochte meine stille, freundliche Großmutter sehr.

Die Werkstatt lag vielleicht tausend Meter Fußweg von der Wohnung meiner Großeltern entfernt und um die Mittagszeit ging der Meister nach Hause, denn täglich kochte ihm seine Frau sein Mittagessen. Eines Tages – Frühjahr 1933 – sitzen die beiden in ihrer Küche und essen. Er spürt, dass seine Frau bedrückt und unglücklich ist. Etwas stimmt mit ihr nicht, es irritiert ihn, er wird wütend. Schließlich knallt er sein Besteck auf den Tisch:

„Was ist los?“

Sie fängt an zu weinen und erzählt ihm, was vorgefallen ist. Sie war am Morgen zu ihrem Kurzwarenhändler in die Osterstraße gelaufen. Sie nähte immer sehr viel an ihrer „Singer“ und brauchte Material: Knöpfe, Bänder, Stoffe, was auch immer …

„Vor dem Geschäft stand ein Mann in einer Uniform. Der hinderte mich daran, das Geschäft zu betreten. Der pöbelte mich an und schubste mich zurück, als ich reingehen wollte.“