Kitabı oku: «Die Wiedergutwerdung der Deutschen», sayfa 3

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Diese Frage beantwortet in einer eigens zu diesem Zwecke gegründeten Zeitschrift namens Babylon Dan Diner mit einer Variation auf das seit der Friedensbewegung in Deutschland beliebte Rollenspiel, sich für das Opfer zu halten, indem er sich als Max Horkheimer verkleidet und darauf hofft, man werde ihn verwechseln: »Wir jüdischen Intellektuellen, die dem Märtyrertod unter Hitler entronnen sind, haben nur eine einzige Aufgabe«, zitiert er aus den »Notizen« als blicke er in einen Spiegel. Herausschaut aber das austauschbare Gesicht der A13-Kultur. Nicht dem Märtyrertod ist er entronnen, entkommen ist er der Frankfurter Szene, was ja auch eine glückliche Schicksalsfügung sein kann. Vor Jahren schrieb er im Westend über den Nahen Osten ein Buch mit dem Titel: »Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser«, was nicht persönlich gemeint war: heute ist er Professor in Tel Aviv.

In der Bundesrepublik sind zum Jubiläumsjahr der »Kristallnacht« alle fleißig am Graben, Recherchieren, Renovieren und Publizieren, um sich mit der wiedergefundenen Einzigartigkeit der deutschen Geschichte über die eigene Mittelmäßigkeit hinwegzutrösten. Ein halbes Jahrhundert nach der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden, die 1938 einen Höhepunkt erreicht hatte, sind die Vertriebenen und Ermordeten zum Material einer gemeinnützigen Wachstumsindustrie geworden: There is no business like Shoahbusiness.

Die »Wiederjudmachung Deutschlands«, wie die Allgegenwart jüdischer Themen in den Medien von jenen bezeichnet wird, die in regelmäßigen Abständen den Deutschen erklären, dass Auschwitz kein Sanatoriumsaufenthalt für sie war, ist inzwischen zu einem flächende­ckenden Arbeitsbeschaffungsprogramm geworden. Keine Gemeinde ist mehr ohne Judenreferent, jeder Sender hat seinen Vernichtungsexperten – die Nazis hätten sich die Finger nach so viel Fachleuten geleckt. Durch deren vereinigte Anstrengung gibt es zwar in der Bundesrepublik nicht weniger Antisemiten, nur weniger Arbeitslose, aber es wird durch sie noch einmal bestätigt, was zur Erfahrung der letzten Jahrzehnte gehörte: dass Erinnerung in Deutschland die höchste Form des Vergessens darstellt. Ihr Modell ist, vom Ende des Hauptbeteiligten abgesehen, der Eichmann-Prozess.

Nach seiner Festnahme in Argentinien wurde Eichmann aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, er sei einverstanden, vor ein israelisches Gericht gestellt zu werden. Diese Erklärung unterzeichnete er erst, nachdem er deren Sprache seinem grammatikalisch verkorksten Amtsdeutsch anverwandelt und ihr eine kuriose Bitte hinzugefügt hatte: »Nachdem ich mich nicht an alle Einzelheiten mehr erinnere und auch manches verwechsle und durcheinanderbringe, bitte ich, mir dabei behilflich zu sein, durch Zurverfügungstellung, durch Unterlagen und Aussagen, die meinen Bemühungen, die Wahrheit zu suchen, behilflich zu sein.«

Monatelang, Tag für Tag, erst im Gefängnis, dann im Gericht, bemühten sich die Prozessbeteiligten um den Angeklagten wie Pädagogen, die einem begriffsstutzigen Kind eine Vorstellung von dem zu geben suchen, was es angestellt hat. Doch die Mühe war vergeblich, Eichmann las die von ihm unterzeichneten Anordnungen, die ihm vorgehalten wurden, mit derselben Beflissenheit durch, mit der er sie einst ausgefertigt hatte. Er hatte gewissermaßen seinen Arbeitsplatz aus der Berliner Kurfürstenstraße in den Glaskasten im Jerusalemer Landgericht verlegt.

Die Verlaufsform der deutschen Vergangenheitsbewältigung ähnelt auf frappante Weise jenem juristischen Schauspiel in Jerusalem. Wie der ewige Student saßen die Deutschen in einer Art Dauerrepetitorium und zeigten sich resistent gegen jede Aufklärung über die eigene Vergangenheit. Weil der Student nun im annähernd neunzigsten Semester sich befindet und immer noch bei jeder Prüfung durchfällt, werden anlässlich des Pogrom-Jubiläums wieder zahllose Sendungen, Veranstaltungen und Ausstellungen als Nachhilfeunterricht angeboten. Damit nun der Kandidat nicht sofort wieder alles vergißt und zwischenzeitlich – wie bei der Bundeswehr geschehen – nicht symbolisch ein paar Juden verbrennt, bietet das erste Fernsehprogramm im Anschluss daran einen Intensivkurs über die Endlösung an: einen Mehrteiler über die Massenvernichtung vom Nordkap bis zur Ägäis. Um die Lernmotivation des Studenten kümmert sich ein ganzes Rudel von bislang arbeitslosen Lehrern, die nun den neugeschaffenen Beruf des Betroffensheitsarbeiters ausüben nach der Devise: »Wenn Sie bisher Juden ausrotteten, dann müssen Sie jetzt Judenpfleger sein.«

Diese Neufassung der Sonderbehandlung war einer der letzten Befehle, den Eichmann von Himmler erhalten hatte und nur mangels Gelegenheit nicht ausführen konnte. Der Umschwung wäre dem erklärten Hobbyjudaisten nicht schwergefallen. Statt seiner bemühen sich nun andere darum, diese Direktive zu befolgen. Mit päda­gogischem Eifer sind sie darum bemüht, den Glaskasten in ein historisches Terrarium, in einen Erlebnisraum umzugestalten. Wenn einer schon nichts begreift, dann soll er wenigstens was zum Anfassen haben. »Ihre Neugier auf sinnliche Erlebnisse ist offensichtlich; die Phantasie möchte sich an der Retrospektive beteiligen«, schrieb W.F. Schoeller in der Süddeutschen Zeitung voller Sympathie für die Restverwerter, die angesichts der freigelegten Fundamente des jüdischen Gettos in Frankfurt ins Schwärmen gerieten. Weil es dort aber nur viel Steine und wenig Tod gibt, ist die Ausbeute an sinnlichen Erlebnissen mager. Von Arnulf Baring, dem Peter Alexander der deutschen Historiker, kam ein ganzes Bündel von Vorschlägen, diesen Erlebnishunger zu stillen, darunter die Anregung, in die sinnliche Wahrnehmung der Vergangenheit auch ein Schnupperstudium mit »Zyklon B« einzubeziehen. Das neueste Stimulanz zur Beflügelung des Lerneifers ist jedoch, nachdem die »Geschichte von unten« an ihre natürlichen Grenzen, ans Grundwasser, gestoßen ist, die »Geschichte von innen«. So bezeichnen Menschen, die die Geschichte lieben, aber ihresgleichen offenkundig nicht respektieren, ein Projekt, in welchem sie Überlebende in ihre »Geschichtswerkstatt« locken, um Hand an sie zu legen. Die einst Verfolgten und Gequälten sollen dort, möglichst naturgetreu, ihr Opferschicksal rekonstruieren. In einem Versuchsprotokoll heißt es: »Der Zeitzeuge berichtet nicht nur mündlich, sondern er durchlebt gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch einmal den geschichtlichen Vorfall. Bei allen Beteiligten, nicht nur bei S. selbst, führte dies zu tiefen und eindringlichen emotionalen Reaktionen. ›Betroffenheit‹ wurde vom Schlagwort zur Realität.«

Zwei prominente Beutestücke, die den Jägern der verlorenen Einmaligkeit wieder in die Hände gefallen sind, liegen in Berlin: die ausgebuddelten Gestapo-Keller und die Wannsee-Villa, wo 1941 bei einem Arbeitsfrühstück die Richtlinien der Massenvernichtung beschlossen wurden.

Diese Villa soll, wie das Gruseltroja an der Mauer, als eine Art Spukschloss am Wannsee künftig das Pflichtprogramm von Klassenfahrten nach Berlin ergänzen. Und die Historiker, die die deutsche Selbstfindung in der Professoralform und im Feuilleton versanden ließen, sollen hier wieder zur aktuellen Eingreiftruppe werden. In einer Art Neuauflage der Wannseekonferenz, die den Neid alternativer Freilandhistoriker auf sich zöge, könnten dann jene seit der TV-Sendung »Holocaust« unvermeidlichen Expertenrunden stattfinden. In der Atmosphäre des neuen Bekenntnisses zur Einzigartigkeit würde dann gewiß die immer noch brennende Streitfrage nach der maximalen Kapazität der Verbrennungsöfen zufriedenstellend geklärt.

Damit ein solcher Ort jedoch richtig zum Übungsgelände für Identität und Nationalbewusstsein wird, dafür müssen dann die Kleinkünstler der Selbstwiedergutmachung sorgen – die Schriftsteller. Denn wo die Begriffe fehlen, da stellt sich eine Lesung ein. Und dafür, dass ihn vom Kanzler bis zum Regierenden Bürgermeister alle plagiieren, könnte sich Peter Schneider dann mit einer Lesung aus »Vati«2 revanchieren.

1988

Zweimal 9. November
Oder: Die Juden sind unser Glück

»Kinder, es lebe die Nachkriegszeit, denn bald wird sie wieder zur Vorkriegszeit.«

Song aus dem Film »Wir Wunderkinder«

Erinnert sich noch irgend jemand an den sogenannten Historikerstreit? An jene einschläfernde Debatte über die jüngere deutsche Geschichte, an jene bloß akademische Auseinandersetzung, die in Wirklichkeit längst entschieden war, ehe sie in der Professoralform nochmals verschied und aufwendig in Feuilletons und zwischen Buchdeckeln beerdigt wurde? Das Klagelied über »die Vergangenheit, die nicht vergehen will«, hat sich nach dem 9. November 1989 in einen Triumphgesang verwandelt, mit welchem der unbefleckte Wiedereintritt in die Weltgeschichte gefeiert wurde. Kaum war die Grenze innerhalb Berlins einen Spaltbreit geöffnet worden, da fielen im Bonner Parlament schon alle Schranken: die Fraktionen grölten die Nationalhymne. Das hatte es zum letzten Mal Anfang 1933 gegeben.

Berlin ist der Ort, an welchem die deutsche Nachkriegsgeschichte für alle sichtbar zu Ende geht. Mit der Öffnung der Mauer brach freilich nicht nur die Begrenzung eines von Deutschen erstmals für die eigene Bevölkerung errichteten Gettos zusammen, sondern mit jedem Stein, der aus der Mauer gehämmert wurde, fiel auch allen eine Zentnerlast vom Herzen: das letzte markante Erinnerungszeichen daran, dass die Deutschen den Zweiten Weltkrieg doch nicht gewonnen hatten, begann zu verschwinden. Die Teilung hatte dieses Land, wie man nun sehen konnte, nicht halbiert, sondern vor allem dessen Bereitschaft zur vorsätzlichen Amnesie verdoppelt. Und der Regierende Bürgermeister von Berlin brachte die mit Hämmern und Alkohol durchgeführte Selbstabsolu­tion auf die von allen Politikern übernommene Formel, dass dieser Tag ein historisches Datum sei. Die total entsorgten Gemüter und ihre freiwillig gleichgeschaltete Presse mussten erst wieder vom Ausland daran erinnert werden, dass dieses Datum längst ein historisches war. Doch inzwischen lief das »glücklichste Volk der Erde« (Momper) schon in T-Shirts herum, auf denen zu lesen war: »9. November – ich war dabei«. Die Veteranen werden sich über diese generationsübergreifende Wiedervereinigung gefreut haben.

Das übermächtige kollektive Verlangen, den Prozess der nationalen Rehabilitierung der Deutschen als Deutsche endlich zum Abschluss zu bringen, kulminierte ein Jahr zuvor noch darin, dass 1988 Deutsche und Juden sich heftig versöhnten. Woran indes die damalige Zeremonie noch krankte, war nun behoben: nun fielen sich nur rein Deutsche in die Arme.

Aus dem von einer Mauer umgebenen Gefängnis ihrer eigenen Geschichte befreit, machten sich die Prolet-Arier auf, um sich mit der Drohung »Wir sind das Volk« mit ihren bislang von einer starken Währung, Schweizer Schokolade und amerikanischer Kultur im Zaum gehaltenen Brüdern und Schwestern in einer Abstammungsgemeinschaft zu vereinigen.

Die Wiedervereinigung mit der deutschen Geschichte ging dem nationalen Zusammenschluss voraus. Für die historische Versöhnung hatte man die Juden noch gebraucht. Mit der im November endgültig und unwiderruflich vollzogenen Verwandlung der beiden deutschen Staaten in die, wie sich rasch zeigen sollte, völkische Einheit Deutschland, waren hingegen die im letzten Jahr so ausgiebig gefeierten Juden als Seelentröster ganz entbehrlich geworden.

Aus der schon immer an Israel, dem beliebtesten Tummelplatz deutscher Selbstentlastung, gewonnenen Einsicht, es sei niemand besser als die Deutschen, machte der Herausgeber des Spiegel Rudolf Augstein einen aktuellen kategorischen Imperativ: »Warum ein geteiltes Berlin, wo doch für Jerusalem trotz aller ethnischen- und Annexionsprobleme gelten wird: Zweigeteilt? Niemals«, schrieb er am 6. November 1989, als käme er aus einer jenseitigen Redaktionskonferenz Axel Springers zurück, der dies fast wörtlich vor über zwanzig Jahren geschrieben hatte. Um jedoch Verwechslungen mit dem vergleichsweise gemäßigten Chauvinismus der Bild-Zeitung auszuschließen, fügte Augstein noch folgenden Satz hinzu: »Dies falsche Gewicht wird die junge Generation, weil das nämlich nichts mit Auschwitz zu tun hat, nicht mehr mittragen.« Mit anderen Worten: es sollte niemand etwas tun dürfen, was den Deutschen untersagt ist, schon gar nicht die Juden.

Andere Zeitungen ersparten sich den langen Umweg über Israel und wiesen mit je nach Klientel verschiedenen Andeutungen darauf hin, dass jener flüchtige Staatssekretär der DDR, der nicht so muffig und spießig gelebt hatte wie seine nun vom volksgemeinschaftlichen Sozialneid heimgesuchten Landsleute, dass jener Mann, der Devisen in die Schweiz geschafft hatte, Jude sei. Mit einem catch-word des stalinistischen Judenhasses rüstete die taz das Ressentiment ihrer antifaschistischen Leserschaft auf und teilte unter der Überschrift »Die Biografie eines Kosmopoliten« mit, dass auch ein Mitarbeiter des Devisenhändlers nun völkisch identifiziert worden war. »Wir sind das Volk« skandierten unterdessen diejenigen, die bloß gern wie die geschassten Funktionäre im schäbigen Ne­ckermann-Luxus daheim wären. Und der DDR-Staats­sekre­tär Schalk-Golodkowski wußte, als er sich absetzte, dass man besser die Koffer packt, wenn in Deutschland sich die Bevölkerung in das Volk verwandelt. Er wollte nicht jenen in die Hände fallen, die über Nacht aus Mitläufern zu einer nach Ermittlungskommandos gegliederten Volksgemeinschaft geworden waren.

Wie es zum Selbstbild der bundesrepublikanischen Gesellschaft gehört, die Deutschen seien das erste Opfer Hitlers und die Nachkriegsgesellschaft eine Vereinigung von Hinterbliebenen gewesen, so präsentierte sich die Bevölkerung der DDR vom untersten Volkspolizisten bis zum höchsten Parteifunktionär als allesamt von ein paar Schurken betrogene Idealisten. Und natürlich hatten alle von nichts gewusst. Mit diesen Auskünften war auch dem letzten Zweifler im Westen klar, nicht, dass hier jemand seine sofortige Entmündigung verlangte, sondern dass es sich bei dem Mob, der nun zur Parole »Deutschland einig Vaterland« überging, tatsächlich um die eigenen Brüder und Schwestern handeln musste. Und gerade dieser Nähe wegen werden sie sich, wenn die Familienfeier erst einmal vorüber ist, auch künftig nicht ausstehen können.

Einer mit ganz ausgeprägtem Familiensinn in diesen bewegten Tagen war der Schriftsteller Martin Walser. Seit er an der Teilung Deutschlands litt, genas seine Literatur zusehends. Und die völlige Wiederherstellung seiner Gesundheit vermeldete er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einem schwärmerischen Lobgesang auf die Medizin: »Es gibt das Volk, das ist jetzt bewiesen.« Bewiesen war freilich nur, über welche Klarsicht die Nazis damals verfügten mit der Aufforderung: »Nun Volk steh auf und Sturm brich los!« Nun stand ein Begriff auf, und als die Sache losstürmte, wollten viele den Anschluss nicht verpassen. Auch die Grünen nicht. Ganz so, als sei dieser Begriff zwischenzeitlich nur eingemottet gewesen und habe etwas Staub angesetzt, holte ihn Joschka Fischer frischgebügelt aus der historischen Tiefendimension hervor: »Zum ersten Mal auch seit der blutigen Niederschlagung von 1848 hat der Begriff ›Volk‹ wieder einen guten, einen aufrechten Klang«, blochte er in der taz. Dieser »gute, aufrechte Klang« hallte wieder in den »Rote raus!«-Parolen der fundamentalistischen Montagsumzüge in Leipzig; er hallte wieder in den Schlägen, mit denen die vom Parteimitglied zum Volksgenossen aufgestiegenen Befehlsempfänger ihrer inneren Stimme nun Ausländer malträtierten; er hallte schließlich wieder im Geräusch umstürzender Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen – einer Morgengabe, auf welche noch keine deutsche Volksbewegung verzichten wollte.

Dabei hätten die Deutschen doch Grund genug, gerade den Juden für den erfolgreichen Abschluss ihrer nationalen Selbstfindung dankbar zu sein. Noch im letzten Jahr hatten sie sich in zahlreichen Ausstellungen, im Radio und im Fernsehen, in Geschichtswerkstätten und in neu gegründeten jüdischen Museen über die Toten hergemacht. Je heftiger sie sich mit jüdischen Toten beschäftigten, desto lebendiger wurden sie selbst. Je gründlicher sie erforschten, was jüdisch sei, desto fundamentaler erfuhren sie sich als Deutsche; kurz: am 9. November 1989 wurde ein kollektives Bedürfnis befriedigt, das der manischen Beschäftigung mit den Juden logisch von An­beginn zugrunde lag. Seit alle wieder Deutsche sind, müsste es deshalb bei ihnen in unbefangener Umkehrung eines alten Grundsatzes nationaler Selbstvergewisserung heißen: »Die Juden sind unser Glück.« Denn was wäre ohne sie aus der Endlösung der deutschen Frage geworden?

1989

Biotop mit toten Juden

Jede Untat hat auch ihre guten Seiten. Der Dieb stiehlt, damit wir das Privateigentum verteidigen, der Mörder mordet, damit wir das Gewaltmonopol des Staates anerkennen. Jedes Laster verweist auf die Tugend: ohne Verbrechen also keine Moral. In den Zustand dieser prästabilierten Harmonie von Gut und Böse ist mittlerweile auch die jüngere deutsche Geschichte aufgestiegen, nachdem allgemein anerkannt ist, »dass Deutschland der Welt viel mehr geschenkt hat als Auschwitz je kaputtmachen könnte« (Schönhuber). Schließlich: ohne Hitler kein Staat Israel, ohne die Vertreibung keine Exilforschung und ohne die Vernichtung der Juden keine Woche der Brüderlichkeit.

Vor dem Hintergrund dieser neuen Ausgewogenheit, die von einem hauptamtlichen Geschichtsverwalter mit der ansprechenden Dienstbezeichnung »Leiter des Referats ›Gedenkstätten‹ in der Berliner Senatskanzlei« als »eine erwachsene Form nationaler Identitätssuche« bezeichnet wurde, ist der Enthusiasmus zu sehen, welchen gegenwärtig eine Ausstellung der Berliner Festspiele aus­löst: ohne deutschen Lebensraum keine »Jüdischen Lebenswelten«. Die gigantische Ausstellung im Gropius-Bau wird flankiert von einer Reihe weiterer Ausstellungen in der Akademie der Künste, auf dem jüdischen Friedhof Weißensee und im Haus der Wannseekonferenz. Und wer alle dazugehörigen Führungen, Konzerte, Theater- und Filmveranstaltungen, Vorträge und Lesungen besucht, wird dann bis Ende April wahrscheinlich den Zustand geistiger Verwirrung erreicht haben, den der Berliner Kultursenator schon im Januar bei der Eröffnung einer Ausstellung an den Tag legte, als er sich nicht zu entscheiden wußte, ob die Nazis nun besiegt worden waren, abgetreten sind oder einfach »Tschüss« gesagt haben. Er entschied sich dann doch für: abgetreten.

Während des Historikerstreits hatte der Kanzler ein Machtwort gesprochen: die deutschen Verbrechen seien unvergleichlich und einzigartig. Sein feinsinniger Vorgesetzter Weizsäcker übernahm nun die Schirmherrschaft über die »Jüdischen Lebenswelten«, eine andere Spitzenleistung, nach der es ohne die vorausgegangene kein Bedürfnis gegeben hätte. Vor fünfzig Jahren hatten die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten Millionen von Juden aus aller Herren Länder ordentlich eingesammelt und fürsorglich umgebracht. Zum Jubiläum wurde, wie es anerkennend in der linken Wochenzeitung Freitag hieß, der Versuch gemacht, was übrig geblieben war, »praktisch wieder einzusammeln«. Auf 4500 Quadratmetern sind fast 2500 Objekte von über 300 Leihgebern aus aller Welt zu sehen, eine Meisterleistung, auf die Festspielintendant Eckart besonders stolz ist: »... die bedeutendste Ausstellung von Handschriften, die es weltweit je gegeben hat«. Man gedenke mit dieser Ausstellung auch »des versuchten Völkermordes der deutschen Reichsregierung an den europäischen Juden«, fährt er im Geleitwort des Katalogs fort in der Gewissheit, dass versuchter Völkermord strafbar, aber eine derartige Bemerkung über den Dilettantismus der Nazis ungeahndet bleibt. Ohne die Todeslager keine »Jüdischen Lebenswelten«. Die Aufeinanderfolge gehorcht dem deutschen Grundsatz: erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Erst wurden die Juden bürokratisch vernichtet, jetzt werden sie gefühlig veredelt. Die niederen Instinkte, von denen die pflichteifrigen Normalvergaser bei ihrer Dienstausübung ja gar nicht getrieben wurden, kommen erst fünfzig Jahre später und als erhebende Gefühle zutage. Insofern sind die Deutschen erst nach Auschwitz zu Rassisten geworden, die ihren psychischen Haushalt mit der vergleichsweise ungefährlichen postmortalen Sonderbehandlung der Opfer regulieren.

Alle beteuern angesichts der kulturellen Materialschlacht, wie groß der Verlust durch die Austreibung und Ermordung der Juden sei. Doch diesen Verlust hat in den letzten fünfzig Jahren nicht nur niemand verspürt: es ist gar keiner. Denn in Wahrheit hat die Massenvernichtung bewiesen, erstens, dass man sie veranstalten kann, und zweitens, dass ein derartiges Verbrechen langfristig gut ausgeht und sich nicht nur in Exportquoten, sondern auch in Ausstellungen, also in Kultur auszahlt. Die Klage über den Verlust ist ohnehin nicht ernst gemeint. Es handelt sich dabei um eine weinerliche Selbstbezogenheit, nicht um Trauer über andere, sondern um Mitleid mit der eigenen Banalität, kurz: um die Behauptung, die Deutschen hätten sich mit ihren Verbrechen selbst etwas angetan. Indem sie sich nun vor Bildern und Porträts bekannter Persönlichkeiten versammeln, versichern sie sich in einer Art posthumer Familienzusammenführung, dass sie selbst den Verlust eines berühmten Onkels oder einer wohlhabenden Tante zu beklagen hätten.

Stärker noch als das Bedürfnis der Sieger, sich als Opfer einer kulturellen Selbstverstümmelung zu fühlen, ist indes ihr unersättliches Verlangen, die einst Ausgestoßenen sich auf jede nur denkbare Weise einzuverleiben, sei es durch die grassierende Vorliebe für jüdische Vornamen, die peinliche Überwachung israelischer Politik, den ununterbrochenen christlich-jüdischen Dialog, die Inbesitznahme jiddischer Folklore oder eben durch die »Jüdischen Lebenswelten«, der multikulturellen Version wie begrifflichen Zusammendrängung zweier deutscher Konzepte: von Lebensraum und Weltjudentum. Die Ausstellung im Gropius-Bau ist eine mitunter wegen Überfüllung geschlossene Wallfahrtsstätte, an der sich die Besucher in einer Atmosphäre von Betroffenheit und Lust über die Toten hermachen, um deren imaginierte Eigenschaften zu verzehren. Im Unterschied zur selbstlosen Niedertracht der Nazis gehorcht diese frivole Kommu­nion dem ganz eigennützigen Zweck jener »erwachsenen Form nationaler Identitätssuche«, deren heimliche Devise lautet: am jüdischen Wesen soll Deutschland genesen.

Überhaupt soll, nach so viel Jahren trübsinniger Vergangenheitsbewältigung, bei dieser Jubiläumsfeier alles fröhlicher werden: nicht mehr schämen, sondern schunkeln. Vor gut einem Jahrzehnt hieß es noch: »Das Opfer tröstet den Henker«; heute kann man anlässlich jiddischer Folklore-Abende und Klezmer-Musik vom Fortschritt der Entspannung lesen: »Wenn Max Epstein mit seinem ›Yidish Lidele‹ vor das Mikrofon tritt, hat er auch die hin­ters­ten Eckensteher im Saal schnell zum Mitsingen animiert.« Denn die Deutschen sind des trocknen Tons satt und wollen endlich zum geselligen Teil der Fortbildung übergehen. »Immer aber wird in diesem Prozess die sinnliche Anschauung besonders wichtig sein«, verspricht deshalb verführerisch das Programmheft der »Jüdischen Lebenswelten«, um allerdings einen Atemzug später darauf hinzuweisen, dass man doch besser zuhause bleibt: »Sinnliche Anschauung wiederum vollendet sich dann, wenn ganz bewusst die menschliche Begegnung stattfindet.«

Wie berechtigt diese Warnung ist, zeigt die Ankündigung eines Theaterstücks, dessen degoutantem Titel »Der Liebesgesang der Alphabete von Auschwitz« eine Erläuterung beigefügt ist: »Auschwitz steht als Symbol für die Sprachlosigkeit, zeigt die Gefahren auf, denen der Mensch unterliegt, wenn er sich ins Unbenennbare begibt. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch Vertreter der zweiten Generation erweitert die Wahrnehmungsperspektive in Richtung Gegenwart«. Veranstaltet wird diese bewusste menschliche Begegnung des dritten Grades von einem Verein mit dem programmatischen Namen »Kultur-Brauerei«.

»Einladende Erlebnisräume« werden im Gropius-Bau versprochen. Wer indes dort enttäuscht vor Glasvitrinen steht und die Animateure vermisst, kann sich in eine Veranstaltungsreihe an der Akademie der Künste einschreiben. Dort begleitet eine »Jugendtheaterwerkstatt Spandau« die Ausstellung über jüdisches Theater in der Nazizeit mit einem Workshop, bei dem es Geschichte zum Anfassen gibt. Noch vor einiger Zeit hatten Museums­pädagogen gemeint, das Riechorgan sei für eine Versinnlichung der deutschen Geschichte entscheidend und hatten für das geplante Deutsche Historische Museum den Nachbau einer Vergasungsanlage mit echtem Zyklon-B-Geruch vorgeschlagen. Anstelle dieses eingeschränkten Schnupperstudiums setzen die Pädagogen der »Jugend-Theaterwerkstatt« auf ganzheitliche »spielerische Vor- und Nachbereitung des gemeinsamen Ausstellungsbesuchs«, auf »Warming up« und »körperliche Spiele«. Und sollte sich beim symbolischen Aufwärmen eines Juden oder beim pädagogischen kontrollierten Fausthieb an der Rampe einer der Schüler zu sehr in die Nazis einfühlen, dann hat er sich damit für eine Gruppentherapie bei Margarete Mitscherlich qualifiziert. Dort können, wie die Psychologin in Berlin vorschlug, Jugendliche den »Hitler in uns« anerkennen, indem sie um den toten Führer trauern. Diese Fähigkeit zu trauern sei die Voraussetzung für Toleranz und Völkerverständigung. Derart abs­trus hat noch niemand in Deutschland zur Bildung einer kriminellen Vereinigung aufgefordert.

Wem Geschichte von innen nicht liegt, der kann Geschichte von unten kennenlernen. Der natürliche Ort, an dem Geschichte sozusagen von ganz unten betrachtet werden kann, ist der Friedhof, gegenwärtig vorzugsweise der jüdische Begräbnisplatz. Der größte liegt in Berlin-Weißensee. Zumeist verfallen und von Wildwuchs überwuchert, bietet er sich als reizvolles Erholungsgebiet für alle jene an, die auf dem beschwerlichen Weg der historischen Selbstfindung nicht nur über Leichen gehen wollen, sondern gleichzeitig ins Grüne. Der jüdische Friedhof ist für dieses Bedürfnis historischer und ökologischer Lebensraum zugleich, ein Biotop mit toten Juden, in welchem abwechselnd randaliert und restauriert wird in der Absicht, die drängende Frage: »Wer bin ich?« zu beantworten.

Während der Autor eines Fotobandes über die jüdischen Friedhöfe Berlins seine Recherchen von einem Geburtsfehler, einem »Grunddilemma«, wie er schrieb, beeinträchtigt sah, nämlich von dem Umstand, »als Nicht­jude von außen eine hingemordete Kultur zu rekonstruieren«, demonstrierten vor einiger Zeit, im damals noch antifaschistischen Ostberlin, einige Jugendliche auf handgreifliche Weise, dass auch sie mit einem völkischen Restrisiko auf den Friedhof gekommen waren. Erst bei der Zerstörung von jüdischen Grabsteinen, so die Halbwüchsigen vor Gericht, hätten sie sich richtig als Deutsche gefühlt. »Primitive Rechtfertigungsversuche, wie man sie in einer Welt hört, die nicht die unsere ist«, schrieb damals der Gerichtsreporter der Ostberliner Wochenpost über die werktätigen Friedhofsbesucher seiner Stadt, in welcher die jüdischen Friedhöfe auch ohne randalierende Nachhilfe verrotteten.

Dass jüdische Friedhöfe gerade bei jenen Zeitgenossen, die sich für die besseren Deutschen halten, gegenwärtig so starke Beachtung finden und sich Fotos mit Gruften im Oktoberlicht bei Lesern oder Ausstellungsbesuchern so großer Beliebtheit erfreuen, hat wenig mit Juden zu tun. Wie jedes Erinnern heute, so ist auch die Verzückung, mit der die nekrophilen nichtjüdischen Mitbürger zurzeit scharenweise auf jüdischen Friedhöfen einfallen, nicht selbstlos. Der gefühlige Rundgang soll den vergangenen Schrecken mildern und den künftigen – nämlich die Drohung, so spurlos wie die meisten Juden zu verschwinden – bannen, indem der unerträgliche Gedanke an den Rauch aus den Schornsteinen durch die nostalgische Hinwendung zur pittoresken Endlagerstätte ersetzt wird.

Die euphorische Wiederentdeckung der jüdischen Totenwelt, die mit der Begeisterung für die »Jüdischen Lebenswelten« einhergeht, zeugt indes nur von der allen dämmernden Erkenntnis, dass es für ein Eingedenken, welches diese Bezeichnung verdiente, längst zu spät ist. Denn das vorsätzliche Vergessen der Ermordeten – ein Kalkül der Nazis, das erst nach deren militärischer Niederlage richtig aufging – hat auch schon die Überlebenden aufgesogen. Wie die Postsendung an einen unbekannt verzogenen Empfänger, so wurde die von der ganzen Gesellschaft nach 1945 einvernehmlich formulierte Botschaft, mit der die Ermordeten zu Nichts, zu Phantomen erklärt wurden, an den Absender retourniert: und mit einem Mal standen die Deutschen als betrogene Betrüger da, selber nur Überhang auf Abruf. Diese selbstproduzierte Nichtigkeit konnten sich die Zeitgenossen offenbar nur dadurch erklären, dass sie sich nun ihrerseits zu Opfern machten, wahlweise der Siegermächte, der Bombe, der Verseuchung oder Überfremdung. Selbst die deutsche Wiedervereinigung, die wie jede echte deutsche Volksbewegung die Verwüstung jüdischer Friedhöfe einschloss, hat nicht die von allen erhoffte Erlösung aus dieser Nichtigkeit gebracht, sondern nur Frustration und Katzenjammer.

Der Wunsch, die Verdrängten mögen nicht wiederkehren, liegt dem thanatologischen Enthusiasmus zugrunde, mit dem die Grabpfleger von heute an ein Werk gehen, das doch bloß ihre eigene Seele pflegen soll, aber sie kommen zu spät. Denn die Selbstangleichung der Lebenden an die Nichtswürdigkeit, die den Ermordeten in der Erinnerung zugedacht war, ist bereits vollzogen. Und weil es auch im Leben schon nicht mehr auf sie ankommt, ziehen deshalb immer mehr Menschen in Deutschland die Bestattung im anonymen Großgrab vor. Rund achtzig Prozent der Bevölkerung sterben ohnehin in Krankenhäusern, Alters- und Pflegeheimen, und deren kostengünstige Fortsetzung ist das Massengrab: einfach, billig und pflegeleicht.