Kitabı oku: «Die Ehre der Stedingerin», sayfa 7
Danach ging es Ulrike nicht nur spürbar besser, sie fühlte sich auf eine befremdende Art und Weise vital - bereit, die Welt wieder anzulachen; Geldis und Birte mochten es ebenso empfinden. Birte weinte hemmungslos, weil es alle Erwartungen in den Schatten stellte, und ihr dafür eine Mark auf den Tisch zu legen, war billig. Agnes schmunzelte und sagte mit einem zwinkernden Auge: „Täglich zwei Spülungen, und achtet auf das Leinensäckchen, verliert es nicht. Von jeder Sorte eine Handvoll. Die Alantblätter gehören ordentlich zerrieben.“
Mit gründlichem Nachdenken hielt sich weder Birte noch Geldis allzu lange auf, aber Ulrike sagte sich, Sibo Aumund würde sicherlich Stillschweigen bewahren über den Vorfall auf der Burg. Sie durften sich bloß nicht selber in Verruf bringen und keinem davon erzählen. Anschließend grübelte sie über diesem Problem; und hatte sich der Floh im Ohr erst mal festgesetzt, packte sie das für sie notwendige in ihrer bestimmenden Art an. „Noch sind wir unter uns“, stellte sie fest. „Was meint ihr, wollen wir gemeinsam bei Gott und allen Heiligen schwören, niemandem ein Sterbenswörtchen von der Widrigkeit im Rittersaal zu verraten?“
Geldis war bei dem Gedanken nicht geheuer, auf Gedeih und Verderb an so etwas gebunden zu sein. „Kindisch, sowas“, schnarrte sie verdrossen und gab sich aufreizend desinteressiert. Auch Birtes Lachgrübchen reflektierten eine abweisende Haltung, weil sie schwerwiegende Entschlüsse gewöhnlich auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben pflegte.
„Sie denkt weiter als ihr“, bemerkte Agnes und wies mit dem Kinn auf Ulrike. „Haltet ihr den Mund, bleibt alles unter euch. Das ist so.“
Also beschworen sie das zu dritt und ritzten sich, um den Schwur vor Gott zu bekräftigen, mit einem kurzen, blutigen Schnitt den Handrücken, und Birte, froh, sich durchgerungen zu haben, fiel Ulrike spontan um den Hals und fächerte Geldis weitere Bedenken leichter Hand hinweg. Ulrike ahnte, sollte es kritisch werden, würde Geldis voraussichtlich eine hartnäckig sture Haltung beziehen und sich eigenwillig darüber hinwegsetzen. Hinterher konnte sie sich leicht herausreden, man habe sie einfach überstimmt und gezwungen, mitzumachen. Ein oberflächlicher Mensch wie Geldis fühlte sich an nichts gebunden, solange sich eine Ausrede finden ließ, das bereitete Ulrike Magendrücken und Kopfzerbrechen, aber Geldis hatte sich nicht ausgeschlossen, und die Anwesenheit der Hexe erhob den Schwur zu einer feierlichen Angelegenheit. „Eigentlich habt ihr es selber in der Hand, ob sich die Sache herumspricht“, ermahnte die greise Agnes sie und beschloss, was sie den Mädchen mitgab auf den Weg ins Leben zurück, mit der Bemerkung: „Versucht unter die Haube zu kommen und sprecht mit keinem über die Sünde, an der ihr so unschuldig seid wie ein Baby am Tod seiner Mutter.“
Im Schatten des Erlenbruchs wucherten Wildkräuter, und sie traten ins Freie, da nahm Ulrike zum ersten Mal in ihrem Leben wahr, wie angenehm würzig Brennnesseln duften.
Der ausgesperrte Knecht hatte es sich bequem gemacht. Er lag, die Hände unter dem Hinterkopf gefaltet, im Schatten einer Weide und schnarchte leise, als sie ihn weckten, um gemeinsam den Heimweg anzutreten.
5. Kapitel
Burg Keyhusen erhob sich im sumpfigen Uferbereich eines großen Sees, den man das Zwischenahner Meer nannte, anzusehen wie eine umgedrehte Kommode mit ihren vier Ecktürmen. Die Dorfstraße reichte bis an das Wasser, und ein breites Steggerüst führte an verblühten Schwertlilien, Schilf und Rohrkolben vorbei zur Zugbrücke. Die Bucht, an der sich die versteckte Ortschaft Zwischenahn ausbreitete, war fast zugewuchert. Nach Westen hin, unter dem Steg beginnend, erstreckte sich davor im Sonnenuntergang ein Sumpf voll blauer Lilien, mit Libellen, grünen Fröschen und vielen Mücken. Wenn es im April viel regnete, schimmerte der See dort bis Ende Juli wie mit blauer Tinte gefüllt.
Es war bis nach Bremen bekannt, der greise Burgherr Jürke von Keyhusen machte sich wenig aus Geld. Fiel die Ernte schlecht aus, verzichtete er manchmal sogar auf seinen Teil. Die Bauern von Zwischenahn und Elmendorf liebten ihn dafür. Ebenso war bekannt, ihm bereitete sein einziger Sohn Kummer, da der sich meistens in der Fremde herumtrieb. Am Tag nach Erntedank zog es ihn früh auf den Söller des Burgtores, obwohl die Lilienbucht noch unter Dampf lag – und tatsächlich näherte sich durch die Nebelschleier bald ein Ritter in den Hausfarben gelb und weiß langsam über die Dorfstraße dem Torhaus. Hinter der Zugbrücke, auf dem Kopfsteinpflaster des Innenhofs, saß der Reiter ab und warf die Zügel seines Rosses einem Stallknecht zu. Er hörte es noch befreit wiehernd die anderen Pferde begrüßen, während der Vater erstaunlich schnell die Stufen herab stürmte, um ihm zur Begrüßung die Hände auf die breiten Schultern zu legen. Dirk lächelte breit. „Da bin ich Vater, du kannst die Meute antreten lassen und zum Halali blasen.“
„Die Saujagd fällt ins Wasser“, klärte ihn sein Vater ohne Umschweife auf. „Drei unserer Knechte klagten gestern über Schwindelgefühl und haben gekotzt bis Rotz und Galle kam. Unser Bader ist auch krank, und ein Quacksalber, den ich vom Markt holen ließ, meinte bloß, Blattern oder Typhus schließe er aus. Himmelherrgott, so klug ist selbst mein jüngster Stallknecht. Nur gut, dass wenigstens du gesund und munter bist, mein Junge. Was sagt Konrad?“
Dirk lächelte erlöst, er sehnte die Saujagd nicht unbedingt herbei. „Ich überbringe gutgemeinte Grüße, aber er ist nicht mehr der Draufgänger, mit dem ich zu Lüneburg auf den Turniersieg des Wittelsbachers anstieß. Keine Spur mehr von dem, was seinen Witz ausmachte, sag ich bloß. Es befriedigt ihn, ein Lakai von Graf Moritz zu sein. Dass der selbst ein Speichellecker ist und allein deshalb beim Kirchenfürsten so gute Karten hat, scheint ihn kaum zu stören, dabei schwatzen es die Spatzen von den Dächern. Der reist nie ab, ehe er nicht durchgekriegt hat, was er wollte.“
„Du bist zu streng Dirk, oder sollte ich sagen, zu schrullig“, belehrte ihn sein Vater. „Du findest an den Besten bloß Tadel. Wer einen Freund ohne Fehler sucht, bleibt ohne Freunde.“
„Ich bin alles andere als allein in meinem Denken. Godeke ist ein Freund, wie man ihn sich wünscht. Der steht zu mir, wie eine Portalsäule zur anderen.“
„Das ist gut. Lass‘ uns das Gespräch im Großen Saal fortsetzen. In der Kühlkammer hängt ein Hirsch. Der Koch ist zum Glück noch wohlauf und weiß Bescheid. Ich lasse den Kamin anfeuern, damit es gemütlich ist, wenn wir speisen können.“
Der Holzboden war gründlich ausgefegt und mit Binsenstroh bestreut worden, und ein Knecht im hellen Wappenrock kniete sich vor den Kamin. Die Flammen prasselten und knackten, als sie einander am Eichentisch des Großen Saals gegenüber saßen. Eine Weile betrachtete Dirk bewegt den neuen Brokatteppich aus Flandern, der im Grünstich gehalten eine Jagdgesellschaft darstellte und seit kurzem die Wand über der balkonartigen Empore schmückte.
„Ich schätze ich weiß jetzt, wie Graf Moritz es hingekriegt hat“, begann Dirk seinen Bericht, „dass ihm der Erzbischof von Bremen Stedingen als Lehen zuerkannte. Er ist ein Neffe der letzten Gräfin von Versfleth. Der alte Tunichtgut sieht übrigens schon einen Weg, dem Bistum aus der anhaltenden Geldknappheit zu helfen. Bekanntlich führt die Handelsstraße von Friesland durch Berne; eine Burg aus Stein ist geplant und eine Zollschranke. Er will dort seinen Sitz aufschlagen.“
Jürke von Keyhusen erschrak erwartungsgemäß bei diesem Bericht, und Dirk beschloss es mit einem Kopfnicken, das unterstrich, wie sehr ihn das aufregte. „Wer Menschenkenntnis sucht, lernt nie aus.“
Sein Vater lehnte sich zurück, als sei er den weiten Weg von Berne geritten und nicht sein Sohn. „Na die Bremer werden sich freuen. Das wäre ja dreist… und dazu aus Stein. Damit kommt er nicht durch.“
„So sehen jedenfalls seine Pläne aus, und glaube mir, ich bin enttäuscht von Konrad. Vogt und Richter über tausende von Bauern zu sein, hat ihn hartherzig und überheblich gemacht.“
„Mag sein“, wechselte der Alte unvermittelt das Gesprächsthema. „Du wirst einen Tag vor Weihnachten 26 Jahre alt, und ich möchte den Leuten in Zwischenahn und Elmendorf endlich ihren zukünftigen Burgherren vorstellen. Du hattest ausreichend Zeit, dir die Hörner abzustoßen, aber jetzt zähle ich auf dich. Ich habe Arnd zum neuen Truchsess bestimmt und mit einem der Burgmannschaft zu Heinrich von Hoya geschickt, um in deinem Namen um die Hand von Heinrichs ältester Tochter Adelheid vorzusprechen. Ihre Mutter ist eine von Wölpe, sie soll mehr Verehrer haben als wir uns Bedienstete leisten können, überbrachte Arnd, aber sie kennt dich vom Lüneburger Stadtfest Letztjahr und ist dir geneigt.“
Sein Vater schien glücklich, ihn bei sich sitzen zu haben. Wie, um sich zu vergewissern, ob nichts schieflaufen konnte, äugte er nach Dirks Ringfinger. Dirk streckte mit einem gedehnten Seufzer die Beine unter den Tisch. Auf einmal verstummte Jürke. Ihm schwoll die Ader über der starken Nase, sein ohnehin fleischiges Gesicht glühte vor Zorn. Die Hand schlug auf den Tisch, es krachte und Dirk zuckte zusammen.
„Gütiger Himmel, was hast du wieder verbockt“, wetterte er los. „Wo ist der Rosenring, den ich dir zum letzten Geburtstag auf den Finger schob?“
Dirk schluckte betreten. „Ich gab ihn einem Mädchen in Berne.“
„Wem?“, wollte Jürke von Keyhusen wissen. „Der Tochter von Graf Moritz?“
„Nein, der gewiss nicht.“
„Wem?“
„Vater, gib mir einen Moment, es zu erklären.“
„Wem??“
„Ich habe mich auf einem Erntedankfest in Berne…“
„Wem???“
„Sie ist die Tochter des Schmieds von Berne, einem einfachen doch ehrbaren Mann. Nach einem scharfen Ritt verlor Adalbert einen Huf. Ich musste absteigen, und in meinen neuen Stiefeln lief ich mir Blasen an die Füße, ehe ich in Berne ankam. Stockdunkel war’s, außer Katzen und einem Marder niemand mehr unterwegs, da traf ich drei Mädchen. Die wiesen mir einen brauchbaren Schmied.“
„Interessiert mich nicht“, fuhr ihn sein Vater an. Jürke zeigte sich fassungslos über so wenig Einsichtsvermögen. „Der Tochter eines Schmieds gabst du meinen Rosenring, den Ring den mir deine Mutter in ihrer Sterbestunde vermachte? Habe ich das richtig verstanden, Dirk?“
Aus Dirks Gesicht wich alle Farbe, er zog tief über die Zähne Atem ein. Doch fiel ihm keine vernünftige Erklärung ein, den Vater zu beschwichtigen.
„Wir beide, mein Sohn, wir speisen jetzt“, sagte Jürke von Keyhusen, und es klang wie eine Drohung. „Wir speisen zusammen, weil der Koch bereits den Hirsch zubereitet und sich viel Mühe gibt mit diesem Essen, und weil du lange auf dem Ross gesessen hast. Doch morgen früh, mein Guter, lässt du dir den Adalbert erneut satteln und reitest schleunigst noch einmal nach Berne, um das zu richten. Und komme mir ohne den Rosenring nicht wieder unter die Augen.“
Dirk hätte einiges mehr berichten können, doch die Stimmung gefror zu Eis. Der Hirschbraten mit Weinsoße schmeckte bitter, obgleich der Koch bei der Zubereitung nicht mit Würze geizte oder sonst etwas die Speise verdarb. Es war mehr als eine Laune für seinen Vater, und Dirk nahm allen Mut zusammen, um noch einmal nach dem Stein des Anstoßes zu treten: „Vater, du erwähnst gern den Ball auf Burg Stotel, an dem du Mutter kennenlerntest: Der Herzog von Lüneburg, dem sie ursprünglich angetraut werden sollte, goss ihr vor versammelter Gesellschaft gehässig Wein über die Brust. Mutter entschuldigte sich artig und immer noch freundlich, sie müsse sich kurz umkleiden - der Stoteler brüllte vor Lachen. Du bist heut‘ noch stolz darauf, dich eingemischt zu haben. Oft belehrtest du mich, Heiratsabreden wären eine Unsitte. In solchen Ehen gebärdet sich der Mann wie ein Auerhahn, es ist Uso, seine Angetraute grün und blau zu schlagen, wenn es einem beliebt... Das waren deine Worte.“
„Sicher Dirk. Doch ich verschwieg nicht, deine Mutter entstammt dem Grafenhaus Stotel. Es endete mit einem bösen Krach, aber die Verlobung ließ sich abbrechen, und für mich war sie standesgemäß.“
„Stellen wir klar“, wehrte sich Dirk. „Du hast mir empfohlen, auf meine innere Stimme zu hören. Nichts Anderes tat ich zum Erntedank, als ich die zum Tanz einlud, die mir in der Not geholfen hat. So Vater, prüfe ich ein Herz.“
„Du wirst den Ring von ihr zurück fordern, mein Sohn, sonst…“
„Was sonst, Vater?“ Ein Lächeln umspielte Dirks Lippen. Ulrikes Gesicht im Geiste vor Augen verzog er träumerisch das Gesicht, und er wusste, was er zu tun hatte. „Wenn ich täte, was du mir aufträgst, könnte ich nie wieder in einen Spiegel sehen. Ich kann Rike nicht einfach sagen, das war ein Versehen, ich habe das nicht so gemeint.“
„Kannst du es nicht“, gab ihm der Vater zu verstehen, „hast du das zu lernen. Selbstzucht, mein Sohn beginnt, wo wir uns selbst etwas auferlegen. Gefühle sind ein Luxus, den wir uns bei Mädchen aus dem Bauernstand nicht erlauben dürfen. Kein Ritter, welcher etwas auf sich hält, würde die Tochter eines Schmieds an deiner Seite wie eine Hofdame grüßen. Da ist eine Barriere, die gab es schon, bevor du geboren wurdest. Wir haben das zu respektieren.“
„Mir kommen da Zweifel“, gestand Dirk. „Wir sind doch alle Menschen aus Fleisch und Blut. Reicht dir ein Bauer die Hand, fühlt sich die kaum anders an als die eines Edelmannes. Zur Jahreswende trieb es mich zum Kloster. Ich war in Rastede und habe Frederik besucht, der den Benediktinern beitrat. Er beherrscht das Latein der Bibel wie die Pfaffen und behauptet, im neuen Testament steht geschrieben: Vor unserem Heiland, der für die Christenheit starb, sind alle Menschen gleich. Wer sich für besser hält, wird tief fallen. Was den Adel ziert, ist reiner Hochmut und verächtliches Getue, eine eitle Sünde. Mir dämmert allmählich, was er meinte.“
„Die, die sich ins Kloster verkriechen, leiden an derlei Grillen, ich weiß. Dabei ist es verboten, bei privaten Zusammenkünften aus der Bibel zu lesen. Auch wenn das Frederik behauptet, lass dir keinen Bären aufbinden, von wegen, es ist aus der Bibel!“
„Grillen? Du kennst ihn. Er verstand schon gut Latein, bevor er ein Benediktiner wurde.“
„So ein Unfug!“ gab sein Vater ruppig zurück, und der Streit schaukelte sich erneut hoch, sodass Dirk Zähne knirschend aufsprang und ohne ein weiteres Wort aus dem Rittersaal floh, um ausgeschlafen zu sein am nächsten Morgen. Nichts schien weniger reizvoll, als später wie sein Vater auf der Burg zu versauern. Er nahm sich vor, den Sonderling ihrer Familie im Kloster Rastede aufzusuchen. Die Sache um Ulrike bewegte ihn mehr als sein Vater es sich vorstellen konnte. Der Einblick in das sorgenvolle Leben im Schatten der Burgen führte zu dem Schluss, rückständigen Ansichten anzuhängen. Er kam nicht mehr damit zurecht, bei der Schwertleite geschworen zu haben, den Bedrängten beizustehen, fing an, sich für seinen Stand zu schämen und kämpfte mit dem unbestimmten Gefühl, den Mund kürzlich in Berne sehr voll genommen zu haben.
Für seine neuen Freunde in Berne war er ein Edelmann, der für das, was er sagte, einstand… und Ulrike glaubte an ihn. Das erfüllte ihn mit Stolz. Er mochte sie nicht enttäuschen. Die heimliche Hoffnung, Lüder zum Burgschmied der Keyhuser zu machen, konnte er vergessen. Vor dem Tischgespräch hätte er es anschneiden müssen… und was das Leben anging, musste er sich eingestehen, er hatte die Karre übel in den Dreck gefahren. Der einzige Mensch, mit dem er darüber reden konnte, war Frederik. Erinnerungen an eine gemeinsam durchgefochtene Fehde stiegen auf, dachte er an den guten alten Frederik. Es ging damals um einen Turm auf der Straße von Oldenburg nach Leer, die durch Elmendorf ins Östringer- und Rüstringerland reichte. Die Ritter von Specken hausten am nördlichen Ende des Zwischenahner Meeres auf ihrer Burg und fädelten es schlau ein, indem sie einige entlegene Güter mit Landwirtschaft erwarben, und zwar zwei Häuser mit Weiden und Äckern und eine Mühle nahe dem Moorpass, der durchs Ammerland führte, mitsamt dem Haus des Meiers. Sie gaben den Ländereien den Namen Loie und pochten auf ihre Zuständigkeit, um eine Zollschranke zu errichten. Das hielt die Händler aus Aurich, Leer und Jever ab, weiterhin auf dem Markt von Zwischenahn ihre Stände aufzubauen, darum schritten die Keyhuser Ritter ein und steckten zur Nachtzeit den Turm bei Loie in Brand. Huno von Specken kam um bei diesem Handstreich, und Frederik musste sich auf Betreiben der erbosten Sippe vor dem zuständigen Gericht zu Godensholt wegen Landfriedensbruch rechtfertigen. Er überraschte die Kläger auf seine Weise, denn er fand zwei Zeugen, und die reichten aus, um Huno von Specken Wegelagerei nachzuweisen und ihn in drei Fällen posthum des Mordes schuldig zu sprechen; die Ländereien von Loie wurden der Ortschaft Elmendorf eingemeindet. Dirk bewunderte Frederik dafür, bewies er doch, es lohnt sich, für sein Recht einzutreten, und er vermisste seine abgeklärte Art. Ausschlaggebend für sein Untertauchen im Kloster war ein Strafgericht, eingeleitet vom Grafen von Hoya. Er durfte nicht ablehnen und verachtete sich selbst dafür, seine Hände mit dem Blut von Frauen und Kindern besudelt zu haben. Darum versteckte er sich seit Jahren im Kloster Rastede. Dirk konnte das nie verstehen. Nun war er selbst so weit, alles in Frage zu stellen... Seine beiden Freunde erreichten Tage vor ihm Burg Keyhusen, und es trieb ihn zu dem Haus aus Backstein, das dem Bau, in dem der Rittersaal lag, gegenüberstand. Der Abstecher zum Kloster dürfte unterhaltsam werden in der Gesellschaft von Godeke und Ekhard.
Godekes Gesicht wirkte nackt, ohne den gewohnten Vollbart. Er war ein Schwerenöter, und Dirk brannte es auf der Zunge, ihm von Ulrike zu berichten. Seine Kammer sah erbärmlich aus, enthielt zwei Stühle, einen winzigen Ecktisch aus Buchenholz und ein Bett. An Einrichtung im feineren Sinne enthielt sie noch eine Truhe aus Eichenholz, in deren rundem Deckel Ornamente eingeschnitzt waren, mehr nicht. Das unaufgeräumte Schreibpult wies von der Nacht her etwas Verstörtes und Wüstes auf. Der Freund schrieb mitunter Briefe, bis er darüber einnickte, die er aber niemals absandte; damit überbrückte er die Einsamkeit, wenn er gern mit einem Menschen reden wollte und niemand sich fand. „Ich glaube“ eröffnete Dirk ihm, „ich habe mich verliebt.“
Godeke amüsierte es, wie er von Ulrike schwärmte. „Na wunderbar Dirk. Genieße das Gefühl, höre auf dein Herz. Du musst nur wissen, wie weit du gehen darfst, bei einem Bauernmädchen.“
Dirk ärgerte es, sich ihm anvertraut zu haben, doch Godeke klopfte ihm schmunzelnd die Schulter. „Koste es aus. Lass dich von deinem Vater nicht einschüchtern. Jürke hat keinen Erben außer dir. Ich würde einfach ein Jahr nichts von mir hören lassen. Dann wird dich der Alte mit offenen Armen wiederaufnehmen.“
Ekhard war zwar ein Ritter, so wie Dirk und Godeke, allerdings vor allem ein Spaßvogel, und nebenbei ein Spielmann aus Freude an der Sache. Er hatte Talent, kannte einige Strophen des Nibelungenliedes und die geläufigen Volkslieder, dazu einiges vom Kürenberger und den Künstlern der Minne: Dietmar von Aist, Walther von der Vogelweide, Hartmann von Aue und Hinrich von Veldeke. Und er beherrschte die Laute, als wäre sie ein Teil von ihm. Manchen, der sein Brot so verdiente, hätte er auf dem Instrument an die Wand gespielt. In seinen grünen Augen lauerte immer ein wenig der Schalk, brünette Locken flossen ihm füllig auf die Schulter, und mitunter, wenn er überlegte, zwirbelte er unbewusst an seinem Schnurrbart. Es brauchte einen trefflichen Grund, ihn zu überzeugen. Was er nicht wollte, dazu ließ er sich nicht herab. Aber ein Grund war gegeben, galt es doch, den an das Kloster verlorenen Freund von früher aufzusuchen. Nur was voranging warf einen düsteren Schatten auf ihr Vorhaben, Dirk litt an dem Bruch mit seinem Vater. Wutentbrannt wie er sich nach dem Speisen zurückzog, tat er kein Auge zu in dieser Nacht. Auch Jürke mied ihn seinerseits und hielt sich vom Pferdestall fern, während die drei Freunde die Sattelgurte ihrer Schlachtrösser überprüften und sich gemeinsam aufmachten, über den langen Bretteranleger von Burg Keyhusen. Sein Vater blickte ihm vom südlichen Eckturm aus traurigen Augen nach.
Eine Woche lag der erste Nachtfrost zurück, und die Moorwälder des Ammerlandes, die sich vor dem Kloster Rastede erstreckten, verloren ihre letzten, gelblich verfärbten Blätter. Die meisten Vögel fehlten in Wald und Flur - es trieb sie nach Italien; obwohl durchaus hier und da eine Amsel flötete, ein Eichelhäher schnarrte, ein Raubvogel schrie, oder das lautstarke Hämmern eines Buntspechts die Stille zerriss. Dirk spürte die eigenartige Stimmung des Herbstes, während Godeke und Ekhard hinterher trabten. Sie folgten dem sonnigen Feldweg, auf dem sie immer ritten, wenn sie von Zwischenahn in die Welt aufbrachen - Anlass genug, sich plaudernd alter Zeiten zu besinnen, in denen Frederik bei keiner ihrer Unternehmungen fehlte.
Nahe der Klosterpforte stand ein hoher Kastanienbaum, den vor einem halben Jahrhundert ein Pilger in Form einer Frucht aus dem Heiligen Land mitbrachte, auch der trug schon bräunlich welke Blätter. Zu seinen Füßen lagen verstreut im Gras und am Wegesrand hunderte von stacheligen Früchten, wo Dirk leichtfüßig aus dem Sattel seines breiten Schlachtrosses sprang und an das Eichentor klopfte. Ein pausbackiger Mönch in Kutte und Strick blinzelte den Junker aus dem Schatten der Kapuze forschend an, und Dirk riss sich das Barett von den krausen Locken und verneigte sich höfisch.
„Edelmänner?“, stellte der Benediktiner in fragendem Ton fest und schien zu überlegen, ob er sich an einen aus der Gruppe erinnerte. „Was treibt euch her? Wollt ihr dem Kloster beitreten?“
Dirk schmunzelte, nichts lag ihm ferner. „Vier Jahre gingen ins Land, seit ein Freund von uns der Welt entsagte und ein Benediktiner geworden ist.“
„Hat er das getan, weiß er sicherlich weshalb und möchte nichts mehr mit weltlichen Sorgen zu schaffen haben“, belehrte sie der Mann und schlug sich die Kapuze aus der Stirn. Er war ein Geschorener und sein Schädel glänzte zur Mitte hin, wie üblich bei denen, die sich Gott verschrieben.
„Er wird den Wunsch äußern, uns sehen zu wollen. Erzählt ihm, drei Keyhuser Ritter möchten ihn besuchen, die einmal seine Freunde waren. Dirk sei um den Rat eines Schriftgelehrten verlegen und braucht Hilfe.“
Den Namen zu nennen genügte. „Ach der Frede“, sagte der Klostervorsteher, zog quietschend die Eisenpforte auf und geleitete sie in den Innenbereich im Schatten der Klostermauer. Dirk fielen Volieren mit Rotdornsträuchern auf - darin umher hüpfende Buchfinken schlugen aufgeregt an, als vier Menschen nahten. Sie betraten einen Weg, der durch eine Laube aus blutroten Rosen führte. Am Ende des Klostergartens erhob sich vor der Bibliothek eine uralte Linde mit einem mächtigen, aufgerissenen Stamm. Wein gedieh üppig auf der Sonnenfassade, und eine mit Eisenlilien beschlagene Eichentür öffnete einen kühlen, gekalkten Flur, der in das Empfangszimmer mündete. Drei Stühle mit gedrechselten Lehnen standen an der Außenwand, die anderen Wände nahmen volle Bücherregale ein. Sie blickten vertröstet auf ein leeres Schreibpult, während der Bruder in grauer Kutte sie warten ließ. „Er ist in der Messe. Bitte geduldet euch, ich melde euch Bruder Frede.“
Die Messe war längst zelebriert. Lange brauchten sie nicht zu warten. Frederik, früher schon ein herzlicher Geselle, nahm einen nach dem anderen die Freunde in den Arm, klopfte jedem die Schulter und setzte sich ihnen gegenüber an das Pult. Sein breites Lächeln deutete an, wie wohl Frederik ihr Besuch tat. „Erst erzählt, was euch herführt, sagte er im altvertrauten, tiefen Bass. „Dann habe ich euch auch etwas mitzuteilen.“
Dirk berichtete ihm von seiner Reise ins Stedinger Land und der Woche auf Burg Lechtenberg… und natürlich von Ulrike: Dass er Godeke vorausritt und sein Rappe mitten in der Nacht mit einem Huf nicht mehr auftreten wollte… „Sie hat so eine Art zu reden und zu lachen, und ich muss immer an sie denken. Es zieht mich zu ihr zurück, selbst wenn Jürke mich dafür verstößt.“
„Ja, das klingt nach einer kessen Maid“, bestätigte Frederik. Schöne Augen genügten bekanntlich nicht, um Dirk den Kopf zu verdrehen, und er freute sich, weil er schon dachte, der wolle als ewiger Junggeselle durchs Leben gehen. „Was mich nun hellhörig macht“, fügte er hinzu, „du erwähntest Graf Moritz von Oldenburg. Mir fällt dazu eine Vereinbarung ein, zwischen ihm und Meinrich, unserem Abt, der übrigens aus Elsfleth stammt…“
Dirk strich sich die Locken aus der Stirn, fasste ihn neugierig werdend in die Augen. „Lass hören.“
Ein hintersinniges Lächeln um Frederiks Mund verriet eine grenzenlose Bereitschaft, sich auf das, was Dirk zaghaft ankündete, einzulassen. Er war sich bewusst, als Mönch hatte er Einsicht in die hiesige Chronik und saß an der Quelle, wollten sie mehr erfahren über die gegebenen Vorfälle.
„Unser Kloster besitzt Ländereien im Ammerland, in Rüstringen, Lüneburg und sogar im westfälischen Lüdenscheid und Soest, und das auch im Umland von Bremen und in dem von dir erwähnten Land der Stedinger. Es werden immer mehr, ebenso wie jedes Jahr mehr Bauern um ihr Land gebracht werden. Schuld daran ist ein Gesetz, das auf Barbarossa zurückgeht, danach kann ein Vogt in seinem Lehen nach Bedarf Bauern zum Frondienst heranziehen. Die stedingischen Siedler sind nach dem Hollerrecht davon ausgenommen, aber Graf Moritz setzt es neuerdings mit brutaler Härte ein.“
„Ähm“, raunte Dirk. „Von wem geht das aus?“
Frederik zog eine leidgeprüfte Miene. „Ich weiß nicht, wer die Befreiung vom Frondienst aufhob. Aber ein Abt, der zweiunddreißig Brüdern ein Vorbild sein sollte, findet es offenbar wenig verwerflich, sich an dem Hab und Gut seiner eigenen Landsleute zu bereichern! Die Klöster saugen sich mit Ländereien voll und treiben das Tun munter voran dadurch. Mir kommen da erhebliche Zweifel, ob so jemand im Sinne Gottes handelt… und ich fühle mich mitschuldig, bin schließlich auch ein Benediktiner.“
Ekhard strich sich mit dem Handrücken übers Kinn, nahm sich die geschulterte Laute ab, legte sie vorsichtig über sein Knie und zupfte prüfend an den Saiten, als langweile ihn derlei Konversation. Ihr Freund in der Kutte blickte Ekhard an, bis der die Finger streckte und ihm mit aufgestütztem Kinn auf die Lippen schaute. „Ende August kommt es manchmal auf jede Woche an, die das Korn noch reift, und jeder Vogt hat schnell den Bogen heraus, im letzten Augenblick die Arbeitskräfte von der Ernte wegzuholen für das Roden einer Waldung, das Ausheben von Entwässerungskanälen, oder - wenn sonst nichts geht - wird zum Neubau einer Brücke gerufen.“
Dirk nickte hastig. „Und zu Erntedank ist dann der Zehnte fällig. Graf Moritz lässt die enteigneten Familien vom Hof scheuchen und überwacht selbst den Verkauf der Ländereien. Kaufen tun es dann die Klöster.“
Frederik hob die Braue. „So leicht kann ein Lehnsherr einen Bauern ruinieren.“
Ekhard strich wie aus Beifall geräuschvoll über die Saiten der Laute, und Frederik holte tief Luft. „Willst du mich ärgern, Ekhard?“
„Nein, aber ist etwas Wahres an dem Gerücht, ihr hättet unter dem Speisesaal des Abtes einen Weinkeller im Kloster Rastede?“
„Es gibt einen Vorratsraum und eine Räucherkammer. Die zweite Tür des Flurs führt hinab in ein kaltes Kellergewölbe.“ Frederik zeigte auf seine Füße. „Das liegt genau unter uns. Dort hängt viel Schinken, unter der Treppe lagern haufenweise pralle Säcke voll Gerste und Roggen, und um das Gerücht zu entzaubern, von dem du hörtest: Ja, wir bewahren außerdem ein paar Fässer guten Burgunder in dem Gewölbe auf.“
Ekhard griff wie erlöst in die Saiten und sang ein Lied, das dem Wein gewidmet war und in Gastsälen oft gewünscht wurde.
„Ich geh‘ ja schon“, gab ihm Frederik zu verstehen. Dirk nutzte die Gelegenheit, sich Einblick zu verschaffen, was dieses Kloster einem bildungshungrigen Mönch bieten konnte. Bei der Buchreihe, deren Titel er überflog, handelte sich um den Nachlass eines Siward - des 4. Abtes: Amtsbücher für Bischöfe, ein Messbuch und ein Morgengesangbuch in einem Band und ein liturgisches Gesangbuch. Auszüge aus dem Kirchenrecht, die vier Evangelien einzeln, ein Kräuterbuch und ein Steinbuch. Ein Edelstein der Seele, und die Regeln des heiligen Benedikt, daneben ein Buch über den Streit der Laster und der Tugenden, von Plato und ferner die Werke des Arator, Juvencus, Sedulius und Prosperus. Dirk fragte sich, ob Frederik all das gelesen hatte, und schreckte ertappt hoch, als der alte Haudegen mit einer Kanne Wein unter dem Arm und vier Silberpokalen wieder zu ihnen stieß, die er von plötzlicher Ruhe überkommen auf seinem Schreibpult füllte und jedem einen Pokal in die Hand drückte. „Trinken wir also auf diesen Tag und den Sinn des Lebens“, stellte er in den Raum. „Was darunter zu verstehen ist, lasst uns klären.“
„Denke ich so über das alles nach“, fiel Dirk auf, „sind das für einen ausverschämten Lehnsherren wie Graf Moritz jedesmal zwei Fliegen mit einem Schlag. Er hat die Ländereien nicht länger zum Lehen, sondern wird selbst der Landherr. Obendrein verlieren die Enteigneten ohne ihren Besitz alle Rechte, werden zu Leibeigenen. Ja jetzt, wo es in Stedingen die fettesten Weiden gibt und das Moor zurückgedrängt ist, wurmen sie die fetten Weiden der freien Bauern.“
Dirk senkte finster die Stirn und blickte unentschlossen auf den halbvollen Pokal. „Ich möchte einschreiten, dagegen vorgehen, und ich frage mich wie.“
Beipflichtend nickte Godeke. „Ja, was können Bauern tun… dagegen?“
Ekhard hob andächtig das Kinn und zwirbelte sich den Bart. „Wäre ich ein Bauer und hätt‘ nichts mehr zu verlieren, würde ich nach Goslar oder Gelnhausen pilgern.“
Dirk schlug sich lachend auf den Schenkel. „Zum Philipp? Also ich weiß nicht, wo der gerade residiert. Auch in Eger, Kaiserslautern, Wimpfen und Hagenau ließ Barbarossa prächtige Pfalzen erbauen. Also ich würde auf eine so vage Hoffnung hin nicht spornstreichs nach Goslar reisen?“