Kitabı oku: «Beziehungsweisen», sayfa 8
* Arbeit an dem Aufsatz über Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila; siehe Anmerkung zu Brief Nr. 91
An Burkhard Talebitari, BurkhardTalebitari, 16. Dezember 2013 Nr. 94
Als mir H. G. Adler, Hans GünterAdler* mitteilte, er schriebe seine Gedichte auf der Schreibmaschine, empfand ich eine Abscheu gegen ihn; die Mitteilung, die nackte Tatsache, reichten mir, sein „Dichtertum“ in Zweifel zu ziehen. Warum in Zweifel ziehen, ist die eine Frage; wer in Frage gezogen werden soll – die andere. H. G. Adler, Hans GünterAdler galt als Schwieriger und hat sein Gelten verdient. Er hatte die Physiognomie seiner Bücher: nicht zu bestechen, nur zu erobern; zu bewundern, nicht zu lieben; mit der Liebe war es vorbei, auch mit der Toleranz, geblieben sind: der Rang und die wortkarge Bewährung. Ich besorgte mir eine Schreibmaschine. Die Füllfeder habe ich weder abgeschafft noch abgegeben, die Versuchung lag nah und sie zog nach sich das Versuchen und Üben. Das hat – weil Du mich fragst – mit meiner späteren Einstellung zu seinen Gedichten nichts zu tun, ich habe sie damals, zur Zeit unserer Freundschaft, gelesen, und zehn oder zwanzig Jahre später wieder, immer von Reuegefühlen begleitet darüber, dass ich ihm als Lyriker keinen Rang zuzusprechen vermochte. Die Frage des Ranges ist eine dringende, schwer zu entscheidende. Es kommt ja nicht selten vor, dass ein Dichter-ohne-Rang ein umwerfendes Gedicht schreibt, das man nicht wieder vergisst; nicht wenige dieser Art sind mir auf meinem Lebensweg begegnet, keines davon stammte von H. G. Adler, Hans GünterAdler. Aber auch das kommt vor und lässt sich kenntlich machen: ein Mensch von Rang, sein Leben tadellos, seine Prosa einwandfrei, seine Lyrik, um das eine Gedicht ringend – und ohne Erfolg. Aber was ist schon ein Gedicht gegen eine Romanfülle, die überwältigt? Nichts, nur ist Dichtung mit Adel verbunden, Prosa nicht. Auch der Gröbste leidet, wenn man ihm sagt, er wäre nicht von Adel. Nicht zu fassen, doch auch gefasst, ergäbe es keine Poesie.
* Siehe Anm. zu Brief Nr. 20
An Werner Helmich, WernerHelmich, 9. August 2015 Nr. 95
Ich spekuliere gern um die Romanistik herum. Germanistik denke ich mir als „Verband von“, Romanistik „als Kreis um“. Nicht alle Romanistik ist fein und nobel, Germanistik oft brutal, oft banausisch, was die Romanistik nicht zu sein „pflegt“. Ich selbst bin so gar nicht Romanist, mir ist sie die Entdeckung auf dem Weg zur Germanistik. Ein Romanist kann nicht schreiben, ohne sich zu porträtieren, was ihm mehr fremd als erwünscht ist, es geht nicht anders, wenn man immer mit der Waage schreibt. Germanistik kennt die Waage nicht, nur die falschen und echten, meistens die schweren, dicken und groben Gewichte (Steine). Es geht selten ums Gesicht, es geht fast nur ums Können, und wenn man endlich schreibt, dann – nieder!
Bei den Romanisten, die ich – eine ziemliche Anzahl von ihnen – liebe, fand ich dieses Niederschreiben nicht. Kritisch wohl, bis ätzend, allerwegs elegant. Und wie gut und hilfreich waren schon immer die deutschen Romanisten! Auch die Charakterschwachen, bis auf einzelne Gauner, die man kennt, weil auch sie nicht wirkungslos blieben.
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 1. November 2015 Nr. 96
„Du / Eine Rühmung“ von Kurt Marti, KurtMarti* kenne ich nicht, das sei meinem nächsten Schweizer Aufenthalt vorbehalten. Ob ich mich zu einem Werkdialog mit Marti, KurtMarti bringen könnte, ist eine Frage, da ich mit Lebenden nicht spreche, das tu ich in meinen Tagebüchern. Dank Dir kann ich zum ersten Mal Bücher von Marti, KurtMarti lesen, ganze Bücher, und ihm nach und nach auf den Grund kommen. In seiner Art und Haltung steht er mir schon vor Augen, als Dichter muss er mir erst vertraut werden, so einheitlich seine Person auch ist – in ihren Aussagen; verschieden sind seine „Macharten“. Im Theologen Marti, KurtMarti dominiert der Gemeinsinn (er steht nicht nur in der Gemeinde und ihr vor, er geht ihr auch voraus, in dieser Rolle wirkt der Prediger als Einpräger und Imprägnierer); in der Poesie dominiert der Eigensinn. In der Theologie hat es Marti, KurtMarti – auch im Sinne der „Konkurrenz“ – leichter als in der Poesie, wo er sich besser und genauer umschauen – und sich „vorsehen“ muss; da sehen andere zu, wird ihm anders auf die Finger geschaut.
* Kurt Marti, KurtMarti: Du. Rühmungen. Stuttgart: Radius 2008; zu Marti, KurtMarti vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 101
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 13. November 2015 Nr. 97
Von Deiner Schwester* gabst Du mir in Bern** „Als sei ich von einem andern Stern / Jüdisches Leben in Montreal“ (2011)***, das ich auch gleich gelesen habe, ein lohnendes [Buch] (vom Ergreifenden braucht nicht geredet zu werden), aus lauter Distanzen kommend, lässt es sich als literarisch origineller Versuch betrachten. Die erzählenden Personen gingen mich alle an, interessiert hat mich vor allem Deine berichtende Schwester. Was mir bei ihr, an ihr gefällt: Sie pflegt eine Diktion der Anständigkeit. In der Literatur muss immer etwas gekrümmt, etwas zurechtgebogen werden. Davon bleibt sie frei, bleibt auch in ihrer strengen Freiheit. So war sie schon in den „Häutungen“. Dass sie zu leiden hat, tut mir weh, ich spüre es. Ich liebe ihre Anständigkeit, die weder Ab- noch Ausweichen kennt. Das kann man riechen.
* Verena Stefan, VerenaStefan, geb. 1947 („Häutungen“, 1975; „Fremdschläfer“, 2007; „Die Befragung der Zeit“, 2014), gestorben 2017 in Montreal
** Lesung in der Berner Synagoge, 22. Oktober 2015, mit Improvisationen von Daniel Glaus, DanielGlaus
*** Verena Stefan, VerenaStefan, Chaim Vogt-Moykopf (Hgg.): Als sei ich von einem anderen Stern. Jüdisches Leben in Montreal. Heidelberg: Das Wunderhorn 2011
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 10. Dezember 2015 Nr. 98
Bewegt, gerührt und leicht erschüttert teile ich Dir mit, dass eben, am 5. Tag Chanukka, die helvetisch-martinische Ziegelbibel* bei mir eingetroffen ist, eine Aug- und Herzweide. Ich komme aus der ersten Bewunderung nicht heraus, man gewinnt den Eindruck, dass es nicht nur ein Leben birgt, sondern auch den angemessenen Lohn für ein beispielhaftes Leben. Du hast mich – auch noch leichenredend** – verwöhnt und reich – und Leich beschenkt, wie dankt man dafür?
Um einen solchen Marti, KurtMarti müssen Generationen beten. – „wa’ani lo jadati“ (und ich wusste es nicht), sagt Jakob nach seinem Erwachen (Gen. 28, 16). Mehr lohnt sich jetzt nicht zu sagen, den Dank sollst Du brühwarm erhalten.
* Kurt Marti, KurtMarti: Notizen und Details 1964–2007. Zürich: Theologischer Verlag 2007. Der Band ist mit 1422 Seiten im Bibelformat ziegelsteinschwer.
** Anspielung auf Kurt Marti, KurtMarti: Leichenreden. Neuwied: Luchterhand 1969; München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2004
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 14. Dezember 2015 Nr. 99
Das Fehlen Silja Walter, SiljaWalters bei Marti, KurtMarti* ist ein Faktum und unveränderlich. In dieser seiner Welt hatte sie keinen Raum. Gespräch und Bücherschrank sind andere Welten. Ich stellte – und nur, weil ich gerade auf sie stieß – ihr Fehlen einfach fest. Ich war darüber keineswegs „erschüttert“. Marti, KurtMarti muss Silja Walter, SiljaWalter nicht schätzen, ich – ob ichs Dir gestehen darf? – schätze manche Flächen bei ihr auch nicht. Sie ist nicht umsonst und nicht von ungefähr Schwester Hedwig geworden. Ich musste mit ihr ringen, mein Ringen gründete auf Freundschaft und Instinkt, mein Instinkt bewährte sich, das Ringen ward mir nicht erspart. Das alles hätte Kurt Marti, KurtMarti nicht nötig. Du weißt, dass ich ihn schätze und nun auch liebe, ich bin ziemlich blind für ihn, aber ich bin nicht blind gegen seine Schwächen, auch in den Notizen** gibt es Entbehrliches, das „man“ nicht gern entbehrte, weil dies sein Charme ist: sich möglichst viel vorzunehmen und nicht nachzulassen. Er spricht von allem, was ihm nicht fremd bleiben soll, denn er will nicht, dass etwas Menschliches ihm fremd bleibe, die Hauptsache bleibt, dass er spricht und nicht redet, und die Art seines Sprechens ist unter allen Umständen Nähe suchend.
* Schwester Otto F. Walter, SiljaWalters; vgl. Ulrike Wolitz, UlrikeWolitz; siehe das Verzeichnis der Briefpartner(innen)
** Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen. 2. Auflage. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1979
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 30. Dezember 2015 Nr. 100
Ich säumte lange mit diesem Brief, der zu einem Buch auszuwachsen drohte. Dann kam ich (bei mir) ins Gespräch mit Marti, KurtMarti, und das Schreiben erübrigte sich. Danach gab ichs auch auf: Was soll ich ihn mit Schriftzügen überfahren. Nun wollte ich ihm doch einen Gruß schicken, einen kleinen Dank aus der Verspätung heraus und aus dem Land seiner Bibel. Zum Neujahr erreicht es ihn nicht mehr, vielleicht über Dich aber schneller, jedenfalls sicherer. In den Neujahrspostsäcken gingen diese Zeilen für lange unter. Auf die Unterschrift kommt es sowieso nicht (mehr) an.
Wenn Du kannst, lese ihm die Zeilen oder lass sie ihm zukommen auf einem der kurzen Wege, die Du kennst.
30.12.2015
Lieber Dichter, verehrter Herr Marti, KurtMarti,
jede Zeit hat ihre Verspätung.* Der Satz könnte noch zu KoheletKohelet gehören, den Sie so lieben wie ich. Mit Ihrem Buch über ihn**, mit Ihrer Übersetzung seines Buches, habe ich meine – eben verspätete – Marti, KurtMarti-Lektüre begonnen. So sind Ihre Bücher – mir rührend herzlich von Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan geschenkt – eine Erinnerung nach vorn. Wo immer ich aufschlage, bin ich mittendrin. Marti, KurtMarti ist eine Stadt, wohnlich, für ein gutes Leben eingerichtet, das aber ehrlich verdient werden muss, wenn man sein Gesicht in der Stadt zeigen will. Es zeigt sich nicht in Marti, KurtMarti, es muss ein jeder sich zeigen können. Ich weile seit 2 Monaten in Marti, KurtMarti, lerne alle Quer-, aber auch alle Kreuzverbindungen.
Habe viele Bekannte schon, darunter alte und sehr alte, wie Ihren Freund Rainer Brambach, RainerBrambach, den ich in einem Buch zitiere, und zwar aus dem schmalen Band „Tagwerk“***, den Sie gerade aus dem Regal ziehen, da Sie vom Tode Brambach, RainerBrambach, RainerBrambachs hören, wobei – wie immer bei Ihnen, wenn Sie ein Buch aus dem Regel hervorholen – ein Zeitungsausschnitt herausrutscht. Eine schöne, mir vertraute, nicht ganz „gesunde“ Gepflogenheit, weil sie dem Buch nicht bekommt. Zeitungspapier, zwischen Buchseiten gepresst, hinterlässt Spuren. Nun gehören aber auch die eingefalteten Zeitungsauschnitte zu Ihrer Geschichte mit dem jeweiligen Buch. Man sieht Sie und sieht Ihnen zu, vor dem Regal stehend: Erinnerungen zusammenrufen, Gedanken sammeln, die Worte denkmalend. Etwas will heraus, etwas zum Stehen kommen. In Marti, KurtMarti ist gut spazieren, und Kurt Marti, KurtMarti begleite ich gern durch seine Stadt, in der er nie das Sagen hatte****, aber die nicht zu übersehende Unbeirrbarkeit in Wort und Schrift und Bild. Das Tintenfass gab alle Tropfen in Königsblau her, federführend soll ein anderer werden, doch wo nimmt man einen Pfarrer, der Gedichte spricht und nicht die Leviten liest. Vielleicht machen wir im nächsten Jahr noch einen kleinen Ausflug in Marti, KurtMarti oder mit Ihnen, bei Ihnen.
* Am 23. Oktober 2015 hatte sich eine persönliche Begegnung von E. B. mit dem hochbetagten Schriftsteller-Kollegen Kurt Marti, KurtMarti (1921–2017) ergeben.
** Kurt Marti, KurtMarti: Prediger Salomo: Weisheit inmitten der Globalisierung. Stuttgart: Radius 2002; vgl. Variationen über ein verlorenes Thema, S. 153f.
*** Anm. EB: Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ ist 1959 bei Fretz & Wasmuth in der Akazienreihe erschienen, in der sollte auch ein Gedichtband von mir, mit einem Vorwort von Margarete Susman, MargareteSusman, erscheinen, wozu es aber nicht gekommen ist. Als Muster wurde mir Brambach, RainerBrambachs „Tagwerk“ geschickt, das mir bis heute lieb geblieben ist, das Zitat daraus lautet: „Ausgesungen ist das Miserere, / nichts als Schnee liegt auf dem leeren Dach“.
**** Kurt Marti, KurtMarti war von 1961 bis 1983 Pfarrer an der Nydeggkirche in Bern. Er engagierte sich im Kampf gegen Atomwaffen und die US-Intervention in Vietnam. 1972 verweigerte ihm der Regierungsrat des Kantons Bern aus politischen Gründen eine Professur für Homiletik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern.
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 1. Januar 2016 Nr. 101
Marti, KurtMarti legt keinen Wert darauf, groß gedacht zu haben. Das zeigt sich in seinem Willen, kleinzuschreiben. Keiner Erscheinung abhold, zu Schattierungen neigend, ist ihm – wie einst dem Prediger Salomo – das Licht das Süße. Er kommt auf Gott nicht zu sprechen; nicht dafür wird er bezahlt, doch darum ist er Dichter geworden. Gott spricht, wenn wir zuhören. „Gott ist immer noch, nun auch immer wieder das Wunder“ (Spätsätze)*. Im Zurückhalten wie im Zuschlagen – der Prediger als Gentleman. Er lässt keinen sitzen, keinen fahren, läuft nicht mit und bleibt bei sich nicht stehen: Zeitgenosse rundherum und allerwegs. Dies zu bleiben, ist seine Aufgabe. Ob Marti, KurtMarti Aphoristiker ist? Er ist es als Prediger, als Prediger aber doch lieber Dichter. Dahin wollte er, dahin gelangte er, unbeirrbar und bibelfest. Ich kenne kein Aphorismenbuch von ihm, nur einzelne Aphorismen aus Friedemann Spicker, FriedemannSpickers Sammlung bei Reclam**, sie sind nicht überragend.
Kurt Marti, KurtMarti, Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze
Das steigende Alter,
die zurückgelassenen Jahre.
Was bleibt einem Alten,
der seine Gedanken hinter sich hat
Im Alter sind auch die Gedanken nur noch Erinnerungen, eingezimmert, ausgeklammert. Die Lust zum Erwachen – auf null gesenkt. Spätsätze – Krümel; man glaubt ihm die Krümel, nimmt sie ihm ab, nicht mehr in den Mund. Die Unheimlichkeiten eines Altersheims sind nicht denkwürdig. Hier sitzen wir, im Altersheim, bei ihm, und freuen uns, wenn er ein Wort fallen lässt oder einwirft. Aus dem Irgendwo und Irgendwann seines Lebens herangedacht oder der Zigarette erzählt, die ihm zur Konzentration verhilft. Seine Gäste sind gemeint und dürfen mithören. Sie werden gehen, die Zigaretten bleiben. Er war noch keine 90, als er seine Spätsätze herausgab: Man sieht dem Buch kein Denken an. Noch ist alles kurz gesagt, doch nicht kürzer. Es fällt ihm schwer, die Silben zu zählen, die Längen zu messen. Er erzählt sich seine Sätze. Die Fragen, die er sich stellt, warten nicht auf Antwort; Warten ist die Antwort; Abwarten. Das Buch – Notizen eines altersschwachen Menschen, der poetisch anständig und fest im Leben stand, ganz im Leben: mit Weib und Wein und Bibel, die Buchstaben fest im Blick, in guter Stimmung auch sie; Prophetisches dämpfend, Gott selbst allein ist das Wunder. Was er im Altersheim denkt, ist nicht mehr wichtig, wichtig ist die – „Schlimme Entdeckung: Ich kann nicht mehr pfeifen“. Und: „Im Licht der langsam entgleitenden Abendsonne wird der Zigarettenrauch märchenhaft blau“. Sein letztes Glaubensbekenntnis:
„Ihm, JesusJesus, glaube ich Gott“. Das ist der letzte, würdige, aufrechte Marti, KurtMarti. Dazu gehört, dass er nicht Christus sagt. (Den Christus hat ihm PaulusPaulus verdorben, siehe S. 34) Seine Leser sind jenseits der Straße und wie hinterm Glas; sie hören ihn nicht, wenn er seine Zigarette raucht und nicht aus der Hand gibt. „Im Licht der langsam entgleitenden Abendsonne wird der Zigarettenrauch märchenhaft blau.“ Der blaue Zigarettenrauch spricht für ihn, das Märchenhafte ist auf keinem dieser Blätter zu finden. Es ging im Leben auf und verraucht nicht.
* Kurt Marti: Heilige Vergänglichkeit. Spätsätze. Stuttgart: Radius 2010
** Friedemann Spicker, FriedemannSpicker (Hg.): Deutsche Aphorismen. Stuttgart: Reclam 2012 (RUB 18695), S. 242f.
III „Ich lebte ja mehr in der Literatur als in meiner Zeit.“ – Deutsche Traditionen
An Jürgen Manthey, JürgenManthey, 12. April 1991 Nr. 102
Das ist aber ein köstlicher, geistreicher Aufsatz über Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg, den „Gerneklein“*. Mich freute er auch wegen seiner doppelten Vollkommenheit, hat er doch nicht nur „Kopf und Fuß“, sondern auch Guillotine zu Anfang und Amputation am Ende. Sie können sich denken, dass mir dieses unverhoffte Wiedersehen mit meinem alten Bekannten sehr angenehm war. Und wenn Ihre Theorie, wie Sie meinen, auch vielleicht nicht zutrifft, sie ist darum nicht mehr „Hirngespinst“ als andere, wobei sie immerhin den Vorzug hat, selbst aphoristisch zu sein. Ob deswegen Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg keinen Roman schrieb? Er jedenfalls täte es gern, wenn wir ihm aufs Wort glauben wollten.
Das Buch Ricarda Huch, RicardaHuchs, nach dem Sie fragen, hieß ursprünglich „Natur und Geist“, dann „Vom Wesen des Menschen“, das ich in der 2. Auflage von 1922 zitierte**. Dieser hohe Anspruch macht ihre Schwäche aus. Davon abgesehen – und bei Ricarda Huch, RicardaHuch muss ich davon absehen können –: sie war und sie bleibt ein starker, unabhängiger, nicht zu bestechender Geist; ich habe für sie nur Achtung, ab und zu aber auch Liebe. Meine Enttäuschung bestand darin, dass ich sie in meinem Buch nicht als tragende Säule gebrauchen konnte, womit ich ursprünglich gerechnet hatte.
Zum Thema ‚Deutschland ist Hamlet‘ können Sie viele Belege bei Ricarda Huch, RicardaHuch finden, so etwa: „Diese stehen gebliebene Jugend ist nichts Erfreuliches, sondern etwas Tieftrauriges. Zuweilen kommt noch eine ohne Sonne reifgewordene Frucht zustande, aber im Grunde bleibt es doch zwischen Jünglingshaftem und Greisenhaftem unbeglückend schwankend.“ (So in „Luther, MartinLuthers Glaube“, einem ihrer schönsten Bücher)***
* Jürgen Manthey, JürgenManthey: Der große Herr Gerneklein. Lichtenberg, Georg ChristophLichtenberg, die Französische Revolution und der vierte Stand. In: Merkur, 45, 1991, S. 24–33
** Natur und Geist als die Wurzeln des Lebens und der Kunst. München: Reinhardt 1914 (neu hg. als: Vom Wesen des Menschen. Natur und Geist. Prien: Kampmann & Schnabel 1922)
*** Luther, MartinLuthers Glaube. Briefe an einen Freund. Leipzig: Insel 1916
An Edith SilberSilbermann, Edithmann, 10. August 1991 Nr. 103
Mein 99-jähriger Freund, der Dramatiker Max Zweig, MaxZweig*, reist morgen nach Deutschland, ich möchte ihm ein Bündel Papiere für Sie mitgeben, und also ist es Zeit, Ihre Fragen der Reihe nach zu beantworten.
In meinem Brief an Harald Weinrich, HaraldWeinrich („Treffpunkt Scheideweg“, S. 159f.) habe ich ziemlich genau beschrieben, wie wenig Deutsch ich als Kind aufnahm und wie bald ich dieses Wenige aufgab, um mich dem Hebräischen ganz zu widmen. Alle meine Verwandten hier erlernten bald die Sprache, sofern sie aber noch Deutsch sprachen, war es ein für mich farb- und reizloses Magerdeutsch. Möglich, dass ich – ein in jedem Fall kaum integrierbares Kind – stolz war, einem anderen, „feineren“ Kulturkreis anzugehören; vielleicht hegte ich bei mir sogar einen solchen Stolz, aber er war doch nicht real; mein Ehrgeiz galt dem Hebräischen, meine ganze Liebe gehörte ihm. Zu einem nennenswerten Deutsch kam ich über die Lektüre. Ich hatte aber auch Glück, mit einigen guten Vertretern oder Kennern dieser Literatur bekannt oder befreundet zu sein. Die für mich wichtigsten waren: Paul Engelmann, PaulEngelmann (ein Freund sowohl von Kraus, KarlKraus als von WittgenWittgenstein, Ludwigstein) und ErwinLoewenson, Erwin Loewenson (der eigentliche Theoretiker des Berliner Expressionismus, Intimus und Herausgeber von Jakob van Hoddis, Jakob vanHoddis und Georg Heym, GeorgHeym). Engelmann, PaulEngelmann konnte gut Hebräisch, er übersetzte auch meine Gedichte ins Deutsche;Loewenson, Erwin Loewenson hingegen, der Zeit seines Lebens die Bibel kommentierte, konnte kein Wort Hebräisch sprechen. Meine Freundschaft mit ihm währte zwar kurz, er aber machte auf mich einen großen Eindruck, und dieser wird auch sprachlich von Gewicht gewesen sein. Engelmann, der ausnehmend geistreich war, Tausende von Gedichten auswendig kannte und den ganzen Kraus, KarlKraus, Engelmann, PaulEngelmann freilich, den ich wie einen großen, bewundernswerten Bruder liebte, bedeutete mir viel mehr alsLoewenson, Erwin Loewenson. Und da er mir Eigenes und Fremdes vorlas – und er galt als Meister des Vortrags –, blieb die deutsche Sprache nicht nur in der Schwebe, sondern trat in eigener Gestalt zwischen uns. Alles in allem waren es nur Tage, die sich auf knapp zwei Jahre verteilten; alles in allem eher beflügelnd als handfest. Doch begann für mich damit eine zweite Kindheit oder das Nachholen der ersten, versäumten.
Sie fragen mich nach der Bedeutung von Kraus, KarlKraus für mich. Hier entstand sie: in Engelmann, PaulEngelmann und durch ihn, lebendig – eine echte, hauchdünne, hautnahe Überlieferung. 1966 gab ich in Wien Engelmann, PaulEngelmanns Schrift „Dem Andenken an Karl Kraus, KarlKraus“ heraus.** Sobald ich meines Wegs sicher wurde, hörte Kraus, KarlKraus auf, mich zu beschäftigen. In den 60er Jahren schrieb ich über ihn, hauptsächlich Briefe, vor allem an Paul Schick, PaulSchick, der in Wien den Nachlass von Kraus, KarlKraus verwaltete und eine Monographie über ihn verfasste, aber auch eine eigene Zeitschrift herausgab („Der Alleingang“), in der einer meiner Briefe abgedruckt wurde.*** Im Briefwechsel mit Clara von Bodman, Clara vonBodman kommt Kraus, KarlKraus, wenn ich mich nicht irre, nur einmal vor. Aber es ist ja nur eine winzige Auswahl aus meinen Briefen. Übrigens, auch in meinem Kolb, AnnetteKolb-Buch findet sich eine Stelle über Kraus, KarlKraus.**** „Kleiner Joseph“, sprach Else Lasker-Schüler, ElseLasker-Schüler auf Deutsch, und mehr sagte sie nicht.***** Es war die einzige Begegnung. Mit Joseph muss ich mich wohl stark identifiziert haben, sonst wüsste ich mir meine Gedichte nicht zu erklären und nicht, warum ich immer wieder den Zyklus um weitere Gedichte vermehrte. Vielleicht schreibe ich Ihnen später einmal einen Brief über Joseph, jetzt ginge es über meine Kräfte. Ich denke mir, dass der erste Grund zu dieser Identifizierung mit dem frühen Tod meines Vaters gelegt wurde; ich war früh verwaist, war ein Träumer, und meine Mutter machte mir eigens ein – nicht gestreiftes, aber ein getupftes Hemd. Den Joseph liebte übrigens auch Annette Kolb, AnnetteKolb sehr, und darüber finden Sie ganz schöne Sachen in meinem Buch.
Über Lasker-Schüler, ElseLasker-Schüler hoffte ich ein Buch zu schreiben, es war aber eine eitle Hoffnung. Solche Beziehungen sind geheimnisvoll, in ihnen liegt ein Auftrag, den man nicht verfehlen darf, und oft ist gerade ein Buch das Verfehlen. Es ist dann so gekommen: Ich übersetzte die Gedichte an Senna Hoy****** und erreichte damit meinen Gipfel. Das war 1966. Vor zwei Jahren wagte ich mich an die Erneuerung jenes Zyklus, und das Wunder hatte sich ereignet, es glückte mir ein zweites Mal, für eine junge Generation in einer sich so rasch wandelnden Zeit. Die Übersetzung mit einem Kommentar und einigen Handschriftproben aus meiner Autographensammlung erschien in der Zeitschrift des Schriftstellerverbandes „Moznaim“. Mit Else Lasker-Schüler, ElseLasker-Schüler, die mir so viel bedeutete, die in mir so viel in Bewegung setzte, erging es mir wie mit Karl Kraus, KarlKraus. Nachdem ich von ihr so viel lernte, wie mir zu lernen beschieden war, hörte meine Beschäftigung mit ihrem Werk auf.
* Vgl. Anm. zu Brief Nr. 1
** EB (Hg.): Paul Engelmann, PaulEngelmann: Dem Andenken an Karl Kraus, KarlKraus. Wien: Kerry 1967
*** Paul Schick, PaulSchick: Karl Kraus, KarlKraus. Rowohlt Bildmonographien. Reinbek: Rowohlt 1986; Aus einem Brief an den Verleger. In: Der Alleingang. Wien, 3. Jg., Nr. 7, März 1966, S. 14–19
**** EB: Annette Kolb, AnnetteKolb und Israel, S. 29–32
***** Vgl. Allerwegsdahin, S. 13; Aberwenndig, S. 15 mit Anmerkung
****** Johannes Holzmann (1882–1914), Anarchist und Schriftsteller; vgl. Else Lasker-Schüler, ElseLasker-Schüler: Senna Hoy. In: E. L.-Sch.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp. München: Kösel 1966, S. 109 und 115 ; vgl. Fünfunddreißig Jahre nach der „Chinesischen Mauer”. Zu dem Gedichtzyklus „Meinem so geliebten Spielgefährten Senna Hoy“ von Else Lasker-Schüler, ElseLasker-Schüler. In: Neue Sirene 12, Juni 2000, S. 69–71
An Jens Stüben, JensStüben, 10. Januar 1992 Nr. 104
Zu lange war die Droste-Hülshoff, Annette vonDroste in unbefugten Händen. Die Geschichte der Droste-Hülshoff, Annette vonDroste-Editionen ist über weite Strecken eine düstere. Gern hätte ich mit Ihnen darüber gesprochen. Sie wissen, dass ich die Droste-Hülshoff, Annette vonDroste nicht nur liebe, sondern auch zu einer Säule meines deutsch-jüdischen Buches machte. Es sind übrigens der Säulen vier und alles Frauen: die Droste-Hülshoff, Annette vonDroste und ihre spätgeborene Zwillingsschwester Annette Kolb, AnnetteKolb (beide katholisch, beide gleichsam im Sinne des „Geistlichen Jahrs“)*, Clara von Bodman, Clara vonBodman (evangelisch) und Margarete Susman, MargareteSusman (jüdisch). – Sie waren offenbar nicht bei meiner Lesung im Rüschhaus vor einem Jahr. Schade. Aber kommen Sie zurecht mit meiner Deutung der „Judenbuche“?
* Annette von Droste-Hülshoff, Annette vonDroste Hülshoff: Das geistliche Jahr. In: Annette von Droste-Hülshoff, Annette vonDroste Hülshoff: Sämtliche Werke. Hg. von Clemens Heselhaus. München: Hanser 1966, S. 569–621. EB: Rüschhaus ohne Risches. In: Treffpunkt Scheideweg, S. 39–64
EB: Geht man in sich, wird man erinnert. In: Jens Stüben, JensStüben und Winfrid Woesler in Zusammenarbeit mit Ernst Loewy (Hgg.): Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde. Beiträge jüdischer Autoren zur deutschen Literatur seit 1945. Acta-Band zum Symposion „Beiträge jüdischer Autoren zur deutschen Literatur seit 1945“ (Universität Osnabrück, 1.–5.6.1991). Darmstadt: Hausser 1993, S. 126–135
Von Jens Stüben, JensStüben, 22. Januar 1992 Nr. 104a
Von Oktober 1987 an bin ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historisch-Kritischen Droste-Hülshoff, Annette vonDroste-Ausgabe tätig. […] Am 12. Januar nahm ich teil an der Morgenfeier der Droste-Hülshoff, Annette vonDroste-Gesellschaft, die traditionell aus Anlass des Geburtstages der Droste-Hülshoff, Annette vonDroste alljährlich veranstaltet wird, so befand ich mich auch nicht unter den Zuhörern bei Ihrer Lesung.*
Wohl habe ich das Kapitel über die „Judenbuche“ in Ihrem „Treffpunkt Scheideweg“ gelesen.** Es enthält subtile Beobachtungen in differenzierender, „schwebend metaphorischer“ (Klappentext) und doch wiederum eindeutiger Sprache. Ihren Satz „Erbarmen kommt nach dem Gericht“ halte ich für einen Kernsatz, der ins Zentrum der Dichtung führt. Hier ist die Droste-Hülshoff, Annette vonDroste unmissverständlich, so sehr der Novellentext auch vieles unbestimmt lässt – ob der aus dem Ausland Zurückgekehrte der Mörder ist, ob er mit Friedrich Mergel identisch ist, ob Friedrich Mergel der Mörder ist. –
Sie beklagen das „Fehlen eines jüdischen Blickes“ auf die „Judenbuche“. Beim Internationalen Germanistenkongress in Tokio 1990 sprach Prof. Raymond Immerwahr, RaymondImmerwahr (Bellevue, Washington) über „Die Judenbuche als Gewebe von Begegnungen mit dem Fremden“. Der Aufsatz wird in Band 11 der Kongressakten erscheinen.*** Ich werde Ihnen eine Kopie zuschicken.
* Im Rüschhaus, am 14.11.1990
** Rüschhaus ohne Risches, in: Treffpunkt Scheideweg, S. 39–51
*** Raymond Immerwahr: ‚Die Judenbuche‘ als Gewebe von Begegnungen mit dem Fremden. In: Begegnung mit ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanistik-Kongresses. Hg. v. Eijiro Iwasaki. Bd. XI. Tokyo 1990, S. 406–413
An HaraldFricke, Harald Fricke, 21. Juni 1999 Nr. 105
„[…] Kommt ja auch das Neue von den Göttern herab, und wenn es echt ist, ist es uralt. Und vom Tage zu lernen ist für ein ehrliches Herz nicht leichter, als zu lernen von den Jahrtausenden. […]“ (Paul Heyse, PaulHeyse an Jacob Bernays, JacobBernays, München, 25. Juli 1855) Das kam mir bei der Erwähnung Scaligers (S. 11) in den Sinn: Jacob Bernays, JacobBernays schrieb über ihn ein bahnbrechendes Buch.* Es freuen mich fast alle Zitierungen, auch Ihr Werben für Opitz, MartinOpitz und Kuhlmann, QuirinusKuhlmann oder Justus Möser, JustusMöser, unter deren Namenszug und Himmelsstrich ich mich zu Hause fühle. Der alte Hut am Ende ist aber nicht alt genug und ist nur ein Hut. Mag sich dieser auch schick ausnehmen bei der Verbeugung des Autors: die Vorhut dieser Expedition nach Neu-Alt ist bedeutender als der Hut und müsste ohne Vorsatz und Nachtrag am Ende stehen: KoheletKohelet 1, 9–10. Das war sein Thema, er ist auch Ihr Vater. In seinen Variationen über das Thema ist er uns immer voraus.
* Jacob Bernays, JacobBernays: Joseph Justus Scaliger. Berlin: Hertz 1855
An Harald Fricke, HaraldFricke, 14. September 1999 Nr. 106
Weil es uns gibt, sind wir die Gegebenheit, und weil wir es sind, kommen wir nicht ans Ziel, sondern sind ihm ausgesetzt. Aber wir kommen allerwegs zu Resultaten, auch ohne Theorie und Thesen. Theorie ist Ihnen die natürlichste Regung. Gern möchten auch Sie den Zufall ausschließen, und doch fallen Ihnen gute Thesen zu. Alles hat seine Notwendigkeit, wenn es nur nicht zwingend ist. Der Zufall gibt uns Recht. Könnten wir ihm begegnen, wir könnten ihm auch ausweichen. Er ist die Gerechtigkeit des nicht Ausschließlichen. Wir rechnen; die Rechnung geht auf. Dieses Moment des Aufgehens ist wie ein Entgegenkommen; ist gleichsam das Mehr des Resultats; die Entdeckung. Stimmigkeit allein tut es nicht, man muss selbst in Übereinstimmung sein. Sie hätten auch auf musikalischem Weg zu Ihrem Resultat kommen können.
Man hört das Seufzen eines Worts in einem falschen Satz, das Klagen eines Satzes in einer trüben Ecke. Als ich hingebungsvoll meine bibliographischen Studien trieb, kam auch ich zu „überraschenden Resultaten“. Habe ich meine Ohren gespitzt, durfte ich mir die Augen reiben.